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Raketenangriff auf Polen: Wer ist schuld? – die wichtigsten Infos im Überblick


Raketenangriff auf Nato-Land
Die Schuld trifft nur einen


Aktualisiert am 16.11.2022Lesedauer: 8 Min.
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Nahe der ukrainischen Grenze: Videos sollen den Ort des Raketeneinschlags in Polen zeigen. (Quelle: t-online)

Zwei Menschen verloren ihr Leben, als Polen von einer Rakete getroffen wurde. Eine weitere Eskalationsstufe im Russland-Ukraine-Krieg? Ein Überblick.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat das Nato-Land Polen erreicht. Am Dienstag schlug eine Rakete im Ort Przewodów ein, sechs Kilometer entfernt von der ukrainischen Grenze. Zwei polnische Staatsbürger starben. Das schürt Sorgen vor einer stärkeren Konfrontation der westlichen Militärallianz mit Russland.

Viele Fragen sind offen: Wer ist für den Vorfall verantwortlich? Wie reagieren Polen und andere Länder? Und hat der Raketeneinschlag auch Folgen für Deutschland? t-online gibt einen Überblick über den aktuellen Stand.

Was ist passiert?

Am Dienstag um 15.40 Uhr ist in dem polnischen Dorf Przewodów mindestens eine Rakete oder Teile einer Rakete niedergegangen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach am Mittwoch sogar von zwei Raketen.

Zwei Menschen wurden bei dem Vorfall getötet. Zunächst war die Lage am Dienstagabend unübersichtlich. Die Feuerwehr sprach zunächst von einer Explosion. Wenig später berichteten polnische Medien, dass es sich um einen Raketeneinschlag handelte.

Die Ukraine hatte am Dienstag zeitgleich unter massivem russischem Beschuss gestanden. Nach Kiewer Zählung feuerte die russische Armee an dem Tag mehr als 90 Raketen und Marschflugkörper ab. Die Angaben ließen sich jedoch nicht unabhängig prüfen. Bislang gibt es keine Hinweise darauf, dass die Rakete gezielt auf polnisches Territorium gelenkt wurde.

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Wer ist für den Raketenbeschuss verantwortlich?

Darüber gibt es noch keine gesicherten Erkenntnisse. Zwei Szenarien sind möglich: Der Einschlag einer russischen Rakete, die sich womöglich "verirrt" hat – oder eine fehlgeleitete ukrainische Abwehrrakete.

Am Dienstag, kurz nach dem Vorfall, hieß es zunächst, die Rakete stamme aus russischer Produktion. In der Nacht zu Mittwoch sagte US-Präsident Joe Biden jedoch, die Flugbahn der Rakete lasse es "unwahrscheinlich" erscheinen, dass sie von der russischen Armee abgefeuert wurde. Vielmehr gebe es Hinweise darauf, dass es sich bei dem Geschoss um eine Flugabwehrrakete aus der Ukraine handeln könnte.

Polens Präsident Andrzej Duda bekräftigte diese Aussage am Mittwochmittag. Es sei "höchstwahrscheinlich" eine Rakete der ukrainischen Luftabwehr gewesen. Zudem handle es sich nicht um einen gezielten Angriff auf das Nato-Land. Die im Osten niedergegangene Rakete sei in Russland hergestellt worden, es gebe aber keinen Beweis dafür, dass sie auch von dort abgefeuert worden sei. Vermutlich handele es sich um einen unglücklichen Zwischenfall.

Die Nato macht zwar einzig und allein Russland für den Raketeneinschlag verantwortlich, sieht die Ursache aber in einem ukrainischen Querschläger. "Wir haben keine Hinweise darauf, dass das ein beabsichtigter Angriff war", sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg nach einer Dringlichkeitssitzung des Nato-Rats in Brüssel am Mittwoch. "Aber was wir wissen ist, dass der wahre Grund für den Vorfall der russische Krieg in der Ukraine ist." Die Ermittlungen seien zwar noch nicht abgeschlossen. Es sei aber äußerst wahrscheinlich, dass eine ukrainische Luftabwehrrakete versehentlich auf polnischem Gebiet eingeschlagen sei. "Das ist aber nicht die Schuld der Ukraine."

