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Türkei in der Krise: Erdogans fatale Fehleinschätzung


Krise am Bosporus
Die Nato hat ein Erdogan-Problem

Von Patrick Diekmann

Aktualisiert am 17.08.2018Lesedauer: 5 Min.
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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan: Der Konflikt mit dem Westen reißt auch einen Graben in der Nato auf. Davon profitiert Russland.Vergrößern des Bildes
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan: Der Konflikt mit dem Westen reißt auch einen Graben in der Nato auf. Davon profitiert Russland. (Quelle: Chris McGrath/getty-images-bilder)

Trumps Sanktionen lassen die Lira abschmieren, darunter leiden vor allem die türkischen Bürger. Sein Streit mit Erdogan bringt die Nato in ein ernsthaftes Dilemma – zur Freude Putins.

Für Recep Tayyip Erdogan ist es ein riesiges "Komplott". Sein Vorwurf: Die USA überzögen die Türkei mit einem "Wirtschaftskrieg". Donald Trumps Sanktionen treffen sein Land in der Tat empfindlich. Die Lira stürzt ab, die Kaufkraft der Menschen sinkt, Wirtschaft und Unternehmen stehen vor dem Kollaps. Geschäfte bleiben geschlossen, Türken und türkische Unternehmen, die Kredit im Ausland haben, stehen vor der Insolvenz.

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Diese Folgen von US-Sanktionen bekam kürzlich schon der Iran zu spüren – mit dem Unterschied, dass die Türkei und die USA Verbündete in der Nato sind, in der man eigentlich keine Kriege gegeneinander führt, auch keine Wirtschaftskriege. Der aktuelle Konflikt deckt ein Problem auf, vor dem das Militärbündnis gerne die Augen verschließt. Ein Problem mit der Türkei, die sich zunehmend vom Westen entfernt. Und während für Erdogan das öffentliche Kokettieren mit anderen Bündnispartnern kein Tabu mehr ist, scheint auch die Nato den Schrecken davor verloren zu haben.

Erdogans fatale Fehleinschätzung

Der Streit entzündete sich an einem US-Pastor. Andrew Brunson sitzt immer noch im türkischen Gefängnis. Er soll gleichermaßen die kurdische PKK und die Gülen-Bewegung bei dem Putschversuch im Jahr 2016 unterstützt haben. Beweise wurden bislang keine vorgelegt. Auch der US-Bürger könnte ein Faustpfand von Erdogan sein. Das Kalkül des türkischen Präsidenten: Die USA könnten sich auf einen Austausch einlassen, Andrew Brunson gegen Fethullah Gülen, der in den USA lebt und den Erdogan für den Putschversuch verantwortlich macht.

Eine fatale Fehleinschätzung. Es folgte ein Tweet des US-Präsidenten und Erdogan flog die eigene Währung um die Ohren.


Die Menschen in der Türkei sind verunsichert. "Viele Geschäfte können nicht mehr öffnen, weil sie ihre Produkte importieren und diese durch den hohen Eurokurs so teuer geworden sind, dass die Länden entweder keinen Gewinn machen oder die Preise so erhöhen müssen, dass die Menschen sich die Sachen nicht mehr leisten könnten", sagt Kemal H. aus Istanbul im Gespräch mit t-online.de. "Ich kann das nicht verstehen. Erdogan hat bestimmt nicht alles richtig gemacht. Aber die Sanktionen treffen die Bevölkerung, wir sind doch Verbündete."

Opfer internationaler Kräfte

Genau dieses Bündnis, die Partnerschaft in der Nato, bekommt zunehmend Risse. Erdogan schafft es, den Westen für die Missstände der türkischen Wirtschaft verantwortlich zu machen. Kein Wort über eigene Fehlentscheidungen, beispielsweise die niedrige Zinspolitik. Kein Wort über verscheuchte Investoren durch ein zunehmend autokratisch werdendes Land. Und kein Wort über die fehlende Sicherheit für Unternehmen durch die Kriege in Syrien und gegen die Kurden im eigenen Land.

Stattdessen ist der Westen schuld. Die Europäer und die USA sollen die Türkei klein halten wollen, weil ihre Bürger Muslime sind. Die EU bestehe aus "Nazis", die Terroristen schützten oder mit ihnen in Syrien kämpfen. So verkauft Erdogan die Türkei gerne als Opfer internationaler Kräfte und sich als Präsidenten, der diesen Mächten den Kampf ansagt. So gewann er Wahlen und führte ein neues politisches System ein.

