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Wie altes Denken den Fortschritt in der Arbeitswelt behindert


Psychologin analysiert Fachkräftemangel
Wie altes Denken den Fortschritt in der Arbeitswelt behindert

MeinungEine Kolumne von Ulrike Scheuermann

26.08.2022Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Nicht genug Personal: Pflegedienst leidet seit dem Beginn der Corona-Krise am Fachkräftemangel.Vergrößern des Bildes
Nicht genug Personal: Die Pflegebranche leidet nicht erst seit dem Beginn der Corona-Krise am Fachkräftemangel. (Quelle: Wavebreakmedia/Getty Images)

Handwerker, Lehrer, Pfleger – Arbeitgeber suchen vergeblich nach Fachkräften. Was hindert uns auf der Suche und was müssen wir umdenken?

Der Mangel an Fachkräften ist heutzutage besonders ausgeprägt in der Sozialarbeit, Erziehung, Pflege, in Handwerk und IT, auch in medizinischen und den MINT-Berufen Mathematik-, Ingenieur-, Naturwissenschaften und Technik. Die Fachkräftelücke liegt laut Institut der Wirtschaft über alle Berufe hinweg bei 537.923 offenen Stellen.

Zudem droht den Unternehmen eine Kündigungswelle: Der Gallup Engagement Index Deutschland 2021 des Marktforschungs- und Beratungsunternehmens Gallup misst seit 21 Jahren jährlich die Mitarbeiterzufriedenheit der Belegschaften.

In diesem Jahr waren nur 17 Prozent der Befragten emotional an ihren Arbeitgeber gebunden – und damit 83 Prozent empfänglich für ein Angebot der Konkurrenz. 40 Prozent hegen Wechselabsichten im nächsten Jahr. Vor der Pandemie waren es nur 27 Prozent.

Diese Entwicklungen stellen die bisherigen Spielregeln im Arbeitsmarkt auf den Kopf. Das sollte man zumindest meinen. Doch so schnell geht es dann doch nicht, Menschen legen ihre bisherigen Denkweisen, Gewohnheiten und Erwartungen nicht so leicht ab. Bloß, weil nun überall Stellengesuche auftauchen, heißt das noch nicht, dass Bewerber auch selbstbewusst auftreten und Vorgesetzte plötzlich gut mit ihren Mitarbeitern kommunizieren.

Mein Eindruck – und der vieler Experten – ist vielmehr: Es gibt noch viele Unsicherheiten, Ängste und alte Denkweisen, die trotz veränderter Realität unsere Einstellung und unser Verhalten prägen.

Die Angst der Mitarbeiter

Wer seinen Arbeitsplatz als sicher einschätzt, egal, ob angestellt oder selbständig, traut sich immer noch trotz Unzufriedenheit mit schlechten Arbeitsbedingungen oder des Wunsches nach beruflicher Weiterentwicklung viel zu oft nicht, nach besser passenden Arbeitgebern zu suchen.

Diese Menschen könnten sich Unternehmen zuwenden, in denen Führung auf Augenhöhe gelebt wird, ein kooperatives Arbeitsklima herrscht, die eigenen Potenziale berücksichtigt und gefördert werden. Gerade von Frauen über 50 höre ich jedoch immer wieder den alten Spruch "Über 50 habe ich auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr". Hier könnten Frauen wie auch Männer selbstbewusster und offensiver auftreten, denn im Arbeitsmarkt bestehen meist deutlich bessere Job-Chancen, als sie vermuten.

Oft herrscht bei Mitarbeitern aber auch ein überholtes Anspruchsdenken, mit Vorwürfen und Schimpfen auf "Die da oben", die alles richten und können sollen. Man selbst wüsste schon, wie es besser ginge – anstatt Verantwortung zu übernehmen, indem man Kritik anspricht und auf Veränderung besteht, sich selbst weiterentwickelt – oder eben geht.

Was ist aus psychologischer Sicht relevant bei diesem Verharren im Alten? Was könnte helfen, sich anders auszurichten?

