Aufgeschobene Probleme Hier muss die nächste Regierung schnell Farbe bekennen
Nicht nur die Deutschen schauen mit Spannung darauf, wer am Sonntag bei der Bundestagswahl das Rennen macht. Auch in Italien, Frankreich und Griechenland sehnt man das Ende des Wahlkampfs herbei. Ähnlich geht es vielen Flüchtlingen, die darauf warten, ihre Familie nachholen zu dürfen.
Die Koalitionsparteien dürften so manche Entscheidung, wohl aus wahltaktischen Gründen, zuletzt auf die lange Bank geschoben haben. Nach der Wahl aber muss die nächste Bundesregierung bei diesen Fragen schnell Farbe bekennen:
► Flüchtlinge und irreguläre Migration: Die große Koalition hatte erst versucht, das Thema ganz aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Doch inzwischen ist es mit Macht zurückgekehrt, wie in den Wahlsendungen zu beobachten ist. Zwar versuchen immer noch viele Flüchtlinge, mit Schlepperbooten über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Doch der Andrang hat – vielleicht auch nur vorübergehend – deutlich nachgelassen.
Ursache dafür ist ein Bündel von Maßnahmen: Das EU-Türkei-Abkommen, die Schließung der Balkanroute, Vereinbarungen mit Transitstaaten in Afrika und die jüngste Kooperation Italiens mit mehr oder weniger vertrauenswürdigen Gruppen in Libyen, die verschiedene Teile der Küste kontrollieren. Allerdings ist zu vermuten, dass sich die Schlepper nach einer Weile auf die neue Situation einstellen. Im ersten Halbjahr 2017 kamen nach UN-Angaben 6228 Menschen von Marokko mit Booten nach Spanien. Über das Schwarze Meer kommen seit Wochen neuerdings mehr Flüchtlinge nach Rumänien. Im August und Anfang September stellte die Küstenwache drei Schiffe mit insgesamt 249 Flüchtlingen.
► Überschuldete Euro-Staaten: Das überschuldete Griechenland hätte von Rot-Rot-Grün in Deutschland womöglich mehr zu erwarten – SPD und Grüne sind für Schuldenerleicherungen und Investitionen. Die Linke fordert einen Schuldenschnitt ohne Austritt aus der Währungsunion. Da es aber nach einer weiteren Regierung unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) aussieht, setzen die Griechen nach der Wahl nun eher auf weitere Schuldenerleichterungen und Geld für die Versorgung der rund 62.000 Flüchtlinge, die in Griechenland festsitzen, nachdem ihnen der Weg in andere EU-Staaten versperrt wurde. Nur eine Sorge hat die griechische Regierung: Eine Regierungsbeteiligung der FDP. Denn Spitzenkandidat Christian Lindner will, dass Griechenland die Währungsunion verlässt.
Italien hat eine Staatsschuld von 132 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und liegt damit hinter Griechenland auf dem zweiten Platz in der Euro-Zone. Rom wird von einigen Beobachtern unterstellt, es habe die Flüchtlinge als Druckmittel benutzt, etwa um eine lockere Schuldenpolitik durchzusetzen oder um die Erlaubnis zur Rettung maroder Banken zu erhalten. Italienische Drohungen, das Dublin-Abkommen auszuhebeln, indem es Schutzsuchende nach Norden durchwinkt, haben die Österreicher inzwischen mit der Drohung gekontert, den Brenner-Pass dicht zu machen. Dass Italien mehr europäische Solidarität fordert, ist verständlich. Von den rund 125.000 Geflüchteten, die in den ersten acht Monaten dieses Jahres über das Mittelmeer kamen, landeten etwa 100.000 in Italien.
► Familiennachzug: Um die Ankunft neuer Flüchtlinge zu bremsen, hat die Bundesregierung an verschiedenen Stellschrauben gedreht. Dazu gehört auch der Familiennachzug. Unter Hinweis auf Versorgungsengpässe wurde erst die Familienzusammenführung für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus für zwei Jahre ausgesetzt. Dann schob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) immer mehr Antragsteller in diese Kategorie - auch viele Asylbewerber aus dem Kriegsland Syrien. Kurz vor der Wahl lancieren jetzt einzelne Politiker von CSU und CDU die Idee, die Flüchtlinge noch einmal zu vertrösten. Sie fordern, den Familiennachzug über März 2018 hinaus auszusetzen. Für die Betroffenen wäre das brutal. Merkel sagt: Darüber sprechen wir Anfang 2018 – also nach der Wahl.
Gruppen, die sich um Flüchtlinge kümmern, sind außerdem überzeugt, dass das für die Visa der Angehörigen zuständige SPD-geführte Auswärtige Amt zuletzt auch den Familiennachzug bei Flüchtlingen mit vollem Schutzstatus bewusst verzögert habe. Pro Asyl klagt über "monatelange Wartezeiten und bürokratische Hürden".
Aus einem Brief des griechischen Ministers für Migration, Ioannis Mouzalas, vom Mai dieses Jahres geht hervor, dass Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) die Griechen darauf verpflichtet hat, die Ausreise der Angehörigen von in Deutschland lebenden Flüchtlingen aus Griechenland "vorübergehend zu verlangsamen".
► Euro-Zone: "Eine volle europäische Tagesordnung für die nächste Regierung" – das schreibt die Deutsche Bank in einer aktuellen Analyse. Zu denen, die nach der Wahl Druck machen wollen, zählt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Er drängt darauf, die Euro-Staaten enger aneinanderzubinden. Macron will einen eigenen Haushalt für die Euro-Zone von Hunderten Milliarden Euro. Er sagt: "Die Schaffung eines solchen Budgets bedeutet, zunächst ein Minimum an Solidarität zu schaffen, um anschließend über die Fähigkeit zu verfügen, gemeinsam Geld aufnehmen zu können, zu investieren und wirtschaftliche Schocks zu absorbieren, die Europa treffen können."
Merkel ist nicht grundsätzlich dagegen, tritt aber auf die Bremse. Vielleicht auch, weil viele Deutsche immer noch fürchten, deutsche Steuerzahler könnten für die Schulden anderer Euro-Staaten eines Tages haften. Wenn die Kanzlerin über ein Eurozonen-Budget spricht, dann meint sie "erst einmal kleine Beträge". Damit sollen Euro-Länder bei Reformen unterstützt werden. Auch mit der Idee eines Euro-Finanzministers könnte sich die CDU unter bestimmten Voraussetzungen anfreunden.
Die SPD lobt Macrons Vorschläge. Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) ist gegen ein deutsches Spardiktat. Er plädiert für eine "weichere Finanzpolitik". Auch die Grünen wären im Prinzip dabei. Die AfD ist zwar strikt gegen alle Pläne für eine Weiterentwicklung der Euro-Zone. Da alle anderen Parteien eine Koalition mit den D-Mark-Nostalgikern ausschließen, haben Macron und seine Unterstützer aber höchstens bei einer Regierungsbeteiligung der FDP etwas Gegenwind zu befürchten.