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Corona-Bundesnotbremse: Das sind die Schwachstellen


Zu spät, zu wenig, zu viel
Die Schwachstellen der Corona-Notbremse


Aktualisiert am 22.04.2021Lesedauer: 6 Min.
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Fußgängerzone in Köln: Ab einer Inzidenz von 150 muss der Großteil des Einzelhandels wieder schließen (Symbolbild).Vergrößern des Bildes
Fußgängerzone in Köln: Ab einer Inzidenz von 150 muss der Großteil des Einzelhandels wieder schließen (Symbolbild). (Quelle: C. Hardt/imago-images-bilder)

Der Bundestag hat die Notbremse beschlossen – doch die ersten Klagen sind schon angekündigt. Die Kritik kommt von allen Seiten, von Einheitlichkeit fehlt dabei aber jede Spur.

Nun ist sie beschlossene Sache: Mit dem Großteil der Stimmen von Union und SPD hat der Bundestag die Corona-Notbremse angenommen. Wenn am Donnerstag der Bundesrat keinen Einspruch einlegt und Bundespräsident Steinmeier noch am selben Tag das geänderte Infektionsschutzgesetz unterschreibt, könnte die Notbremse schon ab Samstag greifen. Oder doch nicht? Kritik kommt von allen Seiten, es zeichnet sich ab, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Fall befassen wird. Ist die Notbremse also doch zum Scheitern verurteilt?

"Die Intensivmediziner senden einen Hilferuf nach dem anderen – wer sind wir denn, wenn wir diese Notrufe überhören?", fragte Kanzlerin Angela Merkel am Freitag während der ersten Lesung im Bundestag. Man dürfe die Mediziner und das Pflegepersonal nicht allein lassen. Der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Gernot Marx, pflichtet ihr in einer Videobotschaft vom Mittwoch bei: "Wir brauchen diesen Rückhalt von der Politik."

Intensiv-Teams sind erschöpft

4.987 Menschen mit Covid-19 werden aktuell (Stand: Mittwoch) auf deutschen Intensivstationen behandelt, nur 13 Prozent der verfügbaren Intensivbetten sind noch frei. Gegenüber den Zeitungen der Funke-Mediengruppe warnte Marx: "Wenn wir deutlich über 6.000 Covid-Patienten kommen, ist im gesamten Krankenhaus nur noch Krisenmedizin möglich." Die Notbremse müsse daher schnell in Kraft treten – sonst würde dies Nicht-Covid-Patienten gefährden, wenn zum Beispiel wichtige Herz- oder Krebsoperationen verlegt werden müssen.

In seiner Videobotschaft macht Marx zudem deutlich: Die Intensivstationen seien zwar in einigen Regionen weniger stark belastet als in anderen, "was allerdings auf allen Stationen gleich ist, (ist), dass die Teams wirklich sehr müde, erschöpft sind." Der ehemalige Divi-Präsident Uwe Janssen warnt: "Diese dritte Welle wird das Zünglein an der Waage sein. Da werden uns etliche Pflegekräfte endgültig die Segel streichen – und wir können es ihnen nicht verübeln."

Mediziner kritisieren Alarmismus

Kommt die Notbremse also zu spät? Gegenüber der "Bild"-Zeitung warnten zwei Mediziner vor dem vermeintlichen Alarmismus der Divi: "Wir sind und waren zu keiner Zeit am Rande unserer Kapazitäten", so Thomas Hermann Voshaar, Chef der Lungenklinik Bethanien Moers. "Nicht einmal ein Viertel der 22.000 Intensivbetten in Deutschland sind mit Covid-19-Patienten belegt." Der Leiter der Klinik für Intensivmedizin und Notfallmedizin des Klinikums Bremen Mitte, Rolf Dembinski, berichtet, die Lage "sei angespannt, aber noch beherrschbar".