1. Angst: Tief sitzende Ängste vor Veränderung und vor dem Verlassen vermeintlicher Sicherheiten. Dann wirkt beispielsweise die bisherige unbefristete oder gar Beamtenstelle so verlockend, dass man gar nicht erst nach besseren Arbeitgebern Ausschau hält. Gedanken wie: "Ich lande auf der Straße, wenn ich die Probezeit nicht bestehe", "Mit 55 will mich doch niemand mehr", "Die 11 Jahre bis zur Rente halte ich schon noch durch" bremsen aus.

Was hier helfen kann:

  • Einschränkende Glaubensmuster bewusst machen und durchbrechen: Sind diese Gedanken, die mich hindern, eigentlich realistisch? Wie könnten sie anders lauten?
  • Gedanklich in die "schlimmste" Zukunft reisen: Was wäre das Allerschlimmste, was passieren könnte, wenn die neue Stelle nicht passt? Malen Sie es sich probeweise lebhaft aus – Sie werden herausfinden, dass selbst das gar nicht so schlimm ist, wie sie vorher dachten. Ängste werden kleiner, wenn man sie konkret ansieht.

2. Selbstwert und Self Care: Ich erlebe oft, dass Menschen den Schaden unterschätzen, den ein toxisches Arbeitsumfeld anrichtet. Sie sagen: "Ach, das halte ich schon aus" oder "Ich muss da jetzt durch". Dabei ignorieren sie, wie sensibel ihre Psyche und ihr Körper als Einheit auf Dinge reagieren, die gegen das eigene Streben gehen.

Wenn die Chefin den Wunsch nach weniger Überstunden ohne guten Grund ignoriert, wenn der Vorgesetzte in jedem zweiten Meeting cholerische Anfälle auslebt und reihum jeder im Raum mal angebrüllt wird, dann ist die Lebenszeit dafür eigentlich zu kurz und die eigene Gesundheit zu wertvoll.

Das kann Ihnen helfen:

  • Selbstwert: Wie wichtig bin ich mir? Wie schadet es mir körperlich und psychisch, wenn ich in einem schädlichen Arbeitsumfeld verharre? Darf ich diesen Schaden in Kauf nehmen, auch angesichts der Fragilität von Gesundheit? Was ist mit mir später, wenn ich schon etwas älter und die Kräfte noch begrenzter sind?
  • Was bedeutet es für mich, gut für mich sorgen? Welchen Ausgleich habe ich? Reicht dieser zur Regeneration? Stabilisiert mich mein soziales Umfeld und mein Gesundheitsverhalten genug? Oder ist längst eine Grenze erreicht, die ich aus Angst vor Veränderung nicht sehen will?

3. Geschlechtergerechtigkeit: Wir reden davon, doch noch immer sind Frauen in deutlich geringerem Umfang berufstätig. Alte Rollenbilder stehen modernem Arbeiten im Wege.

Frauen, natürlich auch Männer, können sich fragen:

  • Wie will ich arbeiten, auch wenn ich keine Kinder (mehr) zuhause habe – oder keinen Versorger an meiner Seite?
  • Was bedeutet mir Selbstverwirklichung im Beruf?
  • Was sind meine Forderungen im Bezug auf flexible Arbeitszeiten an meinen Arbeitgeber?

Die Angst der Arbeitgeber

Auch Arbeitgeber oder Auftraggeber halten an Altem fest, aus Angst stecken sie den Kopf in den Sand – schließlich kommt der aktuelle Fachkräftemangel nicht aus dem Nichts. Viele finden immer noch, die Angestellten müssten spuren.

Dahinter steckt auch eine Angst: Es könnte unbequem für mich werden, ich könnte infrage gestellt werden. Arbeitgeber setzen auch lieber auf jüngere Bewerber mit vermeintlich besserer Arbeitskraft und denken, dass sie damit auf Nummer Sicher gehen – und unterschätzen die Kompetenzen älterer, erfahrener Arbeitskräfte und vernachlässigen besondere Zielgruppen.

