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Putin über Nato-Osterweiterung: Expertin entlarvt Propaganda


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Historikerin Sarotte
"Putin stellte eine ultimative Forderung"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 28.09.2023Lesedauer: 7 Min.
Wladimir Putin: Der russische Präsident ist von der Geschichte besessen, sagt Mary Sarotte.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Der russische Präsident ist von der Geschichte besessen, sagt Historikerin Mary Elise Sarotte. (Quelle: Alexander Zemlianichenko/dpa)

Wladimir Putin benutzt Geschichte als Waffe, dem Westen wirft er Wortbruch wegen der Nato-Osterweiterung vor. Die Historikerin Mary Elise Sarotte entlarvt Putins Behauptungen als Propaganda.

Wladimir Putin bekriegt die Ukraine, seine Feindschaft aber gilt dem Westen insgesamt. Besonders gegen die Nato erhebt der russische Machthaber schwere Vorwürfe: Der Westen habe einst das Verteidigungsbündnis widerrechtlich nach Osten erweitert. Aber ist das die Wahrheit? Nein, sagt die amerikanische Historikerin Mary Elise Sarotte, die gerade ein Buch über die Nato-Osterweiterung veröffentlicht hat.

t-online: Professorin Sarotte, in der Ukraine lässt Wladimir Putin seine Soldaten auf dem Schlachtfeld kämpfen, aber der Kremlherrscher führt auch einen Krieg um die Köpfe. Dabei wollen Sie ihm entgegentreten. Wie gehen Sie als Historikerin dabei vor?

Mary Elise Sarotte: Wladimir Putin ist geradezu besessen – besessen von der Geschichte, wie er sie sieht. Immer wieder kam es an bestimmten Daten zu besonderen Ereignissen. Am 7. Oktober 2006 etwa starb die Journalistin und Kremlkritikerin Anna Politkowskaja in Moskau eines gewaltsamen Todes. Wissen Sie, was noch auf diesen Tag fiel?

Putin feierte seinen 54. Geburtstag.

Genau. Das ist seine Art zu feiern. Ob Putin Morde direkt anordnet oder stattdessen bestimmten Leuten zu verstehen gibt, dass zu bestimmten Jahrestagen etwas geschehen solle, weiß niemand. Aber wir sollten sehr vorsichtig sein, wenn sich ein historisches Ereignis jährt. Wann wurden die gestohlenen E-Mails von Hillary Clinton während des US-Präsidentschaftswahlkampfs 2016 veröffentlicht? Am 7. Oktober 2016, wieder einer von Putins Geburtstagen. Die Cyberangriffe, von denen Donald Trump im gleichen Wahlkampf profitierte, ereigneten sich ein Vierteljahrhundert, nachdem die Sowjetunion zusammengebrochen war.

Dr. Mary Elise Sarotte, Jahrgang 1968, ist Professorin für Historische Studien an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies (SAIS) in Washington, D.C. Kürzlich ist ihr Buch "Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung" in Deutschland erschienen.

Für Putin war es nach eigener Aussage die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Sie sagen also, dass der russische Präsident bei seinen Schurkereien früh berechenbar gewesen sei?

In gewisser Weise. Die Auflistung ließe sich fortsetzen, aber ich denke, ein Trend wird bereits jetzt erkennbar: Putin begeht bestimmte Jahrestage mit Gewalt, er genießt die Anwendung von Gewalt, sei es physisch oder virtuell. In Anbetracht dieser Erkenntnis schaute ich seinerzeit auf den Kalender: Ich kam früh zu der Befürchtung, dass Putin im Zeitraum 2021/2022 – drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – irgendetwas Schlimmes anstellen könnte.

Die russische Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 war dies ohne jeden Zweifel. Hatten Sie derartige Dimensionen erwartet?

Ich war mir sicher, dass Putin die Jahrestage in diesem Zeitraum nicht ignorieren würde. Aber dass er im Februar 2022 gleich Kiew binnen drei Tagen erobern wollte? Das habe ich nicht geahnt. Nach meiner früheren Erkenntnis über Putins Verhalten hatte ich im Laufe des Jahres 2021 noch versucht, Alarm zu schlagen in Form eines Artikels – aber sämtliche bedeutenden englischsprachigen Medien meines Landes haben abgesagt. Irgendwann habe ich aufgegeben.

Nach dem 24. Februar 2022 waren Sie allerdings dann überaus gefragt?

