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Tagesanbruch: Ergebnis der Hessen-Wahl – Deutsche Politik braucht Neubeginn


Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 29.10.2018Lesedauer: 8 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Angela MerkelVergrößern des Bildes
Angela Merkel (Quelle: Reuters-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Mehr als zehn Prozentpunkte Verlust für die CDU, mehr als zehn Prozentpunkte Verlust für die SPD: Das Ergebnis der hessischen Landtagswahl hat mit Hessen wenig und mit der Bundespolitik viel zu tun. Selten war der Satz so wahr wie heute: Das ist eine Ohrfeige für die Großkoalitionäre in Berlin. Die Hälfte der hessischen Wähler sagten laut Infratest Dimap, die Abstimmung sei “eine gute Gelegenheit, um der Bundesregierung einen Denkzettel zu verpassen“, von allen Parteien genießen nur die Grünen bei den Bürgern eine hohe Glaubwürdigkeit.

Die Wahlen in Bayern und nun in Hessen zeigen deutlich, was auch die bundesweiten Umfragen illustrieren: Die Mehrheit der Menschen in Deutschland hat die Nase gestrichen voll von der Art und Weise, wie Merkels Kabinett Politik macht – beziehungsweise eben nicht macht. Sie ärgern sich über die permanente Zankerei: CSU gegen CDU, Union gegen SPD, SPD gegen SPD. Sie schütteln den Kopf über einen CSU-Chef, der politisch Amok läuft, um vier Flüchtlinge pro Tag an der Grenze abzufangen. Sie sind abgestoßen von einer SPD-Vorsitzenden, die Sprüche raushaut wie eine Pubertierende auf dem Schulhof (“Bätschi“, “Ab morgen kriegen sie in die Fresse!“), aber selbst nichts gebacken kriegt und nun einen ominösen “Fahrplan“ beschwört, der die große Krisenkoalition vielleicht möglicherweise irgendwie doch noch ein kleines bisschen über die Zeit retten sollen. Das dürfte ebenso fadenscheinig wie erfolglos sein. “Die SPD steht vor einer Zeitenwende“, analysiert unsere Politikchefin Tatjana Heid. “Sie braucht einen fundamentalen Wandel – in struktureller, personeller und programmatischer Hinsicht.“ Und unser Parlamentsreporter Jonas Schaible berichtet von der SPD-Basis in Hessen: “Es ist viel Wut zu hören, viel Frust.“

Und die CDU? Vielleicht hat die Mehrheit der Bürger nach 13 Jahren schlicht und einfach genug davon, jeden Abend in den Nachrichten das Gesicht derselben Regierungschefin zu sehen, die etwas von Stabilität, Zukunft und Verantwortung erzählt, aber gar nicht mehr zu wissen scheint, was diese Begriffe bedeuten. Wähler wollen Regierende, die Probleme lösen – nicht Regierende, die Probleme schaffen: Das ist die wichtigste Lehre aus den Wahlen in Bayern und Hessen. Die Deutschen haben eine bessere Regierung verdient als die gegenwärtige.

Nein, wir wollen nicht ungerecht sein: Angela Merkel hat sich viele Verdienste erworben. Sie hat Deutschland sicher durch die Finanz- und Schuldenkrise gelotst. Ihre Regierungszeit steht für wirtschaftlichen Aufschwung, null Neuverschuldung, den Mindestlohn, die Elternzeit, den Versuch einer Energiewende, die Vermittlung im Ukraine-Konflikt und manches mehr. Aber die Liste der offenen Probleme ist mindestens ebenso lang – und sie wird immer länger, weil die Kanzlerin sie nicht anpackt, sondern aussitzt. Weil sie nicht führt, sondern allenfalls moderiert.

In der Umweltpolitik stehen der zögerliche Klimaschutz, der Dieselskandal, der intransparente Umgang mit dem Glyphosat-Einsatz, der lahmende Ausstieg aus der Braunkohle und die viel zu späte Erkenntnis, dass auch im Autoland Nummer eins an E-Mobilität kein Weg vorbei führt, für die vielen verpassten Chancen und nicht eingelösten Versprechen.