Divi-Präsident Marx macht jedoch eine weitere Entwicklung Sorgen: "Ich muss noch mal sagen, dass wir immer häufiger auch sehr junge Patientinnen und Patienten betreuen müssen", erklärt er in seiner Videobotschaft. Darauf verwies am Mittwoch im Bundestag auch Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU): Bei der Anzahl der Patienten auf den Intensivstationen sei die "Tendenz weiter steigend, bei sinkendem Alter der Patienten." Er rief daher zur Zustimmung zum Gesetzesentwurf auf – außer bei den Regierungsparteien hatte er wenig Erfolg. Kritik hagelte es aus allen Oppositionsparteien, wie Sie hier nachlesen können.

Inzidenzwert für Schulschließungen: "Würfeln Sie die aus?"

Ein Punkt, der auf Unverständnis stieß: Die Regel für Schulschließungen. Am Montag hatten die Koalitionsfraktionen den Inzidenzwert hierfür von 200 auf 165 verschärft. Linken-Fraktionsvize Amira Mohamed-Ali fragte in Richtung von Union und SPD: "Woher haben Sie eigentlich diese Zahlen? Würfeln Sie die aus?"

Die Koalitionsparteien hatten den Schwellenwert von 165 am Dienstag verteidigt. SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese berichtete von langen Verhandlungen. "Letztendlich resultiert die 165 daraus, dass am Montag der Durchschnittswert aller 16 Bundesländer beim Inzidenzwert bei ungefähr 165 lag", sagte er.

"Das passiert, wenn der Bundestag Schulpolitik macht"

In den Bundesländern fehlt dafür jedoch das Verständnis: "Die Inzidenz von 165 ist eine willkürlich gegriffene Zahl, die für Schülerinnen und Schüler auch problematische Auswirkungen haben wird", sagte die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) der "tageszeitung".

Ihr Hamburger Kollege Ties Rabe (SPD) wurde noch deutlicher: Es sei nicht hinnehmbar, dass die Koalition die Schulschließungen verschärft, die Ausgangssperre aber gelockert habe. "Kinder werden aus der Schule ausgesperrt, damit Erwachsenen abends länger unterwegs sein können. Das passiert, wenn der Bundestag Schulpolitik macht."

Auch der Verband der Kinder- und Jugendärzte äußerte sich gegen geschlossene Schulen. Verbandspräsident Thomas Fischbach sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, offene Schulen seien eine "unabdingbare Voraussetzung für das Kinderwohl". Was während der Schulschließungen verpasst werde, ließe sich nicht einfach nachholen. "Wir erleben in unseren Praxen Vereinsamung, Depressionen, aggressives Verhalten und eine Zunahme von Fettleibigkeit." Er kritisierte, für den Gesetzesentwurf seien keine Fachleute befragt worden: "Die Schulen sind keine Treiber der Pandemie", Infektionen würden innerhalb der Familien passieren.

Inzidenz 271 unter Oberschülern

Das Robert Koch-Institut hingegen berichtet im Situationsbericht vom Dienstag von einem nach den Osterferien wieder ansteigenden Trend bei Ausbrüchen in Schulen. Die Inzidenzen zeigen: Die 15- bis 19-Jährigen sind die aktuell am stärksten von Neuinfektionen betroffene Altersgruppe, der Wert liegt hier bei 271. Bei 10- bis 14-Jährigen liegt die Sieben-Tage-Inzidenz bei 205, bei den 5- bis 9-Jährigen bei 185. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach findet das alarmierend:

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Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft findet den Inzidenzwert von 165 noch immer zu hoch: "Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern werden damit Risiken ausgesetzt, die die Politik in anderen Teilen der Gesellschaft nicht für akzeptabel hält", sagte GEW-Chefin Marlis Tepe dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Streitthema Ausgangssperre

Neben den Schulen sorgt noch ein zweites Thema für Streit: die geplanten Ausgangsbeschränkungen. Zwischen 22.00 und 5.00 Uhr sollen sie ab einer Inzidenz von 100 gelten, Spazierengehen und Joggen ist allein bis Mitternacht erlaubt. "Man braucht sie in der Form nicht", sagt FDP-Parteichef Christian Lindner. "Wir sehen in Deutschland, dass Ausgangsbeschränkungen durchaus eine Wirkung haben", verteidigte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich das Vorhaben im Rundfunk Berlin-Brandenburg.