Ich habe an dem Tag in der Tat viele Anrufe und Mails von Redakteuren bekommen. Aber diese Geschichte zeigt weniger – und dieser Punkt ist mir wichtig –, dass ich ein besonders hellsichtiger Mensch wäre, sondern vielmehr die Bedeutung der Geschichte und ihres Studiums. Wer die Geschichte versteht, kann die Zukunft zwar nicht exakt vorhersagen, aber sich besser auf ihre Eventualitäten vorbereiten. Als Analytikerin bin ich also durch die bisherigen Ereignisse in meinem Glauben an die Geschichte als Methode gefestigt, als Mensch bin ich allerdings schockiert, dass es tatsächlich zum Krieg gekommen ist.

Damit sind wir wieder bei der Ausgangsfrage angekommen: Putin setzt Geschichte als Waffe ein, mit ihrem neuen Buch "Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung" wollen Sie ihm als Historikerin entgegentreten. Wie machen Sie das?

Am liebsten wäre es mir, wenn die russischen Soldaten einfach aufgeben würden. Danach sieht es jedoch nicht aus. Putin lässt sich aber auf andere Weise entwaffnen – und zwar indem ich ihm in meinem Buch als Historikerin nachweise, dass seine Propagandaerzählung von der Nato-Osterweiterung einfach nicht stimmt. Das ist nicht viel gemessen am Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer, aber immerhin ist es ein Beitrag.

In Sachen Nato-Osterweiterung steht Aussage gegen Aussage: Putin fabuliert von einer angeblichen Einkreisung und Bedrohung Russlands durch die Nato. In seiner Argumentation folgt er dabei Michail Gorbatschow, dem letzten Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Angeblich sei diesem einst vom Westen versprochen worden, die Nato werde nicht nach Osten ausgedehnt. Was ist davon zu halten?

Gorbatschow war dafür berüchtigt, seine Aussagen zu diesem Thema ständig zu ändern, er hat sich selbst mehrfach widersprochen. Das ist ein Problem, das ich vermeiden wollte. Im Laufe der Jahre habe ich mehr als hundert Interviews geführt, aber am Ende habe ich mich entschieden, nicht wortwörtlich daraus zu zitieren. Warum? Weil wenn jemand anderes solche Interviews machen würde, die Antworten anders ausfallen könnten. Erinnerungen trügen, Meinungen ändern sich. Stattdessen habe ich ausschließlich schriftliche Quellen zitiert, die jederzeit nachprüfbar sind. Was Ihre Frage zur jeweiligen Sicht auf die Nato-Osterweiterung betrifft: Putin fährt eine ganz harte Linie, indem er behauptet, die Russen seien damals betrogen worden und die Nato hätte sich niemals ausdehnen dürfen. Die Amerikaner bezeichnen dies wiederum als erstunken und erlogen.

Was ist aber Ihre Einschätzung als Expertin?

Als Historikerin kann ich nach Analyse der Quellen sagen: Weder die eine noch die andere Aussage ist vollkommen korrekt. Dazu muss ich allerdings etwas ausholen.

Sehr gerne.

Dazu müssen wir in die Jahre 1989 und 1990 zurückgehen, der Eiserne Vorhang war gefallen, der Kalte Krieg endete. Damals war die Möglichkeit einer Wiedervereinigung der Bundesrepublik und DDR das zentrale politische Thema. James Baker, der damalige US-Außenminister, lotete 1990 tatsächlich im Gespräch mit Michail Gorbatschow die Möglichkeit aus, ob Moskau der deutschen Einheit zustimmen würde im Austausch für die Zusage, dass sich die Nato nicht nach Osten ausdehnt. Moskau musste zustimmen, da es zu der Zeit fast 400.000 Soldaten in der DDR stationiert hatte – und noch unbestreitbare juristische Rechte durch die bedingungslose Kapitulation Nazideutschlands 1945 innehatte.

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Im fernen Washington war der amerikanische Präsident George H. W. Bush damit allerdings alles andere als einverstanden.

Richtig. Entsprechend ließ Baker das Thema auch ruhen. Im Gegensatz zu seinem deutschen Amtskollegen Hans-Dietrich Genscher, der dafür in einem Brief von Bundeskanzler Helmut Kohl auch getadelt worden ist. Nun kommen wir zum Zwei-plus-Vier-Vertrag, dessen Unterzeichnung im September 1990 die Deutsche Einheit überhaupt erst ermöglicht hat. Dieser Vertrag erlaubt es der Nato, sich nach Osten auszudehnen, auch wenn Russland das anders sieht.

