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Bio- und Chemiewaffen im Ukraine-Krieg? Das steckt hinter Putins Vorwürfen


Vorwürfe gegen Ukraine
Was steckt hinter Russlands Chemiewaffen-Propaganda?


11.03.2022Lesedauer: 7 Min.
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Warnung vor Biogefährdung (Symbolbild): Russland wirft der Ukraine vor, gemeinsam mit den USA an Biowaffen zu arbeiten.Vergrößern des Bildes
Warnung vor Biogefährdung (Symbolbild): Russland wirft der Ukraine vor, gemeinsam mit den USA an Biowaffen zu arbeiten. (Quelle: Obradovic/getty-images-bilder)

Im Ukraine-Krieg beschuldigt Russland die Ukraine, Bio- und Chemiewaffen herzustellen. Der Einsatz derartiger Kampfmittel ist verboten. Nutzt der Kreml die Anschuldigungen lediglich als Vorwand?

Die Vorwürfe klingen abenteuerlich: Die Ukraine soll gemeinsam mit den USA Massenvernichtungswaffen herstellen. Die Bezichtigungen kommen von Kremlchef Putin und sind Teil seiner Rechtfertigung für den Angriff auf die Ukraine. Dabei ist es in den vergangenen Jahren gerade das russische Regime gewesen, das mit dem Einsatz von Bio- und Chemiewaffen in Zusammenhang gebracht wurde.

Was also ist dran an den Anschuldigungen? Und worum geht es eigentlich?

Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Was sind Chemie- und Biowaffen?

Chemie- und Biowaffen gehören zu den Massenvernichtungswaffen. Beide Arten von Kampfstoffen können gezielt dazu eingesetzt werden, Verletzungen, Krankheiten oder den Tod von Menschen herbeizuführen.

Bei Biowaffen handelt es sich um Erreger, die eine Infektion auslösen, zum Beispiel Pocken, Pest oder Milzbrand. Bei Chemiewaffen gibt es Abstufungen: "Es gibt solche, die speziell für die Nutzung im Krieg entwickelt wurden, die haben keine zivile Verwendung", erklärt Chemiewaffen-Experte Marc-Michael Blum. Dazu zähle zum Beispiel der Nervenkampfstoff Sarin.

Dr. Marc-Michael Blum ist Chemiker und promovierter Biochemiker. Er ist auf die Erkennung von und den Schutz vor Chemie- und Biowaffen spezialisiert. Von 2012 bis 2019 arbeitete er im Labor der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), das er ab 2017 leitete. Im Jahr 2018 führte Blum die OPCW-Ermittlungen zum Fall Skripal in Großbritannien an. Derzeit leitet er eine wissenschaftliche Beratungsfirma in Hamburg.

Chemiewaffen können unterschiedlich wirken: Einige lassen die Opfer ersticken, weil der Körper keinen Sauerstoff mehr aufnehmen kann, oder sorgen für eine Überstimulierung der Muskeln, inklusive des Herzens. Solche Chemiewaffen sind fast immer tödlich. Andere verursachen schwerste verbrennungsähnliche Hautblasen und führen so beispielsweise zur Erblindung. Beispiele für Chemiewaffen sind unter anderem Blausäure, Chlorgas oder Senfgas.

Wie ist der Umgang mit Chemie- und Biowaffen international geregelt?

Sowohl Chemie- als auch Biowaffen sind durch Konventionen der Vereinten Nationen, und damit völkerrechtlich, verboten. Diese Verbote beziehen sich auf den Einsatz, die Herstellung und den Besitz derartiger Kampfstoffe. Beide Konventionen wurden auch von Deutschland, den USA, Russland und der Ukraine mitunterzeichnet. Erlaubt ist allerdings die sogenannte defensive Forschung an Biowaffen zu Schutzzwecken. Dafür gibt es in Deutschland ebenfalls Labore.