Auch die Wissenschaft kann hier jedoch wenig Erkenntnisse zum Nutzen der Maßnahme liefern: Mobilitätsforscher Kai Nagel von der Technischen Universität Berlin befürchtet, das Instrument könne "relativ schnell stumpf werden". Er erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur dpa: "Nächtliche Ausgangssperren zielen auf private Besuche". Diese ließen sich jedoch auf die Zeit vor der Sperre vorverlegen und würden so kaum unterbunden. Für wirksamer hielte er ein generelles Verbot privater Treffen. Den R-Wert könne man so um bis zu 0,5 Punkte senken – mit Ausgangsbeschränkungen nur um 0,1 Punkt.

Verfassungsklagen angekündigt

Infrage steht somit die Verhältnismäßigkeit. FDP-Generalsekretär Volker Wissing erklärte im Deutschlandfunk, die Ausgangssperre sei verfassungsrechtlich problematisch. "Das Gesetz ist unverhältnismäßig und wird sicherlich vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffen werden."

Der Parlamentarische Geschäftsführer der Partei, Marco Buschmann, forderte zudem Ausnahmen von den Maßnahmen für getestete oder geimpfte Personen. Er kündigte in der "Rheinischen Post" an, vor das Bundesverfassungsgericht ziehen zu wollen, würden die Änderungsanträge der FDP im Bundestag abgelehnt. Da dieser Fall eingetreten ist, scheint eine Klage der FDP nun wahrscheinlich.

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Gutachten: Ausgangssperre zulässig – aber nicht so

Auch die Gesellschaft für Freiheitsrecht unter ihrem Vorsitzenden Ulf Buermeyer hat eine Klage angekündigt: Man stehe hinter der Bekämpfung der Pandemie, aber die Grenzen der Verfassung müssten eingehalten werden. Das sei mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes nun nicht mehr der Fall. Ein Gutachten der Verfassungsrechtlerin Anna Katharina Mangold für die Gesellschaft habe ergeben: Das Gesetz verletzte mehrere Grundrechte, der Staat müsse sich dafür rechtfertigen.

Auch Mangold kritisiert die Ausgangssperre. Eine solche Maßnahme sei durchaus zulässig, allerdings nur im Rahmen eines Gesamtkonzepts zur Senkung der Infektionszahlen – welches derzeit nicht erkennbar sei, vor allem aufgrund der geringen Reglementierung der Arbeitswelt.

Einzelhändler wollen klagen

Und auch eine dritte und vierte Gruppe haben Klagen angekündigt: Mehrere Einzelhändler wollen gesammelt nach Karlsruhe ziehen, darunter Intersport, Rose Bikes, Ernstings Family, Tom Tailor und Bonita. Intersport-Chef Alexander von Preen kritisierte, einzelne Handelskategorien würden durch das Gesetz privilegiert. Auch der Branchenverband HDE kündigte rechtliche Schritte an.

Die Große Koalition glaubt aber trotz der drohenden Klagen an die Notbremse: SPD-Fraktionschef Mützenich sagte im RBB, angesichts der Infektionslage sei die Einschränkung der Grundrechte nötig. "Das Gesetz ist bis zum 30. Juni befristet und auch daraus ergibt sich die Verhältnismäßigkeit." CDU-Rechtspolitiker Jan-Marco Luczak betonte gegenüber dem "Handelsblatt" die Änderungen vom Montag: "Wir haben das Infektionsschutzgesetz in den letzten Tagen widerspruchsfrei und verfassungsfest gemacht".

Verwendete Quellen
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