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Joe Biden zu Notfall-Besuch in Europa: Bei Putin rechnet er mit allem


Joe Biden zu Notfall-Besuch in Europa
Bei Putin rechnet er mit allem

  • Bastian Brauns
Von Bastian Brauns, Washington/Brüssel

Aktualisiert am 24.03.2022Lesedauer: 6 Min.
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US-Präsident Joe Biden kurz vor dem Abflug Richtung Brüssel: Er fliegt nach Europa mit zwei Missionen.Vergrößern des Bildes
US-Präsident Joe Biden kurz vor dem Abflug Richtung Brüssel: Er fliegt mit zwei Missionen nach Europa. (Quelle: Pool via CNP/MediaPunch/imago-images-bilder)

Mitten im Ukraine-Krieg reist Joe Biden nach Brüssel und Warschau. Der US-Präsident muss das Bündnis gegen Putin mehr denn je zusammenhalten – eine zunehmend schwierige Aufgabe.

Als Joe Biden am Mittwochabend in den Präsidenten-Helikopter Marine One steigt, wendet er sich noch einmal an die anwesenden Reporter. "Ich denke, es besteht eine reale Gefahr", sagt er und spielt auf einen möglichen Einsatz chemischer Waffen der Russen in der Ukraine an.

Es ist eine letzte Warnung aus Washington an die Welt, bevor Biden kurz darauf zur Präsidentenmaschine Air Force One am Militärflughafen Andrews geflogen wird, um dann in Richtung Brüssel zum anberaumten Nato-Sondergipfel abzuheben. Nicht zufällig kommt das Bündnis außerplanmäßig am 24. März zusammen, genau einen Monat nach Putins Einmarsch in die Ukraine. Mitten im Krieg ist diese Reise von Joe Biden nach Europa die wichtigste und auch die schwierigste seiner bisherigen Präsidentschaft.

Die Spielräume werden enger

Ein möglicher Chemiewaffeneinsatz der Russen – es wäre nicht nur eine weitere brutale Eskalation, es würde auch die Nato vor neue Probleme stellen. Wie soll das Bündnis dann reagieren? Einerseits soll kein eigenes direktes Engagement die Devise bleiben, andererseits müsste die militärische Unterstützung der Ukraine und die wirtschaftliche Sanktionierung Russlands noch deutlicher ausfallen als ohnehin schon. Die Spielräume werden enger und schwieriger umzusetzen. Die Partner wirken uneiniger, was angesichts der zahlreichen Völkerrechtsverbrechen zu tun ist.

Tatsächlich bewegt sich das Nato-Bündnis mit jedem weiteren Schritt näher an ein tatsächliches Einschreiten heran. Für den russischen Präsidenten ist die Nato ohnehin längst involviert. Warnungen dazu aus dem Kreml gibt es seit Wochen.

Das Bündnis muss deshalb immer wieder herausstellen, selbst nicht beteiligte Partei zu sein. Dieser Spagat ist insbesondere für die USA und ihren Präsidenten Joe Biden groß. Massive Waffenlieferungen einerseits, striktes Ablehnen von eigenen Truppen anderseits. Die Erwartungen an die Supermacht wachsen, aber sie sind immer schwerer in Einklang zu bringen.

Biden hat Putins Gefahr früh erkannt

Dabei scheint sich Joe Biden hinsichtlich der Gefahren durch Russland wie so oft in den vergangenen Wochen und Monaten sehr sicher zu sein. Zu oft hat er tatsächlich recht behalten. Viel öfter als es ihm selbst lieb ist.

Schon 2015 war ihm als Vize-Präsident die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel "nicht energisch genug", als es ihm um härtere Konsequenzen gegen Wladimir Putin ging. Zu sehr habe Merkel sich um die wirtschaftlichen Auswirkungen in Deutschland gesorgt. So schreibt es Biden zumindest in seiner Autobiografie.

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Er hingegen habe sich schon damals um die Sicherheitsarchitektur von ganz Europa gesorgt: "Ich war davon überzeugt, der Ausgang der Ukrainekrise würde den Ton in Mittel- und Osteuropa für Jahrzehnte vorausbestimmen – zum Guten oder zum Schlechten."