Die Nato-Mitgliedschaft der Türkei wurde bislang kaum hinterfragt, dabei gibt es eine Vielzahl von Uneinigkeiten mit Ankara:

  • Syrien: Die Türkei bekämpft die Kurden mit denen die USA und Teile der Nato gegen den IS zusammenarbeiten. Stattdessen unterstützt die Türkei islamistische Gruppen.
  • Zypern-Konflikt: Die Türkei hat noch 35.000 Soldaten in Nordzypern stationiert, das von der internationalen Gemeinschaft nicht als Staat anerkannt wird.
  • Putsch 2016: Nach dem Putsch waren immer wieder westliche Staatsangehörige, vermutlich unschuldig, im türkischen Gefängnis. Erdogan denkt, dass der Putsch vom Westen nicht scharf genug verurteilt wurde.
  • Präsidialsystem: Erdogan errichtet nach Ansicht vieler westlicher Länder ein autokratisches System. Sie kritisieren die zunehmenden Angriff auf die Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei.
  • Russland: Erdogans Annäherung an Russland betrachtet die Nato mit Argwohn. Den Kauf des russischen S-400-Flugabwehrsystems von Ankara war für das Militärbündnis ein Affront.


Neben all diesen inhaltlichen Konfliktpunkten steht eine zunehmend hitzige Rhetorik, die besonders die Reden von Erdogan in den letzten Jahren prägte.

Doch die Nato hält sich mit Kritik an Ankara zurück, man lässt die Querschläge von Erdogan unkommentiert. Warum? Zum einen wegen der geostrategischen Bedeutung der Türkei für das Militärbündnis. Die Türkei ist das Tor zum Nahen Osten und die Luftwaffenstützpunkte in Incirlik und Konya sind wichtig für Nato-Luftoperationen in Syrien.

Mit dem Bosporus kontrolliert die Türkei außerdem den Zugang vom Schwarzen Meer ins Mittelmeer. Dies ist ein wichtiger strategischer Vorteil gegenüber Russland, da die russische Schwarzmeerflotte auf der Krim stationiert ist.

Zwar militärisch nicht entscheidend, aber dennoch wichtig: Erdogan hat außerdem gegenüber Europa einen zentralen Trumpf in der Hand – die Flüchtlinge. Mit dem Flüchtlingsdeal hat sich die EU ein Stück weit von Ankara abhängig gemacht. Aus innenpolitischen Motiven möchte kein europäisches Nato-Mitglied riskieren, dass der türkische Präsident die Grenzen für die Weiterreise öffnet. Das weiß auch die türkische Regierung.

Die aktuelle Stille aus Europa ist demnach Selbstschutz. Die Nato steht trotzdem vor einer großen Zerreißprobe. Während der US-Präsident seinen Verbündeten mit Sanktionen droht und diese gelegentlich auch umsetzt, beschimpft sein türkischer Amtskollege sie als "Nazis" und steckt regelmäßig Staatsbürger aus Nato-Ländern ins Gefängnis.

Schaden durch leere Drohungen

Schaden tut dieser Hahnenkampf, neben der türkischen Bevölkerung, vor allem der Nato. Wladimir Putin ist sich der strategischen Bedeutung der Türkei bewusst und versucht Ankara langsam aus dem Militärbündnis herauszulösen, in dem er Erdogan mit militärischen Abkommen, mit Gaspipelines oder mit einer engeren Zusammenarbeit in Syrien lockt. Und auch wenn die Türkei sicherlich noch weit davon entfernt ist, die Nato zu verlassen, zeigt diese Strategie schrittweise Erfolg.

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Erdogan drohte im Streit mit Trump bereits damit, sich neue Bündnispartner zu suchen. Die Nato ist sich darüber bewusst, dass die Türkei aktuell nicht freiwillig die Nato verlassen und damit auf Einfluss auf das stärkste Militärbündnis der Welt verzichten würde. Aber auch leere Drohungen richten Schaden an. Durch den permanenten Zwist mit der Türkei wirkt die Nato nicht geschlossen und das macht sie zumindest politisch angreifbar.

Sollte der Verteidigungsfall eintreten, muss sich jedes Mitgliedsland darauf verlassen können, dass es Unterstützung vom Bündnis bekommt – wenn nicht wäre eine Nato-Mitgliedschaft obsolet. Aber dieses Selbstverständnis bekommt Brüche: So müsste Europa den türkischen Präsidenten militärisch unterstützen, der sie als "Nazis" beschimpft. Auch türkische Soldaten müssten im Notfall der USA zur Hilfe kommen, die gerade mit Sanktionen zum Absturz der Lira beigetragen haben.


Setzen sich die Konflikte zwischen Ankara und der Nato fort und bleibt die Rhetorik dermaßen aufgeheizt, fehlt für derartige Verteidigungsfälle bald die gesellschaftliche Akzeptanz innerhalb der Mitgliedsstaaten. Für die Nato bedeutet das die Notwendigkeit, zwischen den Verbündeten noch stärker zu vermitteln. Ohne Kompromiss ist die Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses gefährdet.

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