Die Einhaltung des Verbots von Chemiewaffen wird von der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) überwacht. Ihren Angaben zufolge wurden seit dem Inkrafttreten der Konvention im Jahr 1997 99 Prozent aller gemeldeten Waffenbestände vernichtet.

Falls es doch zu einem Angriff kommen sollte, kann die Organisation Hilfe koordinieren und den eingesetzten Stoff ermitteln. Wer verantwortlich ist, wird jedoch nicht untersucht. Den Verursacher eines Angriffs zu identifizieren, sei auch gar nicht so einfach, erklärt Experte Blum: "Auf einem Molekül steckt keine Landesflagge."

Für das Verbot von Biowaffen gibt es eine solche überwachende Institution nicht – obwohl nicht alle Unterzeichnerstaaten dieses einhalten: "Es war bekannt, dass die damalige Sowjetunion sich nicht daran gehalten hat", so der Chemiker.

Gab es in der jüngeren Vergangenheit Angriffe mit Chemie- oder Biowaffen?

Für militärische Einsätze von Biowaffen in der jüngeren Vergangenheit gibt es keine Belege. Anders bei Chemiewaffen: Die Fälle Skripal und Nawalny haben 2018 und 2020 weltweit für Aufsehen gesorgt.

Im März 2018 wurden der russisch-britische Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter Julia im südenglischen Salisbury schwer vergiftet. Beide überlebten, eine unbeteiligte Frau starb jedoch. Nach Ermittlungen der Nato-Länder sollen die Täter den chemischen Kampfstoff Nowitschok verwendet haben, der in der Sowjetunion entwickelt wurde.

Die britischen Ermittler gehen davon aus, dass es sich bei den Tätern um Agenten des russischen Militärgeheimdienstes GRU handelt. Zweifelsfrei geklärt, wer für den Anschlag verantwortlich war, ist jedoch bis heute nicht. Im Jahr 2019 wurde Nowitschok als Reaktion in die Liste der verbotenen Chemikalien nach der Chemiewaffenkonvention aufgenommen.

Dennoch gab es wenig später erneut einen Anschlag mit dem Nervengift: Der bekannte Kremlkritiker Alexej Nawalny wurde auf einem Flug von Sibirien nach Moskau angegriffen. Er überlebte nur knapp und wurde zur Behandlung nach Deutschland gebracht. Ein Speziallabor der Bundeswehr sowie Labore in Schweden, Frankreich und bei der OPCW konnten Nowitschok nachweisen.

Nawalny und sein Team glauben, dass die Täter dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB angehören. Auch die Vereinten Nationen machen mittlerweile Russland für den Anschlag verantwortlich – Moskau dementiert dies.

"Es ist eine hinterhältige Art der Kriegsführung", sagt Blum mit Blick auf die Wirkung von Chemiewaffen. "Das ist wie früher im Mittelalter: Wenn man es nicht ehrenwert mit dem Schwert kann, muss man Gift benutzen." Es sei ein absolut grausamer Tod. Deshalb sind Angriffe mit Chemiewaffen international nicht nur verboten, sondern regelrecht geächtet. Zumal sich ihre Wirkung verändert hat: Gegen eine Armee, die Schutzausrüstung hat, seien solche Waffen nicht mehr besonders wirkungsvoll. Sie sind dem Experten zufolge aber extrem wirkungsvoll gegen ungeschützte Zivilbevölkerung. Trotzdem oder gerade deswegen wurden im Syrien-Krieg nachweislich mehrfach Chemiewaffen eingesetzt.

Welche Rolle haben Chemiewaffen im Syrien-Krieg gespielt und was hat Russland damit zu tun?

Im August 2013 gab es in der Region Ghuta östlich von Damaskus inmitten des Syrien-Kriegs Giftgasangriffe mit verheerenden Folgen. "Das war der größte und schlimmste Chemiewaffeneinsatz, den wir damals erlebt haben", erinnert sich Experte Blum. Immer noch ist unklar, wie viele Menschen bei dem Angriff starben, Berichten zufolge waren es zwischen 280 und 1.730 Menschen. Einige Tausend Personen sollen mit neurotoxischen Reaktionen in die Krankenhäuser eingeliefert worden sein.

