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Wahlsieg für AfD in Sonneberg: "Viele merken gar nicht, was sie anrichten"


Wahlerfolg für die AfD
Stolz und Scham im "gallischen Dorf"


Aktualisiert am 26.06.2023Lesedauer: 6 Min.
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Björn Höcke, Robert Sesselmann, Tino Chrupalla: Die AfD im Freudentaumel.
AfD im Freudentaumel: Sesselmann wurde zum Landrat gewählt – in Sonneberg melden sich auch Anwohner zu Wort. (Quelle: Glomex)

Der Landkreis Sonneberg hat den bundesweit ersten AfD-Landrat gewählt. Bei der Wahlparty feiert die Neue Rechte, hofft mit Sonneberg auf die Reinwaschung. Doch was treibt die Wähler?

Die Musik dröhnt auf der AfD-Wahlparty aus den Lautsprechern. Der Mann mit Weste muss laut rufen, damit man ihn versteht. Er sei glücklich, sagt er und hebt sein Bier.

Seine Freunde haben der Presse wortlos den Rücken zugedreht. Er aber ist bereit zu reden. Er sei "Ur-Sonneberger", 55 Jahre alt, Fabrikarbeiter, seit 2016 Mitglied in der AfD. "Mit vollster Überzeugung."

Warum er glücklich ist? "Dass die Leute endlich aufgewacht sind. Dass wir nicht mehr die bösen, bösen Nazis sind." Mit diesen Vorurteilen sei jetzt Schluss. "Endlich."

Keine drei Schritte hinter dem Mann steht Holocaustleugner Nikolai Nerling, ins Gespräch mit jungen Männern vertieft. Er wurde 2019 wegen Volksverhetzung verurteilt. Ein paar Meter weiter flattert eine "Ami go home"-Flagge am Stand des Magazins "Compact". Der Verfassungsschutz stuft das Blatt als "gesichert rechtsextrem" ein. Auch der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke, der Gerichten zufolge als "Faschist" bezeichnet werden darf, war eben noch hier und hat eine Rede gehalten.

Die AfD hat sich von innen tatsächlich nicht geändert, auf ihrer Wahlparty im Biergarten der Frankenbaude über Sonneberg trifft sich am Sonntagabend das Who's who der Neuen Rechten. Von außen aber hofft sie nun auf die Reinwaschung, will endlich als normale Partei wahrgenommen werden. Dank Sonneberg.

52,8 Prozent Zustimmung hat AfD-Politiker Robert Sesselmann geholt, damit ist er erster AfD-Landrat in Deutschland. Es ist das bundesweit erste kommunale Spitzenamt für die AfD überhaupt, erobert von ihrem radikalsten Landesverband unter Höcke.

Ein Selfie mit Sesselmann

"Jetzt sind wir auf dem Weg zur Volkspartei", sagt der frisch gewählte Landrat am Mikrofon, umrahmt von AfD-blauen Luftballons und Deutschlandflaggen. Er spricht ruhig, betont: Er selbst sei nur ein "kleines Rädchen". Im nächsten Jahr aber, wenn in Brandenburg, Sachsen und Thüringen Landtagswahlen anstehen, "können wir Geschichte schreiben". Die Menge applaudiert.

Ein vielleicht achtjähriger Junge im Fußballtrikot fragt Sesselmann nach einem Selfie. Der umarmt ihn herzlich, die Mutter schießt ein Foto. Kleine Mädchen in Sommerkleidern und schlaksige Jugendliche stehen neben schwer tätowierten Männern. Aus den Boxen schallt der Song "Die perfekte Welle".

"Deutschland, aber normal" – das war der Slogan, mit dem die AfD zur Bundestagswahl 2021 angetreten war. Viele haben über den Spruch geschmunzelt, Witze gerissen. In den vergangenen Wochen aber ist die AfD ihrem Ziel, sich selbst zur deutschen Normalität zu machen, ein ganzes Stück nähergekommen.