Beim Thema Digitalisierung fällt in erster Linie die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen wohlklingenden Sonntagsreden einerseits und täglichen Versäumnissen andererseits auf. Deutschland ist beim wichtigsten Innovationsthema weltweit abgehängt.

Die Migration: gut gemeint, schlecht gemanagt. Erst jahrelange Ignoranz gegenüber Italien, das mit den ankommenden Flüchtlingen allein gelassen wurde. Dann mündete im Jahr 2015 die Reaktion auf eine einmalige humanitäre Notsituation in einen monatelangen Grenznotstand, in das Signal an Menschen in Afrika, Arabien, Afghanistan: Deutschland steht offen, jeder kann kommen, auch wer nicht politisch verfolgt oder vom Krieg geschunden ist. Trotz einer Kehrtwende sind die Folgen dieser verkorksten Politik bis heute gravierend. “Die Regierungen in Europa scheitern daran, jene, die keinen Schutz brauchen, abzuschieben“, sagt Gerald Knaus, der Architekt des Türkei-Abkommens. “Das Ziel sollte klar sein: keine Toten im Mittelmeer, schnelle Verfahren und seriöse Abkommen, die eine rasche Rückführung jener ermöglichen, die keinen Schutz brauchen. Der gegenwärtigen Debatte fehlt es an Realismus, an klaren Konzepten. Das macht es politischen Scharlatanen und Angstmachern viel zu leicht.“

Hinzu kommen das Fehlen eines langfristigen Rentenkonzepts, die Explosion der Mietpreise in Großstädten und die Verarmung vieler Menschen – während zugleich Zockerbanken mit 60 Milliarden Euro Steuergeld vor der Pleite gerettet wurden. Die seit Jahren geplante Finanztransaktionssteuer? Gibt es bis heute nicht.

Am gravierendsten aber: Die Europa-Kanzlerin hat Europa aus dem Blick verloren. Merkel ist seit Monaten nicht in der Lage, dem französischen Präsidenten Macron eine fundierte, ehrliche Antwort auf seine Impulse zur Vertiefung der europäischen Integration zu geben. Es mag ja sein, dass nicht alle seine Vorschläge aus deutscher Sicht zum Vorteil gereichen. Aber man könnte, müsste endlich ernsthaft darüber verhandeln. Indem Berlin Paris von Monat zu Monat hinhält und mit kleinen Lösungen abspeist, trägt Deutschland zur Verschärfung der EU-Krise bei. Dabei bräuchte es dringend neuen Schwung, um den mächtigsten Staatenbund der Welt davor zu bewahren, von Partikularinteressen, Populisten und Egoisten gesprengt zu werden. Siehe den Brexit in Großbritannien, siehe die Haushaltskrise in Italien, siehe die schleichende Entdemokratisierung in Ungarn und Polen. Deutschland könnte und müsste als wirtschaftlich stärkstes Land Europas eigentlich die Führungsrolle bei einer kraftvollen Reform der EU übernehmen. Dass es unter dieser Bundesregierung dazu nicht mehr in der Lage ist, reicht allein schon, um zu dem Schluss zu kommen: Die deutsche Politik braucht einen Neubeginn. Unser Land ist so kraftvoll, stabil und dynamisch, dass es den schaffen kann. Aber ob er mit den gegenwärtigen Amtsträgern gelingt? Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich bin mehr als skeptisch.

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Was geschieht mit einem Staat, der binnen weniger Jahre abstürzt? In den 2000er Jahren galt Brasilien als Wirtschaftswunderland. Rohstoffexporte spülten Milliarden Dollar ins Land, die Agrarindustrie boomte. Die sozialdemokratische Arbeiterpartei steckte das Geld in Sozialprogramme, holte Millionen Menschen aus der Armut, ermöglichte vielen Schule und Studium. Dann kam die Weltfinanzkrise, deren Folgen Brasilien in eine schwere Wirtschaftskrise stürzte. Seither taumelt das Land immer tiefer in den Abgrund. Sechseinhalb Millionen Menschen haben ihre Arbeit verloren. Auf den Straßen grassiert die Gewalt; im vergangenen Jahr wurden 60.000 Menschen ermordet – mehr als in Syrien, mehr als irgendwo sonst auf der Welt. Die Korruption blüht, Politiker aller Parteien halten seit Jahren die Hand auf.

