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SPD in der Krise: Martin Schulz' Fall – Von Hundert auf Null in einem Jahr


SPD in der Krise
Schulz' Fall: Von Hundert auf Null in einem Jahr

t-online, RP

Aktualisiert am 09.02.2018Lesedauer: 5 Min.
Vom Hoffnungsträger zum Sinnbild der Krise: Martin Schulz Mitte Januar beim SPD-Sonderparteitag in Bonn.Vergrößern des BildesVom Hoffnungsträger zum Sinnbild der Krise: Martin Schulz Mitte Januar beim SPD-Sonderparteitag in Bonn. (Quelle: Federico Gambarini/dpa-bilder)
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Der tiefe Fall des Martin Schulz: Im Vorjahr noch Mega, jetzt Gaga. Schulz verzichtet nach dem SPD-Vorsitz auch auf das Amt des Außenministers.

What a difference a year makes. „Am Anfang einer jeden Überlegung steht: Machen wir das Leben der Menschen besser. Und wenn die Menschen das spüren, wächst das Vertrauen in die Demokratie und in die SPD“, sagte Martin Schulz. Das war im März vergangenen Jahres. Die SPD-Delegierten wählten Schulz damals mit 100 Prozent der Stimmen zum neuen SPD-Vorsitzenden. 100 Prozent. Ungläubig schaute Schulz damals in die Menge. Aber wer wissen will, wann aus Mega Gage wurde, muss auf diesen Tag im März blicken. Denn die 100 Prozent von damals bedeuteten nicht nur volle Zustimmung. Sondern auch ein Hauch von Autosuggestion.

Ein beispielloser Absturz

Am Freitag zog Schulz (62) am Ende eines turbulenten Jahres und einer turbulenten Woche die Konsequenzen. Er verzichte auf das Amt des Außenministers, teilte Schulz mit. Zuvor hatte er schon das Amt des SPD-Vorsitzenden abgegeben. Auf einen beispielhaften Aufstieg folgte ein beispielloser Absturz.

Den hat Schulz nicht allein zu verantworten. Aber zu maßgeblichen Teilen doch auch. Vor einem Jahr kürte die SPD den ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments zu ihrem Vorsitzenden und zu ihrem Kanzlerkandidaten. Schulz kam als Außenseiter auf die heimische politische Bühne. Das hatte zunächst Charme und ließ die SPD in Umfragen steigen. Aber Schulz und sein moralisierender Ton nutzten sich rasch ab. Zum Schluss konnte Schulz innerhalb weniger Wochen im selben Tonfall erklären, dass er nicht als Minister in ein Kabinett unter Kanzlerin Angela Merkel eintreten werde. Und warum er dies dann schließlich doch tun wollte. Der Unmut darüber war so groß, dass die SPD zum Schluss sogar um die Zustimmung der Mitglieder zur Großen Koalition bangen musste. Schulz musste ein Opfer bringen. Ein letztes Mal.

Der Aufsteiger aus Würselen

Der Mann aus Würselen war stets ein Kämpfer. Das Gymnasium schmiss der Polizisten-Sohn und setzte auf eine Karriere als Profi-Kicker. Gar ein Angebot vom Schweizer Klub Bellinzona lag vor, aber Schulz verletzte sich am Knie. Aus der Traum. Es folgte viel Alkohol. Zu viel. Der Bruder brachte ihn schließlich zur Räson. Die renommierte österreichische Journalistin Margaretha Kopeinig hat das in ihrer bewegenden Biografie „Vom Buchhändler zum Mann für Europa“ nachgezeichnet.

Schulz machte eine Buchhändler-Lehre, übernahm später eine Buchhandlung und wurde mit 32 Jahren zum Bürgermeister von Würselen gewählt. Es folgte 1994 der Wechsel ins Europaparlament nach Brüssel und eine beharrliche Karriere. Schulz bimste Sprachen (er spricht Englisch, Französisch und Italienisch) und kämpfte sich hoch, erst Fraktionschef und schließlich 2012 Präsident des Europaparlaments. Ein Vorfall hatte ihn europaweit bekannt gemacht. Im Jahr 2003 stichelte Schulz solange bei einer Rede des italienischen Regierungschefs Silvio Berlusconi, bis dieser schließlich erklärte: Schulz verfüge über die Qualitäten eines „Kapo“, der auch ein Konzentrationslager führen könne.

Die Empörung war groß. Und Schulz war plötzlich bekannt in Europa. Aber die Geschichte beschreibt auch Schulz' Dilemma. Und das der SPD. Nur Empörung und Moralismus reicht nicht.