Die westlichen Staaten warfen der syrischen Regierung vor, für den Chemiewaffeneinsatz verantwortlich zu sein. Syrien und Russland, enge Partner in dem Konflikt, beschuldigten hingegen die Rebellen, derartige Angriffe inszeniert zu haben. "Sie warnten davor, dass die Rebellen Chemikalien transportieren würden", so Blum. Demnach sollte der Einsatz der Chemiewaffen die syrische Regierung in ein schlechtes Licht rücken und so von den eigentlichen Verursachern ablenken.

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Nach dem Vorfall in Ghuta sei Syrien – mit Unterstützung Russlands – dazu verpflichtet worden, alle existierenden Chemiewaffen zu melden und zu vernichten, erklärt der Experte. "Es gibt aber sehr begründete Zweifel, dass die syrische Regierung nicht alle ihre Chemiewaffen angegeben hat." Nur was angegeben wurde, sei auch zerstört worden.

Für viele Angriffe wurde bis heute kein Schuldiger benannt. Bisher wurden in zwei Fällen der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) und in mehreren Fällen den syrischen Streitkräften Einsätze von Chemiewaffen nachgewiesen. Hier habe der Kreml trotz der engen Partnerschaft während des Krieges die syrische Regierung unter Baschar al-Assad nicht davon abgehalten, diese Angriffe durchzuführen, merkt Blum an.

Welche Vorwürfe erhebt Russland gegen die Ukraine?

"Schon vor der Invasion Russlands behauptete der Kreml, die Ukraine arbeite an Atom-, Bio- und Chemiewaffen", so der Experte. Die Beschuldigungen richteten sich auch an ein weiteres Land: Der russische Außenminister Sergej Lawrow warf den USA am Donnerstag erneut vor, heimlich in der Ukraine Laboratorien für die Entwicklung von biologischen Waffen betrieben zu haben. Moskau habe Washington schriftlich aufgefordert, seine Experimente zu erklären.

Kritik aus dem Westen, dass es dafür keine Belege gebe, wies Lawrow zurück. "Das ist nicht verwunderlich", so der Außenminister. Niemand habe bisher davon gewusst, weil es sich um ein geheimes Programm handele.

Das russische Verteidigungsministerium veröffentlichte zugleich Dokumente, die das Programm beweisen sollen. Ziel der vom Pentagon finanzierten Forschungen sei die Entwicklung "eines Mechanismus zur heimlichen Verbreitung tödlicher Krankheitserreger", sagte Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow.

Er verwies zudem auf ein angebliches "amerikanisches Projekt für den Transfer von Erregern durch Zugvögel in der Ukraine, Russland und anderen Nachbarländern". Die USA würden darüber hinaus Forschungen mit "Erregern von Vögeln, Fledermäusen und Reptilien" sowie mit der afrikanischen Schweinepest und Anthrax (Anm. d. Red.: Milzbrand) planen. Von den USA eingerichtete und finanzierte Biolabore in der Ukraine hätten auch mit "Proben von Fledermaus-Coronaviren experimentiert".

Am Freitag soll sich der UN-Sicherheitsrat auf Dringen von Russland treffen, "um die militärisch-biologischen Aktivitäten der USA auf dem Territorium der Ukraine zu erörtern", schrieb der stellvertretende russische UN-Botschafter Dmitri Poljanski auf Twitter.

Was ist dran an Russlands Vorwürfen?

"Das US-Verteidigungsministerium arbeitet in der Tat mit einigen Laboren in der Ukraine zusammen", bestätigt Experte Blum. Dabei gehe es jedoch vor allem um biologische Sicherheit, also darum, dass Labore, in denen etwa an Erregern geforscht wird, gesichert werden. "Natürlich forschen die auch an gefährlichen Erregern, das tun Labore in Deutschland auch", so Blum. Einige Labore hätten eine Partnerschaft mit den USA und in einigen Fällen dienten die Vereinigten Staaten zudem als Geldgeber. "Da geht es aber eben nicht um Biowaffen, sondern um Gesundheitsforschung", stellt der Experte klar.

