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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Verheerende Geheimoperation der Ukraine Kiew plante die Attacke unter den Augen des Kreml
Die ukrainische "Operation Spinnennetz" erschüttert Russland. Mindestens vier Flugfelder wurden zum Ziel von Drohnen. Die Schäden für die russische Luftwaffe sind immens. Wie ist der Ukraine die Operation gelungen?
Inhaltsverzeichnis
Der 1. Juni 2025 markiert eine Zäsur im Ukraine-Krieg. Mit einer beispiellosen Geheimdienstoperation auf russischem Boden hat die Ukraine Dutzende russische Militärflugzeuge außer Gefecht gesetzt. Die Schäden für die russische Luftwaffe und die strategischen Kapazitäten der Kremltruppen sind immens, auch wenn es bislang kein abschließendes Bild dazu gibt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj feierte den Angriff in den sozialen Medien und schrieb von einem "absolut brillanten Ergebnis".
Selenskyj gab zudem Hinweise auf die Planung, Vorbereitung und Ausführung der auf den Namen "Spinnennetz" getauften Operation. Er wies den verantwortlichen Geheimdienst SBU an, bald weitere Details publik zu machen: "Natürlich kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht alles offenbart werden, aber dies sind ukrainische Aktionen, die zweifellos in die Geschichtsbücher eingehen werden." Doch wie ist der Ukraine dieser verheerende und hochkomplexe Schlag gelungen? t-online gibt einen Überblick darüber, was bislang bekannt ist.
Die Planung
Laut dem ukrainischen Präsidenten liegt der Start der Planungen "ein Jahr, sechs Monate und neun Tage" zurück. Ab etwa Mitte November 2023 also nahm die Idee des Angriffs zunehmend Gestalt an. "Man kann mit Sicherheit sagen, dass dies eine absolut einzigartige Operation war", so Selenskyj. Er selbst habe den Angriff vor mehr als anderthalb Jahren autorisiert, erklärte der Präsident. Federführend war dabei SBU-Chef Wassyl Maljuk.
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Der Start der Planungen datiert damit auf eine für die Ukraine innen- wie außenpolitisch turbulente Zeit. Im November 2023 hatte der damalige Armeechef Walerij Saluschnyj in einem Artikel für den britischen "Economist" von einer Pattsituation im Krieg gesprochen, was ihm scharfe Kritik einbrachte und zu einem Konflikt mit Selenskyj führte. Im Februar 2024 entließ Selenskyj ihn und ernannte Oleksandr Syrskyj zum neuen Armeechef.
Gleichzeitig rückten in dieser Zeit einmal mehr die ukrainischen Geheimdienste in den Fokus. Zum einen führte der SBU diverse Drohnenangriffe in Russland durch, die Flugabwehrsysteme und Fliegerbasen ins Visier nahmen. Zum anderen brachten Recherchen der "Washington Post" und des "Spiegel" im Herbst 2023 ukrainische Geheimdienste mit Dutzenden Attentaten in Russland sowie dem Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee vom September 2022 in Verbindung. Wer für die Explosionen tatsächlich verantwortlich war, ist bislang nicht bekannt.
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Die Vorbereitung
Die Vorbereitungen der "Operation Spinnennetz" unterlagen strengster Geheimhaltung und waren hochkomplex. Die Ukrainer nahmen vier Luftwaffenstützpunkte in Russland ins Visier: Olenja, Iwanowo, Djagilewo und Belaja. Olenja liegt hoch im Norden in der Region Murmansk, rund 2.000 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Die Basis Belaja befindet sich in Sibirien, nordwestlich von Irkutsk, und damit mehr als 4.000 Kilometer hinter der Grenze. Es war der erste Schlag der Ukrainer in Sibirien, Olenja war bereits früher zum Ziel ukrainischer Angriffe geworden. Die Stützpunkte Iwanowo und Djagilewo liegen etwa 500 Kilometer von der Ukraine entfernt.
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Der SBU entschied sich in der Zeit nach November 2023 für Angriffe mit FPV-Drohnen auf die genannten Basen. Dabei handelt es sich um handelsübliche Drohnen, die oft per Videobrille gesteuert werden. Besonders die große Entfernung zu den Basen Olenja und Belaja war dabei ein Hindernis, da die Reichweiten der FPV-Drohnen dafür nicht ausreichten.
Um die Operation dennoch möglichst präzise ausführen zu können, soll die Ukraine Künstliche Intelligenz (KI) eingesetzt haben. Wie verschiedene Medien berichten, nutzte der SBU dazu ein Luftfahrtmuseum in der ukrainischen Stadt Poltawa. Dort befinden sich Sowjetbomber der Typen Tu-95MS, Tu-160 und Tu-22M3. Die Drohnen-KI soll dort auf die Radarprofile, visuelle Marker und Strukturen der Flugzeuge trainiert worden sein. Solche Flugzeuge waren am Sonntag Ziel der Attacken.
Der ukrainische Geheimdienst behalf sich zudem mit einer List: Nach dem KI-Training wurden die Drohnen nach Russland gebracht. Insgesamt 117 Stück sollen bei der Attacke am Sonntag eingesetzt worden sein. Später brachten die Ukrainer mobile Holzhäuser nach Russland, die Größe und Format von Schiffscontainern haben und auf Lastwagen transportiert werden können.