Auch mehrere Nato- und G7-Staaten sind der Meinung, Moskau trage mit seinem Beschuss der Ukraine die Verantwortung für den Vorfall in Polen. Dies gelte selbst dann, wenn es sich tatsächlich um eine ukrainische Abwehrrakete gehandelt haben sollte.

"Das Wichtigste ist, anzuerkennen, warum die Ukraine Raketen einsetzen muss, um ihr Heimatland zu verteidigen", sagte der britische Premierminister Rishi Sunak am Mittwoch am Rande des G20-Gipfels. "Es muss sein Heimatland gegen eine illegale und barbarische Angriffsserie Russlands verteidigen."

Was ist über die Rakete bekannt?

Nach Angaben der polnischen Regierung gehört die eingeschlagene Rakete zum Flugabwehrsystem des Typs S-300. Am Ort der Explosion in dem polnischen Dorf Przewodow seien Trümmer eines solchen Flugabwehrgeschosses gefunden worden, schrieb Polens Justizminister Zbigniew Ziobro am Mittwoch auf Twitter. Dieses werde sowohl von der russischen als auch von der ukrainischen Armee eingesetzt.

"Vor Ort arbeitet ein Team aus polnischen Staatsanwälten und technischen Sachverständigen. Auch amerikanische Experten waren dort." Das Gelände werde mit 3D-Technik gescannt. Das System S-300 ist sowjetischer Bauart.

Die Nachrichtenagentur Interfax Ukraina berichtete zudem unter Berufung auf Militärexperten, dass Trümmerteile auch auf einen russischen Marschflugkörper vom Typ Ch-101 hindeuten. Details zu dieser Information waren nicht bekannt.

Was weiß man über die Flugbahn der Rakete?

Nicht viel. So berichtet der US-TV-Sender CNN unter Berufung auf Nato-Quellen zwar, dass die Luftüberwachung des Verteidigungsbündnisses die Flugbahn der in Polen heruntergekommenen Rakete verfolgt hat. Die Nato überwacht etwa von Polen aus mit Awacs-Maschinen den Luftraum über der Ukraine.

Der Nato-Offizielle habe aber keine Angaben gemacht, woher die Rakete gekommen sei. Unklar bleibt damit auch, wer sie abgeschossen hat und ob es eine weitere Rakete in der Flugbahn gegeben hat.

Wie funktioniert Raketenabwehr?

Um Raketen in der Luft abzufangen, gibt es zwei Mechanismen, erklärt der Waffenexperte Lars Winkelsdorf im Gespräch mit t-online.

Variante eins: Die angreifende Rakete wird durch ein Splitterfeld zerstört. Direkt vor ihr in der Flugbahn detoniert dann eine Abwehrrakete und schafft die Splitterwand.

Variante zwei: Die Abwehrrakete detoniert und faltet eine Art Donut aus Draht explosionsartig aus. Dieser Draht soll die Rakete wie eine Kreissäge zerschneiden. Das wiederum kann dazu führen, dass Teile mit dem Sprengkopf ohne Steuerung noch weit fliegen.

Das Abfangen solcher Raketen geschieht zum Teil in Höhen von bis zu zehn Kilometern, manchmal sogar noch mehr. Zunächst ermittelt Radar die Richtung des Angriffs. Am Schluss des Anflugs der Abwehrrakete übernimmt bei vielen Raketen ein auf Infrarot, also Wärmestrahlung, reagierender Suchkopf der Rakete. Wenn Abwehrraketen in der Luft nicht detonieren, können sie beim Einschlag auf dem Boden erheblichen Schaden anrichten.

Wie reagiert Polen auf den Raketeneinschlag?