2022 steht es mehr als schlecht: In Putins Angriffskrieg gegen das ukrainische Volk sind schon jetzt viele Tausend Menschen gestorben, mehr als zehn Millionen sind auf der Flucht. Der Ton, von dem Biden schreibt, ist gesetzt: Mit der Ukraine steht auch Europa am Scheideweg, ja sogar die Sicherheitsordnung der ganzen Welt.

Es ist auch deshalb die bislang wichtigste Auslandsreise von Joe Biden. Und noch immer muss er Überzeugungsarbeit leisten.

Erste Spaltungen oder gefestigte Einigkeit?

Denn trotz der bekundeten Zeitenwende wirken die Bündnis-Mitglieder durchaus nicht geeint. Während etwa die polnische Regierung Kampfflugzeuge liefern will und sie sich teilweise sogar eine "Nato-Friedensmission" vorstellen kann, tut sich insbesondere Deutschland mit versprochenen Waffenlieferungen und weitergehenden Importstopps von russischem Öl und Gas schwer. Die Türkei steht als Nato-Mitglied besonders deutlich in der Kritik, weil sich das Land bislang kaum an den Sanktionen gegen Russland beteiligt.

Von Biden wird deshalb in Brüssel Führung erwartet, um die Partner zusammenzubringen. Die Einigkeit und Entschlossenheit darf nicht bröckeln. Zumal sich auch bei einem Krieg eine folgenschwere Gewöhnung an das Grauen einstellen kann.

Der Sondergipfel der Nato ist deshalb auch ein wichtiges Symbol der Selbstvergewisserung. Biden nimmt anschließend bei dem von Deutschland geleiteten G7-Gipfel teil und auch beim EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs.

Das wird erwartet:

Nato-Sondergipfel (10 bis 13 Uhr): Aus Brüsseler Diplomatenkreisen heißt es, die Nato-Mitglieder würden in einem gemeinsamen Statement erneut deutlich machen, dass sich das Bündnis definitiv nicht direkt einmischen werde. Zugleich aber sollen weitere Truppenaufstockungen an der Ostflanke und Beistandsgarantien deutliche Signale an Russland senden.

Biden könnte die Brüsseler Bühne nutzen, um weitere US-Truppenverlegungen nach Europa zu verkünden. Inzwischen sind hier bereits mehr als 100.000 US-Soldatinnen und -Soldaten stationiert. So viele waren es seit 2005 nicht mehr.

G7-Gipfel (14.15 bis 15.15 Uhr): Beim Treffen der sieben größten Wirtschaftsnationen wird es voraussichtlich zu weitergehenden, koordinierten Sanktionen gegen Russland kommen. Japans Premierminister Fumio Kishida gab bereits vorab an, dass sein Land im Rahmen des Gipfels in Brüssel die Ukraine noch mehr als bislang unterstützen und die eigenen Restriktionen gegen Russland weiter verschärfen wolle.

EU-Gipfel (ab 15.30 Uhr): Aus einem Entwurf für ein Positionspapier der gemeinsamen Sitzung des Europäischen Rates und des US-Präsidenten, das t-online vorliegt, geht hervor, dass die Staats- und Regierungschefs "ohne Verzögerung" einen Solidaritätsfonds für die Ukraine aufsetzen wollen. Über diesen Fonds könnten unter anderem Waffen gekauft werden.

Die Europäische Union werde sich damit verpflichten, "die ukrainische Regierung hinsichtlich ihrer unmittelbaren Bedürfnisse zu unterstützen", heißt es dazu in dem Papier. Sollte der russische Angriff irgendwann zu Ende sein, solle das Geld auch "für den Wiederaufbau einer demokratischen Ukraine" verwendet werden können.

Auch die angestrebte Energie-Unabhängigkeit wird in dem Papier thematisiert. Demnach werde die Europäische Union "ihre Abhängigkeit von russischen Gas-, Öl- und Kohleimporten so schnell wie möglich beenden". Ein vom Europäischen Rat in enger Abstimmung mit den Mitgliedstaaten ausgearbeiteter Plan soll der Kommission zu diesem Zweck bis Ende Mai 2022 vorlegt werden.

