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Belarus: Lukaschenkos Plan geht nicht auf – volle Asylunterkünfte in Ostdeutschland


Volle Asylunterkünfte in Ostdeutschland
Warum Lukaschenkos Plan trotzdem nicht aufgeht


Aktualisiert am 13.10.2021Lesedauer: 5 Min.
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Migranten in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt: Viele von ihnen kamen über Belarus und Polen nach Deutschland.Vergrößern des Bildes
Migranten in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt: Viele von ihnen kamen über Belarus und Polen nach Deutschland. (Quelle: Patrick Pleul/dpa)

Der belarussische Machthaber Lukaschenko will die EU bestrafen, indem er Tausende Geflüchtete durchreisen lässt. Vordergründig hat er sein Ziel erreicht – aber der Schein trügt.

"ALARM. Die polnische Grenze ist dicht. Die belarussischen Behörden haben Ihnen Lügen erzählt. Gehen Sie zurück nach Minsk! Nehmen Sie keine Tabletten von belarussischen Soldaten an." Diese SMS haben in den vergangenen Wochen zahlreiche Menschen erhalten, die sich im polnischen Grenzgebiet zu Belarus aufhielten. In nur einer Nacht hat die Nachricht laut Polens Innenminister Mariusz Kamiński fast 31.000 Menschen erreicht.

Ein beigefügter Link führt zur Internetseite der polnischen Regierung. Ein Satz sticht dort unter all den Warnungen hervor: "Sie könnten vergiftet werden!" Die Warnung soll Menschen abschrecken. Schon vor Wochen hatte die Regierung an der Grenze zu Belarus eine Sperrzone eingerichtet. Nur noch Bewohner und Behörden dürfen dort hinein, Journalisten sind ausgeschlossen. Der Hintergrund: Belarus schickt Tausende Asylbewerber über die Grenze nach Polen in die EU – als Reaktion auf Brüsseler Sanktionen. Machthaber Alexander Lukaschenko will den Druck erhöhen. Mit Folgen für Deutschland?

Mehr als 4.600 illegale Einreisen seit August

"Jeder Versuch, sich zu verstecken und unter freiem Himmel zu schlafen, kann tragisch enden", warnt die polnische Regierung die Migranten. Tatsächlich starben im September mehrere Menschen an der Grenze bei dem Versuch, einzureisen.

Für die Menschen, die größtenteils aus dem Irak, Syrien, Jemen und dem Iran über Belarus in die EU geflüchtet sind, kommt die Rückreise nach Belarus jedoch nicht infrage. Zu lang, anstrengend und teuer war der Weg, zu groß ist die Hoffnung auf ein besseres Leben in der Europäischen Union. Immer mehr Geflüchtete nutzen die Fluchtroute über Belarus und Polen, um nach Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen zu gelangen. Seit Anfang August sind mehr als 4.600 Menschen unerlaubt eingereist, wie die Bundespolizei t-online mitteilte. Sie werden an der Grenze aufgegriffen und dann an die Ausländerbehörde oder eine Erstaufnahmeeinrichtung übergeben.

Starker Trend zeichnet sich ab

Die Menschen kommen dem Sprecher zufolge vor allem in Gruppen zu Fuß, einige werden organisiert eingeschleust. Die Polizei nimmt im deutsch-polnischen Grenzgebiet jedoch nicht nur die Migranten fest, sondern zieht auch mutmaßliche Schleuser aus dem Verkehr. Dienstag erst fassten Beamte zwei Verdächtige aus der Ukraine im Grenzgebiet bei Görlitz. Zwischen 1.000 und 6.000 Euro nehmen Schleuser nach Medienberichten, um Menschen illegal in die EU zu bringen. Sie reisen meist unter unmenschlichen Bedingungen.

Und es zeichnet sich ein deutlicher Trend ab: Bis Juli hat die Bundespolizei in diesem Jahr insgesamt 26 Personen mit Bezug auf die Belarus-Route registriert. Im August waren es 474 und im September schon 1.914 Personen. In diesem Monat wurde dieser Höchststand schon am 11. Oktober übertroffen.

Der starke Anstieg der illegalen Einreisen hat eindeutige Gründe. "Es gibt etliche Hinweise, die zeigen, dass die Flüchtlingsbewegung vom belarussischen Regime gefördert wird", sagt Jakob Wöllenstein im Gespräch mit t-online. Er leitet das Büro der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Litauen. Das baltische Land ist eine der Hauptankunftsländer für Menschen aus den Krisenregionen. Dass nun auch vermehrt Geflüchtete an der ostdeutschen Grenze aufgegriffen werden, sei nur die Spitze einer mehrmonatigen Entwicklung – und eine Reaktion auf die verhängten Sanktionen der EU gegen das Lukaschenko-Regime im Frühjahr, so der Experte.

Agenturen sollen Flüchtlinge angeworben haben

Mehrere Faktoren haben aus Wöllensteins Sicht zu den hohen Flüchtlingszahlen geführt. Zunächst setzte das belarussische Außenministerium im Mai ein Rücknahmeabkommen aus, wodurch die Nachbarstaaten die Neuankömmlinge nicht mehr in das Land abschieben konnten.

Gleichzeitig sei es wahrscheinlich, dass Belarus aktiv um die Flüchtlinge geworben hat: "Es besteht Grund zur Annahme, dass ganz bewusst staatsnahe Agenturen in den Herkunftsländern der Flüchtlinge geworben haben, nach Belarus zu kommen, um von dort in die EU zu gelangen", erklärt Wöllenstein. Die meisten Migranten seien aus der Türkei oder dem Irak eingeflogen worden.