Der Nato-Staat zwischen Deutschland und der Ukraine versetzte Teile seiner Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft und verstärkte die Überwachung seines Luftraums. Warschau bestellte zudem den russischen Botschafter ein und alarmierte die Nato in Brüssel.

Nach den jüngsten Erkenntnissen zum Raketeneinschlag sieht Polen allerdings keine unbedingte Notwendigkeit mehr, das Verfahren nach Artikel 4 des Nato-Vertrags einzuleiten. Das Land hatte zuvor eine Prüfung angekündigt. Die meisten bislang gesammelten Beweise deuteten darauf hin, dass "die Auslösung von Artikel 4 dieses Mal vielleicht nicht notwendig sein wird", sagte Regierungschef Mateusz Morawiecki am Mittwoch in Warschau bei einer gemeinsamen Erklärung mit Präsident Andrzej Duda.

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Artikel 4 sieht Beratungen der Nato-Staaten vor, wenn einer von ihnen die Unversehrtheit seines Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die eigene Sicherheit bedroht sieht. Lesen Sie hier mehr zu den Hintergründen und was die Nato jetzt tun kann.

Die Detonation auf polnischem Boden ist der erste Zwischenfall in dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der Nato-Beratungen nach Artikel 4 ins Gespräch gebracht hatte. Polen hat davon allerdings wieder Abstand genommen. Der Einmarsch Russlands selbst in die Ukraine am 24. Februar hatte jedoch bereits dazu geführt, dass auf die Forderung mehrerer osteuropäischer Länder Konsultationen nach Artikel 4 folgten.

Polens nationaler Sicherheitsrat BBN trat um 12 Uhr abermals zusammen, um über den Raketenvorfall und die Konsequenzen daraus zu beraten. Der BBN analysiere derzeit die bisherigen Vereinbarungen mit Kommandanten, Dienstchefs und Verbündeten, teilte BBN-Chef Jacek Siewiera auf dem Kurznachrichtendienst Twitter mit.

Der polnische Regierungschef Morawiecki rief seine Landsleute nach dem Raketeneinschlag zur Ruhe auf. "Wir müssen Zurückhaltung und Umsicht walten lassen", sagte er nach einer Krisensitzung seines Kabinetts in Warschau.

Was machen die anderen Länder?

Die Staats- und Regierungschefs der sieben großen westlichen Demokratien (G7) erfuhren vom Einschlag der Rakete mehr als 11.000 Kilometer weiter – beim G20-Gipfel auf Bali, an dem alle Industriestaaten ebenfalls teilnahmen. Russlands Außenminister Sergej Lawrow, der Kremlchef Wladimir Putin vertrat, hatte die indonesische Insel in diesem Moment schon verlassen.

Am Mittwochmorgen berief US-Präsident Biden dann die Krisensitzung ein. Später wurde eine Erklärung veröffentlicht, in der es heißt: "Wir bieten Polen unsere volle Unterstützung und Hilfe bei den laufenden Ermittlungen an."

Frankreich warnte derweil vor voreiligen Schlüssen. Die Frage, wer das Geschoss abgefeuert habe, müsse mit "größter Vorsicht" erörtert werden, erklärte der Elysée-Palast am Mittwoch. "Viele Länder verfügen über die gleiche Art von Waffen, sodass die Identifizierung des Raketentyps nicht unbedingt Aufschluss darüber gibt, wer dahinter steckt." Zudem warnte die französische Regierung vor "erheblichen Risiken einer Eskalation".

Auch UN-Generalsekretär Antonio Guterres betonte, es sei "absolut notwendig, eine Eskalation des Krieges in der Ukraine zu vermeiden" und äußerte sich "sehr besorgt" über die Berichte des Raketenvorfalls.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zeigte sich überzeugt, dass keine von Russland abgefeuerte Rakete auf polnischem Territorium eingeschlagen ist. Er glaube einer entsprechenden Stellungnahme Russlands und dass die Regierung in Moskau nicht involviert sei. Er werde mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefonieren, sobald er in die Türkei zurückgekehrt sei.