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Wie Bilder zeigen, die ukrainische Medien verbreiteten, versteckte der Geheimdienst die Drohnen danach unter den Dächern der Häuschen. Dieser Teil der Vorbereitungen soll laut "United24Media" in der Stadt Tscheljabinsk am Ural umgesetzt worden sein. Die Aktion erinnert an die griechische Sage vom Trojanischen Pferd, mit dem einst griechische Soldaten in die Stadt Troja gelangt sein sollen.
Die Vorbereitungen des Angriffs fanden also zum großen Teil auf russischem Boden statt. Auf den seiner Ansicht nach "interessantesten" Punkt der Planungen wies Selenskyj in einem Social-Media-Post hin: Die Basis der ukrainischen Mission soll sich demnach "auf russischem Territorium direkt neben dem FSB-Hauptquartier in einer ihrer Regionen" befunden haben. Der FSB ist der russische Inlandsgeheimdienst.
Die Ausführung
Die Ukrainer ließen daraufhin die Lastwagen mit den darauf montierten Holzhäuschen in die Nähe der Stützpunkte bringen. Mutmaßlich wussten die Lkw-Fahrer nichts von der Mission. Die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass berichtet, einer der Fahrer werde aktuell von den russischen Sicherheitsbehörden befragt. Ukrainische Medien schreiben, die Operation selbst sei von Kiew aus koordiniert worden.
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Als die Lkw in ihrer finalen Position nahe den Flugplätzen standen, sollen aus der Ferne die Dächer der Holzhäuschen geöffnet worden sein. Infolgedessen starteten den Berichten zufolge die Drohnen, die sich zuvor unter den Dächern befunden hatten. Jede der 117 Drohnen soll einen eigenen Piloten gehabt haben, der das KI-trainierte Fluggerät anleitete. Auf sozialen Medien verbreitete Videos zeigen, dass die Drohnen unmittelbar nach ihrem Start in Richtung der Stützpunkte flogen.
Nachdem alle Fluggeräte aufgestiegen waren, wurden die Lastwagen – vermutlich mit ferngezündeten Sprengladungen – zerstört. Laut Aussagen von Präsident Selenskyj sollen alle in die Mission involvierten Personen noch vor ihrer Ausführung aus Russland evakuiert worden sein.
Die Schäden
Die Folgen des ukrainischen Angriffs sind für Russland potenziell verheerend. Insgesamt 41 Flugzeuge sollen auf den vier Basen getroffen worden sein, ersten Berichten zufolge wurden mindestens zehn davon vollständig zerstört. Zu den getroffenen Maschinen zählen laut SBU-Angaben Bomber der Typen Tu-95 und Tu-22M3 sowie ein Aufklärungsflugzeug vom Typ A-50 und Transportflugzeuge.
Erste Satellitenbilder scheinen dies weitgehend zu bestätigen. Aufnahmen, die vom Unternehmen Umbra Space bereitgestellt und vom Geodaten-Spezialisten Chris Biggers geteilt wurden, zeigen Zerstörungen am Stützpunkt Belaja. Demnach wurden dort wohl drei Tu-95MS-Bomber sowie mindestens ein Tu-22M3-Flugzeug zerstört worden. Eine weitere Tu-95MS soll mindestens beschädigt sein.
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Der Geheimdienst erklärte, dass damit 34 Prozent der russischen strategischen Luftwaffenkapazitäten beschädigt oder zerstört worden seien. Die Schäden werden auf rund sieben Milliarden US-Dollar beziffert, allein das Aufklärungsflugzeug soll einen Wert von Hunderten Millionen Dollar haben.
Für die Ukraine hat der Schlag eine große strategische Bedeutung. Von den betroffenen Flugplätzen aus fliegt Russland regelmäßig schwere Luftangriffe auf die Ukraine. Die Flugzeuge feuern dabei etwa Marschflugkörper auf ukrainische Ziele ab. Häufig werden auch Zivilisten und zivile Infrastruktur Opfer der Angriffe. Sowohl die Tu-95 als auch die Tu-22M3 können Nuklearwaffen tragen.
Das A-50-Aufklärungsflugzeug dient sowohl der Frühwarnung vor gegnerischen Luftangriffen als auch der Koordination der Luftangriffe der russischen Streitkräfte. Der Verlust wäre besonders verheerend, da Russland nur über wenige Maschinen dieses Typs verfügt.
Auch die Bomber sind für Russland nicht zu ersetzen. Der letzte Tu-22M3-Bomber wurde 1993 produziert, Modernisierungsprojekte hat der Kreml bisher nicht erfolgreich umgesetzt.
In den sozialen Medien gab es zudem Berichte über Angriffe auf einen fünften Flugplatz: Woskresensk in der Region Moskau. Über Schäden ist bislang nichts bekannt. Ebenso wenig gibt es offizielle Informationen darüber, ob die Attacke mit der "Operation Spinnennetz" zusammenhängt.
- newsukraine.rbc.ua: "Exclusive: Inside Ukraine's 'Spiderweb' special op that blindsided Russia" (englisch)
- united24media.com: "Inside Ukraine's AI-Drone Strike That Cost Russia $7 Billion and a Third of Its Bomber Jets" (englisch)
- nytimes.com: "Large-Scale Ukrainian Attack Targets Air Bases in Russia" (englisch)
- ft.com: "Ukraine stages audacious attack on airfields deep in Russian territory" (englisch)
- kyivpost.com: "‘An Absolutely Brilliant Result’ – Zelensky Says All Operatives in ‘Spiderweb’ Drone Op in Russia Are Safe" (englisch)