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Deswegen scheinen sich viele Menschen in der viertgrößten Demokratie der Welt nach einem starken Mann zu sehnen, der mit harter Hand durchgreift und mal so richtig aufräumt. Nur so ist der Höhenflug des Rechtsextremisten Jair Bolsonaro zu erklären. Eines Mannes, der die Folterschergen der Militärdiktatur verherrlicht, gegen Homosexuelle hetzt, Schutzgebiete für Indianer abschaffen und Bodenschätze unbeschränkt ausbeuten will, der alle Bürger bewaffnen möchte und es für eine gute Idee hält, wenn Polizisten Straftäter ermorden. “Bolsonaro hat es geschafft, sich als Anti-Establishment-Kandidat zu inszenieren, obwohl der 63-Jährige selbst (…) elf Jahre lang Abgeordneter einer der korruptesten Parteien Brasiliens“ war, analysiert Niklas Franzen in einem lesenswerten Text in der “tageszeitung“.

“Eine große Wut hat sich angestaut in Brasilien“, ergänzt die “Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“. Diese Wut erklärt, dass Jair Bolsonaro gestern die entscheidende Runde der Präsidentschaftswahl gewonnen hat. Das geschieht mit einem Staat, der binnen weniger Jahre abstürzt.

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WAS STEHT AN?

Das Ergebnis der Hessen-Wahl ist eine Strafe für CDU und SPD – wie reagieren beide Parteien darauf? Noch sitzt den Spitzenpolitikern der erste Schock den Gliedern, und in diesem Zustand sollte man bekanntlich keine Entscheidungen treffen. Lieber erst einmal durchatmen, nachdenken, sich miteinander beraten. Aber nicht zu lange bitte. Die Stimmung im Land ist ziemlich eindeutig: Die Mehrheit der Bürger hat den Zank, die Apathie, das weltfremde Rumwurschteln dieser großen Koalition satt. Kriegt Merkels Kabinett noch die Kurve oder ist es dazu längst zu spät? Die Stimmung an der Basis ist sowohl in der Union als auch bei den Sozialdemokraten mies – aber ob das reicht, um Merkel erst aus dem CDU-Vorsitz und später womöglich aus dem Kanzleramt zu drängen, ob es reicht, Andrea Nahles und Olaf Scholz so unter Druck zu setzen, dass sie das Bündnis in Berlin aufkündigen: Das ist unklar.

Wahrscheinlicher ist im Moment, dass sich die Großkoalitionäre noch eine Zeitlang aneinanderklammern. Sie mögen es “Fahrplan“ nennen, aber natürlich geht es nicht nur um die Regierung, nicht nur um die Paragraphen des Koalitionsvertrags. Es geht auch um ihre politische Zukunft. Zerbricht die Groko, zerbrechen auch Karrieren. Die Angst vor dem Abschied von Kanzleramt, Ministerium, Parteivorsitz, Dienstwagen, Scheinwerferlicht könnte noch größer sein als die Angst vor dem Ärger der Wähler. Wozu das führt? Ab 9 Uhr tagen heute die Gremien der Bundesparteien, anschließend treten sie alle vor die Presse: Merkel, Nahles, Lindner, Baerbock, Gauland, Kipping und Co. Dann wissen wir vielleicht schon ein bisschen mehr.