Ich habe mit Stefan Dietz über die Thematik gesprochen, er ist Unternehmer und Buchautor von "Glücksfall Fachkräftemangel" (Campus). Seine These lautet, dass der Leidensdruck die Arbeitswelt besser macht, denn Unternehmen bemühen sich künftig stärker um Mitarbeiter. Schlechte Führungskräfte haben ausgedient und Menschen lassen sich weniger gefallen, werden intensiver umworben.

1. Mainstream-Fokussierung: Er kritisiert, dass der Fokus nach wie vor auf den "Mainstream"-Bewerbern liegt: jung, gut ausgebildet, lückenloser Lebenslauf. Arbeitgeber sollten sich aber seiner Meinung nach auch auf ganz andere Zielgruppen und deren Bedürfnisse konzentrieren: "Wir brauchen mehr Quereinsteige-Optionen, Ausbildung 50 plus, spezielle Förderung für bestimmte Gruppen von Menschen, die besondere Arbeitsbedingungen brauchen, wie etwa Hochsensible oder Menschen mit autistischen Merkmalen".

Arbeitgeber können sich fragen:

  • Habe ich Vorbehalte gegenüber Menschen, die nicht in mein Bild von Mainstream passen?
  • Wie stehe ich zum Beispiel zu Einwanderern? Bin ich bereit, mich mit Sprachbarrieren, anderer Arbeitskultur und zum Bedarf passenden Fortbildungsangeboten auseinanderzusetzen? Welche Vorbehalte habe ich gegenüber diesen Menschen? Wovor habe ich Angst und wie kann ich diese Angst entkräften?

2. Respektvoller Umgang: Immer noch gibt es Organisationen, in denen zu wenig Wert auf ein respektvolles Arbeitsklima gelegt wird, in dem Mobbing vorgebeugt, Grenzen jederzeit geachtet werden und verbale oder physische Übergriffe, die meist gegenüber Frauen stattfinden, sofort Konsequenzen haben. Fehlt dies, so spricht es sich herum und sorgt natürlich dafür, dass sich Arbeitssuchende fernhalten.

3. Teilzeit: Außerdem wird Teilzeit viel zu oft als zweitrangig betrachtet.

Hier könnten Arbeitgeber:

  • Erfahrungen und Studienergebnisse recherchieren, um Sicherheit zu gewinnen; sowie natürlich mehr Gespräche mit Teilzeitarbeitswilligen führen.
  • sich fragen, was sie als Arbeitgeber dafür tun, um ihre Arbeitsplätze für Eltern bzw. Frauen attraktiver zu machen, etwa mit flexiblen Arbeitszeiten und Kinderbetreuungsmöglichkeiten.

4. Rentenalter: Auch gehen Arbeitgeber immer noch davon aus, dass Leute früh in Rente gehen wollen. Doch wenn geeignete Rahmenbedingungen da wären, würden viele gerne noch länger arbeiten und dies als sinnstiftend erleben, ganz ohne Zwang zu Überstunden oder weiterer Erhöhung des Rentenalters. Auf die Frage, ob man weiterarbeiten will, obwohl man es beispielsweise nach einem Lottogewinn nicht mehr müsse, antworten bei der oben erwähnten Gallup-Studie 61 Prozent mit "Ja".

  • Hier können Arbeitgeber flexible Arbeitsformen für längere Beschäftigung mit den weiter Arbeitswilligen ersinnen. Auch freiberufliche oder nebenberufliche Tätigkeiten sollten als attraktive Option mitgedacht werden.
  • Auch die Rolle jahrzehntelang erfahrener Mitarbeiter kann jetzt anders gestaltet werden: etwa als Mentor, Berater oder pädagogischer Begleiter von jungen Berufseinsteigern.
  • Fragen an sich selbst: Wie bewerte ich ältere Mitarbeiter? Was sind meine Kriterien, um Arbeitskraft einzuschätzen? Sind diese Kriterien vielleicht überholt? Übersehe ich dabei Potenziale?
  • Wie stehe ich selbst zum Älterwerden und den dazugehörigen Veränderungen meiner Rolle?

