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Flüchtlinge aus Afghanistan: Die Menschen, die keiner will


Krise in Afghanistan
Worauf sich die EU jetzt vorbereiten muss


Aktualisiert am 19.08.2021Lesedauer: 5 Min.
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Menschen versuchen über die Absperrungen auf den Flughafen zu gelangen: Noch starten an dem Flughafen Flugzeuge.Vergrößern des Bildes
Menschen versuchen über die Absperrungen auf den Flughafen zu gelangen: Noch starten an dem Flughafen Flugzeuge. (Quelle: reuters)

Noch fliegen Flugzeuge zumindest einige gefährdete Menschen aus Kabul aus. Nur was passiert danach? Einige Politiker halten schon ein "zweites 2015" für möglich. Dabei spricht vieles dagegen.

Es sind dramatische Bilder, die sich in diesen Tagen am Kabuler Flughafen abspielen. Noch immer campieren rund um das Gelände Hunderte verzweifelte Menschen, die auf einen Platz in einem der Militärflieger hoffen. Noch sichert das US-Militär den Flughafen, noch können also Flugzeuge landen und wieder starten.

Nur, was passiert danach? Was ist mit den Menschen, die aus dem Land wollen und müssen, aber wegen der Taliban nicht zum Flughafen gelangen? Oder auf dem Flughafen warten, und nicht zu den Maschinen durchgelassen werden? Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) fordert zwar alle Länder auf, ihre Grenzen für Afghanen offenzulassen und sie auf keinen Fall abzuschieben – zu dramatisch sei die Sicherheits- und Menschenrechtslage in dem Land. Doch derzeit passiert in den Nachbarländern und an der europäischen Außengrenze das Gegenteil.

Einige Politiker warnen auch, es dürfe nicht zu einem "zweiten 2015" kommen. Damals kamen innerhalb weniger Monate mehrere Hunderttausende Menschen, hauptsächlich aus Syrien, in Europa an. Die EU-Staaten zeigten sich größtenteils überfordert, scheiterten an einer gerechten Verteilung der Menschen.

Wie wahrscheinlich ist es, dass sich "2015 wiederholt"?

Fünf Millionen? Oder doch kaum jemand? Bei wenigen Dingen gehen die Schätzungen derzeit so weit auseinander, wie bei der Prognose, wie viele Afghanen sich nun auf den Weg in Richtung EU machen könnten. Die erste Zahl stammt von Innenminister Horst Seehofer. Er rechne damit, dass 300.000 bis fünf Millionen Afghanen flüchten werden, sagte Seehofer nach Informationen mehrerer Medien am Montag in einer Sitzung. Sein eigenes Ministerium stellte diese Schätzung am Mittwochnachmittag infrage.

Massive Zweifel äußerte auch der Migrationsforscher Gerald Knaus bei RTL: "Es ist erstaunlich, woher diese Zahl kommen könnte, die ist aus der Luft gegriffen." Wie die Menschen das Land verlassen sollten, wenn alle Grenzen, auch die der Nachbarstaaten, gesperrt seien, sei ihm schleierhaft.

Auch die Direktorin des Brüsseler Migration Policy Institute, Hanne Beirens, sagt t-online: Noch sei völlig unklar, wie viele Menschen Afghanistan überhaupt verlassen könnten, wenn sie es wollten. Nun konkrete Zahlen vorherzusagen, gleiche einem Blick in die Glaskugel. Laut der UN haben sich zwar mehr als eine halbe Million Menschen allein in diesem Jahr in Afghanistan auf die Flucht begeben. Doch: Der Großteil ist in Afghanistan geblieben.

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Laut Beirens gibt es zwischen der aktuellen Situation und 2015 zwei große Unterschiede: Der erste liegt in dem Herkunftsland. In Syrien kämpften 2015 verschiedene Gruppen, es gab immer wieder neue Zerstörungen, kein geordnetes Grenzregime. In Afghanistan haben die Taliban ohne große Kampfhandlungen die Macht übernommen und kontrollieren die Grenzen. Derzeit scheint es in dem Land relativ ruhig zu sein.

Der zweite große Unterschied liegt in dem möglichen Ziel. "Die EU 2021 ist nicht mehr die EU von 2015", sagt Beirens. Zwar gibt es noch immer kein gemeinsames Asylsystem, allerdings bestehen heute mehr feste Grenzen – außerdem wisse man heute besser, dass die Nachbarstaaten unterstützt werden sollten.

Was sagte die deutsche Regierung?

Genau das scheint nun auch die Strategie der deutschen Regierung zu sein. Es gehe jetzt vor allem darum, die Nachbarländer zu unterstützen, sagte etwa Vizekanzler und SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz. Ihnen müssten nun Angebote gemacht werden. Auch Kanzlerin Merkel möchte irreguläre Migration nach Europa so weit es geht verhindern: "Bevor man über Kontingente spricht, muss man erst mal über sichere Möglichkeiten für Flüchtlinge in der Nachbarschaft von Afghanistan reden."