Taktische Fehler, mangelndes strategisches Geschick

Der Spiegel-Journalist Markus Feldenkirchen hat Schulz im Bundestagswahlkampf begleitet. Herausgekommen ist eine einzigartige Reportage, die dem Journalisten viel Lob einbrachte. Und Schulz viel Häme. „Ein taktischer Blick und eine strategische Kompetenz, das ist, was gute Politiker ausmacht“, sagte der Soziologe (und das SPD-Mitglied) Heinz Bude zur Jahreswende dem Radiosender rbb und fügte hinzu: „Der derzeitige Vorsitzende hat das nicht.“ Ein vernichtendes Urteil. Und Bude legte nach: Schulz habe das richtige Thema adressiert, Gerechtigkeit, aber mit seinem stetigen moralisierenden Ton nicht inhaltlich gefüllt.

Schulz hatte längst die Kontrolle über die Partei und ihre Geschicke verloren. Nach der desaströsen Bundestagswahl im September versäumte er es, sich den Fraktionsvorsitz zu sichern. Den schnappte sich Andrea Nahles. Nach dem Aus für Jamaika lenkte er doch in eine große Koalition ein. Die mussten schon andere für ihn retten. Andrea Nahles etwa. Oder die unermüdliche rheinland-pfälzische Regierungschefin Malu Dreyer. Schulz wirkte getrieben. Die Regie hatte er längst verloren. Was zum Schluss wie ein Befreiungsschlag aussah – der Verzicht auf den SPD-Vorsitz („Das schönste Amt nach Papst“, wie Franz Müntefering einst erklärte) und der Griff nach dem Außenamt, kam in der Öffentlichkeit als Ego-Trip zum Machterhalt rüber. Aus der Traum vom Ministeramt für den Aufsteiger aus Würselen.

Die SPD ist mit ihren Vorsitzenden nie pfleglich umgegangen

Schulz muss mit dem Außenministerium auf ein Amt verzichten, das er wirklich hätte ausüben können. Zurück bleibt eine geschockte SPD. Geschockt auch über sich selbst. „Diese Partei hat manchem von uns in den vergangenen Jahren viel zugemutet. Zu viel“, sagte Rudolf Scharping auf dem SPD-Parteitag im Januar in Bonn. Im Plenum saß Sigmar Gabriel und murmelte leise: „Das ist wohl wahr.“ Neben Gabriel hatte Kurt Beck Platz genommen. Scharping, Beck, Gabriel – die SPD ist mit ihren Vorsitzenden nie pfleglich umgegangen. Scharping wurde 1995 auf dem Mannheimer Parteitag auf offener Bühne von Oskar Lafontaine gestürzt, Kurt Beck 2008 nach einer Intrige im Schwielowsee versenkt, der wankelmütige Sigmar Gabriel musste im Vorjahr Martin Schulz weichen. Es könnte der SPD allmählich dämmern, dass es vielleicht nicht allein an ihren Vorsitzenden liegt. Das würde Andrea Nahles im neuen Amt manches erleichtern.

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Nur ein Beispiel: Der revolutionärste Vorschlag, um auf dem Wohnungs- und Mietenmarkt in den Städten die Kontrolle zurückzugewinnen, kommt von einem 92-jährigen Genossen aus München: Hans-Jochen Vogel, noch ein ehemaliger SPD-Chef. Er greift auf ganze alte Modelle zurück. Genossenschaft und Erbpacht. Die SPD hat sich selbst vergessen.

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Und sie hat eine gesellschaftliche Entwicklung verpennt. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat das jetzt in einem fulminanten Buch beschrieben. „Gesellschaft der Singularitäten“. Die alte Industriegesellschaft und ihre Mechanismen sind Geschichte, so Reckwitz. Was bedeutet das für die SPD? Die Bildungsgewinnler der 70er und 80er (Chancengleichheit) sind heute Teil der Kreativindustrie, sie fahren Hybridautos, schicken die Kinder auf Privatschulen, wo sie Chinesisch lernen, kaufen ihre Klamotten bei COS und wählen Grün oder FDP. Ein mittlerweile (fast) unerreichbares Drittel für die SPD. Das, so Reckwitz-These, sich auch kulturell von der schwindenden Industriearbeiterschaft absetzt. Gespeist wird vegan oder als Genuss-Event in der Kreuzberger Markthalle IX. Schluss mit der Schröder‘schen Curry-Wurst.

Die neue gesellschaftliche Konfliktlinie verläuft schon noch zwischen unten und oben, aber das Einkommen ist nur ein Teil der Geschichte. Vielmehr geht’s um Habitus und Stil. Die SPD aber macht immer noch ehrliche Arbeiterpolitik. Sichert Mindestlohn und Mütterrente. Nur stimmt die alte Gleichung nicht mehr: Mehr soziale Sicherheit und Gerechtigkeit bedeutet auch mehr Stimmen für die SPD. Das hat das letzte Wahlergebnis eindrucksvoll gezeigt.

Schulz hat das jüngste Ergebnis zu verantworten. Er war aber nur der Spitzenkandidat. Sich seiner zu entledigen war einfach. Wie schon bei den SPD-Vorsitzenden davor. Spannender wird die Frage, wie die SPD an die kulturelle Spaltung im Land herangeht. Glückauf? Freundschaft!

Verwendete Quellen
  • Andreas Reckwitz: Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. 2017.
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