"Vergleichbar mit Deutschland im Sommer 2015"

Von dort aus war es dann nur noch ein kleiner Schritt in die EU, etwa nach Polen oder Litauen. Wöllenstein berichtet, dass belarussische Behörden Geflüchtete sogar in das Grenzgebiet gebracht hätten. Über die größtenteils ungesicherte litauische Grenze kamen so bis August mehr als 4.100 Menschen in das Land – 44 Mal mehr als im gesamten Vorjahr. "Das waren Dimensionen, die für Litauen vergleichbar waren mit den Verhältnissen von Deutschland im Sommer 2015", sagt Wöllenstein.

Das zog mehrere Konsequenzen nach sich: Litauen verhandelte mit der Türkei und dem Irak darüber, die Flüge nach Minsk vorerst auszusetzen. Gemeinsam mit Lettland holte man sich zudem Unterstützung von der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Auch Polen baute seinen Grenzschutz weiter aus – aber zu spät. Als Folge von Lukaschenkos Maßnahmen füllen sich die Asylunterkünfte in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen. In den drei Bundesländern sind schon jetzt mehr illegal eingereiste Menschen eingetroffen als geplant – die Kapazitäten schrumpfen täglich.

Kapazitäten müssen ausgebaut werden

"Die Dresdner Aufnahmeeinrichtung hat die Kapazitätsgrenze bereits erreicht. An den anderen Standorten ist die Belegungssituation jedoch ebenfalls bereits angespannt", erklärt ein Sprecher des sächsischen Innenministeriums t-online. Die Schaffung zusätzlicher Unterbringungskapazitäten sowie die Sicherstellung der Registrierung und Weiterleitung der Asylbewerber sei die größte Herausforderung. Derzeit stehen in Sachsen rund 3.900 Plätze für Migranten zur Verfügung, 3.160 sind bereits belegt. Wenn der Andrang in den nächsten Wochen anhält, sind auch die übrigen knapp 750 Plätze schnell ausgeschöpft.

Die sächsische Regierung will nun die Kapazitäten ausbauen. Wie genau, ist aber noch unklar. Ein Teil der ankommenden Menschen wird dem Sprecher zufolge später in andere Bundesländer weitergeleitet. Auch Mecklenburg-Vorpommern will die Aufnahmekapazitäten erhöhen. "Die anhaltende Pandemiesituation sowie die Erhöhung der Zugangszahlen von Asylbegehrenden, die aus Weißrussland über die polnische Grenze zu uns kommen, stellt uns vor Herausforderungen", so Innenminister Torsten Renz (CDU).

Es kommen immer mehr Frauen und Kinder

In Brandenburg ist die Lage vergleichbar – aber überfüllt sind die Einrichtungen noch nicht. "Es ist keine dramatische Lage, aber es ist eine harte Situation", sagt Olaf Jansen, Leiter der Zentralen Ausländerbehörde in Eisenhüttenstadt. Die große Herausforderung sei, alle Ankömmlinge so zu isolieren, dass sich das Coronavirus nicht ausbreiten kann. Jansen rechnet mit einem weiteren Anstieg der Ankünfte. "Wir sehen keine Bemühungen, das zu stoppen", meint er. Noch im August seien meist alleinreisende Männer gekommen, oft ausgemergelt, abgerissen und erschöpft. Inzwischen seien auch oft Frauen und Kinder dabei.

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Nach EU-Regeln, dem sogenannten Dublin-Verfahren, könnte Deutschland einen Großteil der Migranten nach Polen zurückschicken. Demnach wäre das Land hauptsächlich zuständig für die Asylverfahren der Menschen, weil sie dort zuerst EU-Boden betreten haben. In der Praxis sei das aber sinnlos, erläutert Einrichtungsleiter Jansen: Die Menschen würden in Frankfurt über die Oderbrücke nach Polen gebracht – und kämen fast umgehend zu Fuß zurück.

Lukaschenkos Plan geht wohl nicht auf

Polen hatte bereits Ende August mit dem Bau eines provisorischen Zauns entlang der Grenze zu Belarus begonnen, einem Stacheldrahtverhau von etwa 2,50 Metern Höhe. Dieser soll nun durch eine dauerhafte Befestigung ersetzt werden. Geplant sei eine "solide, hohe Barriere, die mit einem Überwachungssystem und Bewegungsmeldern" ausgerüstet werde, erklärte Innenminister Kaminski über das Projekt, dem das Parlament noch zustimmen muss. Polnische Regierungsvertreter sprechen von einer Barriere oder Sperre – das Wort Mauer vermeiden sie.

Trotz des hohen Anstiegs der illegal Einreisenden deutet sich in Deutschland aber keine Krise wie 2015 an. Experte Wöllenstein geht momentan nicht davon aus, dass die Flüchtlingszahlen an der deutsch-polnischen Grenze dramatisch ansteigen. Stattdessen zeichne sich eher ab, dass sich das belarussische Regime in einer Sackgasse befinde: "Die Polen schätzen, dass mittlerweile bis zu 10.000 Flüchtlinge in Belarus sitzen. Wenn die jetzt nicht mehr in die EU können, wird es problematisch für Lukaschenko", sagt Wöllenstein.

Öffentlich werde Lukaschenko zwar kaum Fehler eingestehen. Angeblich soll sein Außenministerium aber bereits die Visa-Vergabe für mehrere Länder wie den Irak, Syrien oder Pakistan ausgesetzt haben. Es zeigt sich: Lukaschenkos Plan geht wohl nicht auf.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Jakob Wöllenstein
  • Anfragen an die Bundespolizeidirektionen in Brandenburg, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern
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