Unionskanzlerkandidat Armin Laschet versprach, im Falle seiner Wahl eine Garantie abgeben zu wollen, dass alle von Deutschland registrierten Ortskräfte und Vertreter der Zivilgesellschaft aufgenommen werden. Und die Innenminister der Bundesländer forderten laut "Spiegel" den Bund auf, ein gemeinsames Aufnahmeprogramm für diese Afghanen auf den Weg zu bringen. Wie aber die Menschen nach Deutschland kommen können, wenn der Kabuler Flughafen erst geschlossen ist, scheint offen.

Wie ist die Situation in den Nachbarländern?

Auch die Verhandlungen mit den Nachbarländern Afghanistans dürften nicht einfach werden. "Die Türkei wird weder Grenzwächter noch Flüchtlingslager der EU sein", kündigte die türkische Regierung bereits an und intensivierte ihren Mauerbau an der Grenze zum Iran. Im Gegensatz zu Syrern bekommen Afghanen hier kaum Aufenthaltstitel, viele der geschätzten 500.000 Afghanen halten sich illegal im Land auf.

Der Iran wiederum hat Pufferzonen an seiner Grenze zu Afghanistan eingerichtet. Dort könnten Menschen erst einmal unterkommen, bis sich die Lage in Afghanistan entspannt, teilte die Regierung mit. Die Bereitschaft, mehr Afghanen ins Land zu lassen, ist allerdings gering. In dem Mullah-Staat leben bereits 780.000 afghanische Flüchtlinge, Experten vermuten eine hohe Dunkelziffer. Der Iran steckt in einer Wirtschaftskrise und fürchtet, Geflüchtete könnten die Corona-Krise im Land weiter verschärfen.


Auch Pakistan hat bereits einen wichtigen Grenzübergang geschlossen. In dem instabilen Land leben schon 1,4 Millionen Afghanen und Pakistan scheint nicht gewillt, noch mehr ins Land zu lassen. Das kleinere Nachbarland Usbekistan hat ebenfalls angekündigt, seine Grenzen dichtzumachen und bereits dorthin geflüchtete Afghanen ausweisen zu wollen. Turkmenistan, eine abgeriegelte Diktatur, verhandelt mit den Taliban, um Flüchtlingsströme zu verhindern.

Allein Tadschikistan – eines der ärmsten Länder der Region – signalisierte Bereitschaft, Menschen aufzunehmen. Seit Anfang Juli desertierten mehr als tausend Soldaten dorthin, das Land hat bereits zwei Auffanglager in Grenznähe installiert.

Was bedeutet das wiederum für die EU?

Besonders die Türkei, der Iran und Pakistan sind in den Gesprächen entscheidend. Beirens sieht hier schwierige Verhandlungen auf die EU zukommen. Zwar werden die Verschärfungen an den Grenzen sicherlich die Zahl derjenigen reduzieren, die den Weg bis nach Europa zurücklegen können. Aber: Auch hier ist die Entwicklung kaum vorhersehbar, mahnt Beirens. Noch vor wenigen Monaten etwa tauchte die Fluchtroute über Belarus nach Litauen in Analysen nicht auf. Nun lässt Machthaber Alexander Lukaschenko nach Angaben Litauens Iraker einfliegen, um sie dann über die EU-Grenze zu schicken – als Rache für Sanktionen gegen sein Land. Auch Afghanen sind bereits über die Grenze nach Litauen gelangt. Das zeige, wie schnell sich die Lage ändern könne, so Beirens.

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Unter diesen Vorzeichen ist wohl auch die Ansage Griechenlands zu verstehen: "Wir wollen nicht, dass unser Land das Einfallstor der EU für Menschen wird, die nach Europa aufbrechen wollen", sagte Migrationsminister Notis Mitarakis und kündigte an, Afghanen noch an der Grenze stoppen zu wollen. Mit geltendem Recht wird das allerdings kaum vereinbar sein. Denn allein die Menschenrechte gebieten es, dass die EU-Staaten Flüchtlingen Asyl gewähren.

Mitarakis sprach allerdings noch einen anderen Punkt an: Es brauche nun eine gemeinsame Migrationspolitik, auf die sich die EU bisher nicht einigen konnte. Ob es allerdings so weit kommt, ist mehr als nur fraglich, denn die Positionen liegen weit auseinander. Das zeigte auch die Videokonferenz der EU-Innenminister am Mittwoch.

Während die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson auf legale und sichere Fluchtrouten drängte, hielt der österreichische Innenminister Karl Nehammer dagegen. Es gebe "keinen Grund, warum ein Afghane jetzt nach Österreich kommen sollte", sagte Nehammer der "Welt". Straffällige Afghanen wolle er auch weiterhin abschieben. In dieser seit Jahren ungelösten Frage liege der Schwachpunkt der EU, mahnt auch Beirens. "Die EU muss nun dringend handeln, um ein Chaos wie 2015 zu vermeiden."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Telefonat mit Hanne Beirens
  • UNHCR: Refugee Statistics
  • Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
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