Alle paar Tage trudelte eine neue Umfrage ein, die die Partei bundesweit bei 18 bis 20 Prozent Zustimmung sah. Mehr als die Grünen, die FDP, oft auch als die Kanzlerpartei SPD. Und jetzt, endlich: das Spitzenamt in Sonneberg. Keine Umfrage, sondern der ganz reale Erfolg an der Basis, auf den die AfD seit Jahren hofft.

Über diese Basis wird schon lange gerätselt. Was treibt sie an? Rassismus und Fremdenhass? Der Frust über die Berliner Politik? Angst? Oder Unwissenheit?

Die Bayers hoffen auf die AfD

Vor dem Wahllokal 113 in einer Berufsschule im Osten der Stadt, ein paar Stunden vor Sesselmanns Sieg. Jeder grüßt hier jeden, man kennt sich, vor der Tür reden sie über den Hund, den kranken Nachbarn, wie es gerade mit der Praxis läuft.

Bärbel und Wilfred Bayer haben hier gerade ihre Stimmen abgegeben – für die AfD. Der 70-Jährige läuft am Rollator, weit nach vorne gebeugt, er trägt eine kurze, blaue Hose aus Trainingsstoff und Socken in Sandalen. "Stell dich in den Schatten", sagt seine Frau während des Gesprächs sanft zu ihm.

Die beiden leben schon immer in Sonneberg, nur 500 Meter vom Wahllokal entfernt. Warum die AfD? Ihre Liste ist lang, 15 Minuten der Kritik folgen, nur wenige Themen davon betreffen die Kommunalpolitik.

Ihre Tochter sei alleinerziehend mit drei Kindern, erhalte Bürgergeld, aber komme kaum über die Runden – "und die Ausländer, die kriegen alles hinterhergeworfen". Dabei hätten die eine freche Schnauze, würden saufen und Unruhe stiften. Und die Enkel müssten weit zur Schule fahren – dabei gebe es doch zwei Schulen im Ort. Draußen spielen könnten sie auch nicht mehr – man höre ja nur noch Schreckliches.

Von Höcke halten sie nicht viel. Aber von der AfD erhoffen sie einiges. "Frischen Wind und dass endlich Versprechen gehalten werden", sagt Bärbel Bayer. Die anderen Parteien hätten lange genug Zeit gehabt, um etwas zu verändern.

"Braun und asozial"

Nur ein paar Meter weiter ist die Stimmung eine ganz andere. Drinnen, im großen, lichtdurchfluteten Wahllokal diskutiert ein Pärchen, das gerade seine Stimme abgegeben hat, mit Wahlhelfern über ein Video aus Sonneberg von Spiegel TV. Darin wünscht sich ein Einwohner bei einer Zigarette im Café die NSDAP zurück, über sechs Millionen tote Juden zuckt er nur die Achseln.

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Das Video sei sogar im Ausland geteilt, in Frankreich und Großbritannien sei darüber berichtet worden, sagt der 42-Jährige in kurzen Hosen. Er schüttelt den Kopf. "Wir stehen da wie das gallische Dorf – nur in schlecht", sagt er. "Braun und asozial", ergänzt eine Wahlhelferin. Sie klingt verärgert. Schließlich seien die normalen Sonneberger doch sicher auf der Arbeit gewesen, als das Video gedreht wurde.

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Das Pärchen, das im öffentlichen Dienst arbeitet, würde sein Haus schon jetzt am liebsten nach Bayern verlegen, erzählen sie. Werden die beiden im Urlaub gefragt, woher sie kommen, sagen sie: Oberfranken. Nicht: Thüringen. Wo die AfD stärkste Kraft ist.

Die Wahlbeteiligung steigt

Das größte Problem bei dieser Wahl sind aus ihrer Sicht nicht Menschen wie das Ehepaar Bayer, sondern die Nichtwähler, die durch Nichtstun das Verhältnis pro AfD verschöben. Der Egoismus sei eben groß. Viele wollten nichts mehr für die Gemeinschaft tun, nicht einmal mehr zur Wahl gehen. "Und viele merken gar nicht, was sie damit anrichten."