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Die Menschenrechtslage in Ägypten ist verheerend, Präsident Abdel Fattah al-Sisi hat das Land nach der Revolution des Arabischen Frühlings zurück in die Militärdiktatur geführt. Unterdrückte Meinungsfreiheit, verfolgte Regimegegner, Folter in den Gefängnissen – aber zugleich außenpolitische Berechenbarkeit, eine konstruktive Rolle im Nahostkonflikt, ein wichtiger EU-Partner bei der Bekämpfung der illegalen Migration: Was sagt man dem Staatschef so eines Landes? Eine Gratwanderung. Bundespräsident Steinmeier und Bundestagspräsident Schäuble müssen sie heute, Bundeskanzlerin Merkel wird sie morgen gehen. Alle empfangen sie Herrn Sisi zum Gespräch. Beneiden mag man sie darum nicht.

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Die Welle der Berichterstattung über Saudi-Arabien hat ihren Höhepunkt überschritten, jedenfalls fürs Erste. Es gibt nicht mehr jeden Tag eine noch grausamere Enthüllung über den Mord an Jamal Khashoggi im Konsulat in Istanbul. Der öffentliche Druck, gegen Saudi-Arabien vorzugehen, lässt langsam nach. Das ist nicht gut. Deshalb muss ich Ihnen heute etwas zumuten, das ich uns allen lieber ersparen würde. Schon vergangene Woche hatte ich an dieser Stelle geschrieben, dass der Schauplatz des größten Verbrechens der saudischen Politik nicht Istanbul ist, sondern der Jemen. Wenn Sie ein regelmäßiger Leser des Tagesanbruchs sind, dann wissen Sie, dass ich immer wieder auf den Krieg und die Folgen der saudischen Blockade hinweise. Ich weiß natürlich: Das nutzt sich ab. Wir haben unsere eigenen Sorgen. Wenn wir wegen der Betrügereien der Autokonzerne und der verfehlten Politik der Bundesregierung mit unserem Wagen um Fahrverbote herumeiern müssen, wird und darf uns das mehr beschäftigen als einer der vielen Kriege irgendwo auf dem Globus.

Genau deshalb gibt es Menschen, die große persönliche Risiken eingehen, um uns die Welt ein wenig zurechtzurücken. Aus dem Jemen zu berichten, ist gefährlich. Es ist aber auch heilsam. Wenn Sie gesehen haben, was der Fotograf Tyler Hicks aus dem Jemen zurückgebracht hat, ist Ihnen der Bewegungsradius Ihres Diesel danach erst einmal egal. Eine Warnung muss ich Ihnen jedoch mitgeben: Die Fotos sind brutal. Es ist Ihre Entscheidung, ob Sie den Klick auf den Link wagen wollen. Aber schon nach dem ersten Bild verstehen Sie, warum der Hungerkrieg enden muss. Und warum der öffentliche Druck bei uns in Deutschland nicht abnehmen darf. Wir brauchen massive Wirtschaftssanktionen gegen Saudi-Arabien. Solange, bis es Fotos wie diese nicht mehr gibt.

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Warum ich da oben ein Bild von einem Flughafen eingebaut habe, fragen Sie sich vielleicht. Weil dies nicht nur der größte Airport Europas, sondern vielleicht auch der Welt wird. Zwar ist er noch nicht fertig, aber eröffnet wird er heute schon mal, im Norden Istanbuls. Bis zu 200 Millionen Passagiere jährlich sollen dort dereinst abheben und landen. Kann das gut gehen? Mal sehen, was die “FAZ“ dazu schreibt.

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WAS ANSCHAUEN?

Helden kennen wir aus dem Kino, aus Computerspielen und Romanen. Dabei müssen wir gar nicht in die Fiktion entfliehen, um wahren Helden zu begegnen. Wir können ihnen direkt vor unserer Haustür begegnen – zum Beispiel Kim Heizmann von der Schwäbischen Alb. Warum er ein Held ist? Weil er auf dem Fußballplatz einem Gegenspieler das Leben rettete. Das ist zu Recht eine Auszeichnung wert.

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WAS AMÜSIERT MICH?

Es sind die kleinen Gesten, die den Unterschied machen. Wir achten gerne darauf. Sie sagen so viel. Donald Trump zum Beispiel hätte in Deutschland keine Chance. Endgültig nicht mehr. Nicht nach der Sache mit dem Schirm.

Ich wünsche Ihnen einen gut beschirmten Tag.

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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