5. Mitarbeiterbindung: Eine starke emotionale Bindung sorgt dafür, dass die Beschäftigten ihren Arbeitsplatz nicht aufgeben möchten. Außerdem würden sie ihr Unternehmen auch deutlich häufiger als Arbeitgeber empfehlen (77 Prozent), als Beschäftigte ohne emotionale Bindung (drei Prozent).

  • Wie kann ich als Arbeitgeber meine Mitarbeiter positiv binden? Wie baue ich neben Geld als Anreiz auch eine gute Beziehung auf? (Wie) Kommuniziere ich genug? (Wie) Verhandeln wir die Bedürfnisse aller Beteiligten und kommen zu zufriedenstellenden Ergebnissen?
  • Diese Kompetenzen baut man nicht "schnell mal so auf". Dafür braucht es tiefgehende persönliche Entwicklung, in der Regel professionell begleitet, um langfristig erfolgreich zu sein, zum Beispiel mit einem berufsbezogenen Coaching oder nachhaltigen Kommunikationstrainings, die auch den nachfolgenden Praxistransfer mit Follow-up-Formaten sichern.

Das Verharren der Politik und anderer Entscheider

Auch die Politik kann durch andere Rahmenbedingungen dazu beitragen, dass die Menschen leichter auf die Art und an dem Ort arbeiten können, der ihnen entspricht. Hier ist noch viel zu tun.

Dazu nochmal Stefan Dietz: "Der Arbeitsmarkt und viele Akteure gehen von der Vollzeitbeschäftigung als Normalfall aus. Dabei sind Selbständigkeit, Freiberuflichkeit und Projektarbeit für viele Menschen die flexibleren und attraktiveren Modelle. Regeln, Gesetze und Gewohnheiten hinken hier noch weit hinterher".

Ebenso in der Schule, in der Ausbildung, im Studium: Hier werden zum Beispiel in technischen Fächern die theoretischen Grundlagen oft so hoch gehängt, dass viele potenziell leistungsfähige Talente gar nicht erst beispielsweise über die Matheprüfungen hinaus und bis zur praktischen Tätigkeit kommen. Wissen wird überbetont – zum Können kommt es dann nicht.

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Arbeiten mit Sinn und Liebe

Organisationen, die eine hohe Mitarbeiterzufriedenheit aufweisen können, Menschen als Persönlichkeit sehen, wertschätzen und ihre Entwicklung fördern – und damit auch Sinn bieten –, werden in Zukunft genug Mitarbeiter haben und die Gewinner der aktuellen Krise sein.

Mike Fischer, ein ungewöhnlicher und äußerst erfolgreicher Unternehmer aus Gera, der regelmäßig Preise für gute Mitarbeiterführung gewinnt und seinen Mitarbeitern beste Bedingungen für persönliche Entfaltung im Rahmen der Arbeit bietet, tut das seit langem.

Der Titel eines seiner Bücher lautet "Erfolg hat, wer mit Liebe führt" (Campus) und das sagt schon fast alles. Seit er "Liebe" als zentralen Baustein in seine unternehmerische Philosophie integriert hat und alle in seinen Unternehmen über egoistische Motive hinausgehen, entwickelt sich eine Dynamik, die ihm nicht nur genug Bewerbungen und Mitarbeiter einbringt, sondern auch noch zu unternehmerischen.

Ulrike Scheuermann ist Diplom-Psychologin und Bestsellerautorin. Seit 25 Jahren hilft sie Menschen dabei, ihr Leben mit modernsten Methoden der Psychologie innerlich frei und ohne Blockaden besser und gesünder zu gestalten. Ihre Self-Care- und Coaching-Programme finden in ihrer Akademie in Berlin und online statt.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
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