China rief hingegen alle Seiten zur Zurückhaltung auf. "In der aktuellen Situation müssen alle Seiten Ruhe bewahren und Zurückhaltung üben, um eine Eskalation zu vermeiden", sagte ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums am Mittwoch. Chinas Position zur Situation in der Ukraine sei unverändert: "Dialog und Verhandlungen haben Priorität, um die Krise auf friedliche Weise zu lösen", sagte der Sprecher.

Wie reagieren die Ukraine und Russland?

Die Ukraine weist Russland die Schuld für den Zwischenfall zu. Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Dienstag, ohne jedoch Beweise vorzulegen, dass russische Raketen Polen getroffen hätten. Dies bezeichnete er als "erhebliche Eskalation" des Konflikts. "Wir müssen handeln." Die Ukraine verlangte "sofortigen Zugang" zum Explosionsort.

Präsidentenberater Mychajlo Podoljak erklärte, es könne nur an einer Logik festgehalten werden, und die laute, dass der Krieg von Russland begonnen worden sei und von Russland geführt werde. "Russland hat den östlichen Teil des europäischen Kontinents in ein unberechenbares Schlachtfeld verwandelt. Absicht, Hinrichtungsmittel, Risiken, Eskalation – all das ist nur Russland", betonte der Präsidentenberater – "und anders sind Zwischenfälle mit Raketen nicht zu erklären".

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Der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew bezeichnete den tödlichen Raketeneinschlag als westliche Provokation und warnte vor einem Dritten Weltkrieg. "Die Geschichte mit den ukrainischen 'Raketenschlägen' auf eine polnische Farm beweist nur eins: Der Westen erhöht durch seinen hybriden Krieg gegen Russland die Wahrscheinlichkeit für den Beginn des Dritten Weltkriegs", schrieb der 57-Jährige am Mittwoch auf Twitter.

Dmitri Poljanski, stellvertretender Leiter der russischen UN-Delegation, wies ebenfalls eine Schuld Moskaus an dem Vorfall zurück. Er verwies in dem Zusammenhang darauf, dass westliche Staaten schon in der vergangenen Woche eine Sitzung des UN-Sicherheitsrats einberufen hätten – damals noch ohne Themenangabe. "Und nun plötzlich unmittelbar am Vorabend ein 'Raketenangriff' auf Polen", das sei sehr verdächtig, übte sich der russische Diplomat in Verschwörungstheorien.

Welche Folgen hat der Vorfall für Deutschland?

Bundeskanzler Olaf Scholz mahnte eine sorgfältige Aufklärung der Ereignisse an. "Das ist ein schrecklicher Vorfall", sagte er am Rande der G20-Konferenz. In einem Twitter-Video sagte er, er habe mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda zu dem Vorfall kommuniziert und ihm und den Menschen in Polen sein Beileid und das Mitgefühl der Deutschen ausgesprochen.

Deutschland bot dem Nachbarland Unterstützung bei der Sicherung seines Luftraums an. Deutsche Eurofighter könnten dazu "bereits ab morgen" zum Einsatz kommen, "wenn Polen dies wünscht", sagte ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums am Mittwoch. Die Jets müssten dafür nicht nach Polen verlegt werden, sondern könnten von deutsche Luftwaffenbasen aus starten.

Das Ministerium stehe bereits in Kontakt mit der polnischen Seite, sagte der Sprecher. Auch Ressortchefin Christine Lambrecht (SPD) persönlich werde im Laufe des Tages mit ihrem polnischen Kollegen das Gespräch suchen und das deutsche Angebot besprechen. Die angebotenen Patrouillenflüge würden laut dem Ministeriumssprecher in festgelegten Lufträumen stattfinden. Es seien dabei pro abgesprochenem Luftraumabschnitt immer zwei Maschinen gemeinsam unterwegs.

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit Lars Winkelsdorf am 16. November 2022
  • Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, AFP und Reuters
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