Bei der ersten Wahl vor zwei Wochen sind nur 49,1 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen gegangen. In den vergangenen Tagen haben CDU, Linke, SPD, Grüne, sogar die FDP für den CDU-Kandidaten geworben. Ihr erklärtes Ziel: Nichtwähler mobilisieren.

Zu diesem Zeitpunkt scheint der Plan noch aufzugehen: Die Wahlbeteiligung sei gut, besser als vor zwei Wochen, sagen sie in Wahllokal 113. Statt 100 seien schon über 200 Wähler dagewesen. In anderen Wahllokalen sieht es ähnlich aus.

"Jaaaaaaaaa!"

"Jaaaaaaaaaa!", brüllt Falko Graf kurz nach 19 Uhr und reißt eine Faust in die Luft. "DAS ist Demokratie!" Der Vorsitzende des AfD-Gebietsverbands Sonneberg hat die Auszählung der Stimmen zur Landratswahl im Gesellschaftshaus verfolgt und live ins Netz gestreamt. Auf seinem Stativ klebt ein blauer Aufkleber mit zwei Worten: "Love AfD". Auf seinen ebenso blauen Turnschuhen prangt das AfD-Logo.

Die 69 Stimmbezirke wurden nach und nach ausgezählt, die Zwischenergebnisse immer wieder an die Wand im Saal projiziert. Bei Schaubild 14 und 69 ausgezählten Bezirken steht fest: Sesselmann macht es, Sonneberg schreibt Geschichte.

Die Wahlbeteiligung ist zwar gestiegen, was ungewöhnlich ist für eine Stichwahl. Doch das Trommeln aller Parteien für die CDU hat nicht gewirkt. Der Christdemokrat Jürgen Köpper kommt nur auf 47,2 Prozent. Die AfD hat in absoluten Zahlen mehr Stimmen hinzugewonnen als er.

Rund 200 Zuschauer sind im Saal. Manche schauen zufrieden, schütteln sich ruhig und kopfnickend die Hand. Anderen steht die Bestürzung ins Gesicht geschrieben.

"Wir haben es befürchtet", sagt die 22-jährige Studentin Anna. Sie hat die Auszählung mit drei Freunden verfolgt, eine von ihnen trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift "It is ok to not be ok".

Ob sie ihre Zukunft in Sonneberg sehen? "Auf keinen Fall", bricht es aus Anna heraus. Hier gebe es keine Perspektive, erst recht nicht nach dieser Wahl, bei der negativen Entwicklung. Das Zeichen, das Sonneberg auf Bundesebene aussende, sei fatal.

Stolz auf das "gallische Dorf"

AfD-Chef Tino Chrupalla wertet das in der Frankenbaude etwas anders. Er ist bestens gelaunt, scherzt, strahlt über das ganze Gesicht. Heute redet der Sachse gerne mit der Presse.

Die Wahlbeteiligung habe entgegen aller Erwartungen angezogen – und zwar für die AfD, entgegen der Mobilisierung aller anderen Parteien. Für die Stichwahl sei das "sensationell", findet Chrupalla. Grund sei auch eine gewisse Trotzreaktion. "Die Bürger lassen sich nicht mehr sagen, wen sie wählen dürfen", sagt er. "Diese Zeiten sind vorbei."

Im Januar steht noch eine Landratswahl in Thüringen an, direkt im Saale-Orla-Kreis nebenan. Dann folgen Landtags- und Kommunalwahlen in mehreren Ost-Bundesländern.

"Vielleicht gucken sie sich ja was ab", hofft ein 46-Jähriger im blau-karierten Hemd, der nahe Chrupalla steht. "Mutig müssen sie nur sein", fügt eine Frau hinzu.

Wenn nicht, auch nicht schlimm. Stolz sind die beiden schon jetzt: "Wir gehören zum gallischen Dorf."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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