Auch die US-Regierung hatte die Anschuldigungen Russlands zurückgewiesen und als einen "Haufen Lügen" bezeichnet. "Der Kreml verbreitet absichtlich die Unwahrheit, dass die Vereinigten Staaten und die Ukraine chemische und biologische Waffen in der Ukraine einsetzen", erklärte der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price.

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Warum hat Russland die Vorwürfe erhoben?

Das russische Regime nutzt die angebliche Arbeit an Chemie- und Biowaffen in der Ukraine als weitere Rechtfertigung für den Angriffskrieg. "Die Regierung sagt dann zur Bevölkerung: 'Schaut her, die haben an Massenvernichtungswaffen gearbeitet, die gegen Russland eingesetzt werden sollten – wir konnten gar nicht anders, als den Krieg zu beginnen'", so der Experte.

Diese Behauptungen seien für die russische Bevölkerung schwer bis gar nicht zu verifizieren. "International stoßen die Beschuldigungen nicht auf Glaubwürdigkeit, bei dem Publikum in Russland schon", erklärt Blum. Letztlich gebe es keine Beweise für die russischen Vorwürfe. "Jegliche Anschuldigungen gegen die Ukraine werden so konstruiert, dass der Kreml gut dasteht und der Krieg mit Verletzten und Toten gerechtfertigt wird." Eine Propagandastrategie.

Könnte Russland selbst Chemie- und Biowaffen einsetzen?

Der Einsatz chemischer oder biologischer Waffen im Krieg ist ausnahmslos verboten – auch für Russland. Dennoch warnen die USA. Die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, schrieb auf Twitter: "Jetzt, wo Russland diese falschen Behauptungen aufgestellt hat, sollten wir alle auf der Hut sein, dass Russland möglicherweise chemische oder biologische Waffen in der Ukraine einsetzt oder eine Operation unter falscher Flagge durchführt."

Dabei verfügt Russland nicht mehr über Chemiewaffenarsenale, sagt Experte Blum: "Wenn doch, wären das entweder sehr kleine Mengen, oder man hätte sie heimlich herstellen müssen, was nicht ganz einfach ist. Das müsste schon mit sehr viel Mühe verschleiert werden."

Es gebe formell in den russischen Streitkräften keine Einheiten oder Trägersysteme für den Einsatz von Chemiewaffen. "Bei dem, was für erlaubte Zwecke vorhanden ist, rechnen wir vielleicht im Kilogramm-Bereich, beim Einsatz im Krieg redet man über Tonnen", erläutert der Experte – und schließt damit einen großflächigen Einsatz dieser Massenvernichtungswaffen aus.

Auch dass einzelne Personen wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf diese Weise angegriffen werden, hält er für unwahrscheinlich: "Es gibt ja von ukrainischer Seite die Aussage, dass es verschiedene Mordversuche längst gegeben hat." Das sei bei Nawalny und Skripal anders gewesen. "Diese klare Gefahr bei Selenskyj spricht nicht unbedingt für einen hinterhältigen Giftmord", so Blum. Zudem werde der Präsident aktuell gut geschützt.

Welche Konsequenzen drohen Russland beim Einsatz von Bio- oder Chemiewaffen?

Würde Russland dennoch Chemie- oder Biowaffen einsetzen, würde dem Experten zufolge der UN-Sicherheitsrat einschreiten. Dort habe Russland jedoch ein Vetorecht, deshalb gäbe es wohl kaum Konsequenzen. "Aber es wäre sicherlich ein Grund für die Nato-Länder, noch eine Schippe draufzulegen, obwohl wir in der Eskalationsspirale schon relativ weit sind." Der Einsatz von Chemiewaffen wäre zudem ein Kriegsverbrechen und könnte strafrechtlich verfolgt werden.

Verwendete Quellen
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