Um den letzten Zweifler zu überzeugen: Der Westen hat sich also niemals vertraglich verpflichtet, auf eine Osterweiterung zu verzichten?

So ist es. Ich persönlich halte die Osterweiterung auch für richtig, denn die aufgenommenen Staaten haben selbstverständlich das Recht auf Sicherheit und Bündniswahl. Womit haben wir es aber im Kern der Kontroverse zu tun? Russland beruft sich auf mündliche Aussagen, nennen wir es meinethalben ein mündliches Gentlemen's Agreement. Auf der anderen Seite haben wir Zwei-plus-Vier, ein schriftliches Vertragswerk.

Wie haben Sie die beiden Gegensätze gegeneinander aufgewogen?

Wir müssen uns in die Situation hineinversetzen. Es ging um alles, die Einheit Deutschlands, das faktische Ende des Kalten Krieges und des Zweiten Weltkriegs. Es ging um die Zukunft Europas. Die Männer, die an den Verhandlungen beteiligt gewesen sind, waren allesamt Profis. James Baker, Hans-Dietrich Genscher, die Unterhändler auf der sowjetischen Seite. Es ging hart auf hart, jeder wusste, dass nur das zählt, was schwarz auf weiß im Vertrag steht. Und laut Vertrag hatte die Nato eben jedes Recht, sich nach Osten zu erweitern.

Mit der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags flossen auch Milliardensummen aus der Bundesrepublik in die klamme Sowjetunion.

Moskau hat den Vertrag unterzeichnet, Moskau hat dafür Milliarden kassiert. Das ist korrekt. Die Schwäche der Sowjetunion war jedem westlichen Unterhändler auch durchaus bewusst.

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Putin beruft sich allerdings bei seinen Vorwürfen auch auf die Nato-Russland-Grundakte von 1997. Wie verhält es sich damit?

Die Grundakte ist kein Vertrag, sondern eine Absichtserklärung. Putin behauptet zudem, dass sie die Nato-Osterweiterung verbiete. Aber das stimmt nicht. Stattdessen definierte sie Bedingungen, anhand derer sich die Nato erweiterte. Vielleicht erinnern Sie sich, dass Putin im Vorfeld der Invasion der Ukraine 2022 zwei Verträge im Dezember 2021 zirkulieren ließ? Das war nichts Geringeres als ein Ultimatum an die Nato, sie hätte es niemals annehmen können. Denn Putin stellte eine ultimative Forderung, nämlich den Rückzug der Nato-Truppen auf die Positionen vor dem 27. Mai 1997.

Das hätte bedeutet, dass nicht einmal Polen, Tschechien und Ungarn de facto mehr Mitglieder des Verteidigungsbündnisses wären, von den baltischen Staaten etwa ganz zu schweigen.

Putin will die Geschichte zurückdrehen, er will sie neu ablaufen lassen mit der Absicht, dass Russland dieses Mal gewinnt.

Eine russische Ausgabe Ihres Buches scheint eher unwahrscheinlich zu sein. Glauben Sie aber, dass Ihre Forschungen in Moskau wahrgenommen werden?

Fast 20 Jahre habe ich an dem Buch gearbeitet, einen besonderen Durchbruch gab es Ende 2018. Damals habe ich endlich die Freigabe der Akten zu den Gipfeltreffen zwischen US-Präsident Bill Clinton und dem russischen Präsidenten Boris Jelzin in den Neunzigerjahren einklagen können. Die Dokumente sind heute frei im Internet einsehbar. Damals hat der Kreml in Person von Putins Sprecher Dmitri Peskow dagegen Protest erhoben. In gewisser Weise nimmt Moskau meine Arbeit also doch ernst.

Sie haben auf Putins Faible für Geschichte hingewiesen, allerdings gilt auch der amtierende US-Präsident Joe Biden als Mann mit historischem Wissen. Werden die USA unter seiner Führung die Ukraine weiterhin unterstützen?

Joe Biden ist die Bedeutung der Ukraine und ihres Kampfes gegen Russland vollkommen bewusst. Solange er Präsident ist, bleibt die Unterstützung stark. Eine Wiederwahl Trumps wäre aber eine Katastrophe – dann würden wir in einer anderen Welt leben. Es wäre sicherlich keine bessere. Im Augenblick sollten wir aber voller Hochachtung für die Ukraine sein und hoffen, dass dieser Krieg enden wird.

Professorin Sarotte, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Mary Elise Sarotte via Telefon
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