Aus Kreisen des Weißen Hauses und der EU-Kommission hieß es am Vorabend des Treffens, dass US-Präsident Joe Biden und die Staats- und Regierungschefs der EU an einem Plan arbeiten, Europa per Flüssiggaslieferungen (LNG) aus den USA schneller unabhängiger vom russischen Erdgas zu machen.

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Diese erste Mission von Biden und seinen Partnern in Brüssel soll bereits innerhalb von 12 Stunden erfüllt sein. Es wird ein Dauerlauf im öffentlichen Händeschütteln und im Geben von Pressestatements. Das mächtigste Militärbündnis der Welt will in seinem Hauptquartier zeigen, dass es bereit ist zu handeln, ohne die roten Linien, also konkrete Reaktionen zu verraten. Die G7 und die EU wollen ihre wirtschaftliche und politische Macht demonstrieren.

Biden an der Nato-Ostflanke

Seine zweite Mission führt den US-Präsidenten am Freitag dann weiter nach Warschau. In die Hauptstadt jenes Landes, das mit bald zwei Millionen ukrainischen Flüchtlingen derzeit die meisten Menschen aus dem Kriegsgebiet aufgenommen hat. Biden weiß um die Brisanz der Flüchtlingsfrage. Immer häufiger wurde er zuletzt in Washington gefragt, wann und wie die USA endlich ebenfalls ukrainische Flüchtlinge aufnehmen würden. In den Staaten leben viele aus der Ukraine stammende Menschen, die sich um ihre Familien in Europa sorgen.

An Polen grenzt im Osten auch Belarus, von wo aus nicht nur die nächste Angriffswelle gegen die Ukraine gestartet werden könnte, sondern wo Russlands Nuklearwaffen bald näher an der Nato als je zuvor stationiert werden könnten. Damit ist Bidens Besuch an der Ostflanke des Nato-Bündnisses während des nur wenige hundert Kilometer entfernten Kampfgeschehen mit den Russen von hoher symbolischer und politischer Bedeutung. Auch wenn es aus der Ukraine die unrealistische Forderung gab, Biden solle gar in das umkämpfte Kiew reisen.

Die zahlreichen Auftritte des US-Präsidenten sind nicht zuletzt auch innenpolitisch von Bedeutung. So geeint der Kongress im Ukraine-Krieg derzeit ist, so viel mehr fordern sowohl Republikaner als auch Demokraten von Biden. Ob Flugzeuglieferungen oder Flugverbotszone – viele sehen in Bidens klarem Nein zunehmend Schwäche oder zumindest die falsche Strategie.

Wie ernst es Biden mit seiner Reise nach Europa ist, lässt sich allerdings schon an seiner Delegation erkennen. Rund 20 hochrangige Mitglieder der US-Regierung sind mit an Bord der Air Force One und landeten am Mittwochabend in Brüssel. Darunter auch US-Außenminister Antony Blinken und Sicherheitsberater Jake Sullivan. Auch sie werden mit den Bündnispartnern ausloten, was möglich ist, sollte Russland weiter ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung eskalieren und nicht verhandeln wollen.

An einem dürfte kein Zweifel mehr bestehen: Anders als lange Zeit viele Europäer macht sich Joe Biden über Wladimir Putin schon lange keine Illusionen mehr. Bei einem Besuch in Putins Arbeitszimmer 2015 in Moskau will Biden zu ihm gesagt haben: "Herr Ministerpräsident, ich sehe Ihnen in die Augen. Ich glaube nicht, dass Sie eine Seele haben." Putin soll ihn angelächelt und lediglich erwidert haben: "Wir verstehen einander."

Heißt: Biden rechnet bei Putin mit allem. Auch damit, dass dieser einen Dritten Weltkrieg in Kauf nehmen würde. Die Erwartungen lasten schwer auf dem US-Präsidenten, der am Mittwochabend in Brüssel gelandet ist. Auf der Fahrt vom Militärflughafen Melsbroek bis zur Residenz des US-Botschafters säumten zahlreiche Menschen die Brüsseler Straßen. Sie dürften bei diesem Besuch mehr als nur einen kurzen Blick auf den US-Präsidenten erhoffen. Viel eher einen baldigen Frieden in Europa.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Joe Biden: Versprich es mir – Über Hoffnung am Rande des Abgrunds
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