t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePolitikTagesanbruch

Tagesanbruch – Brexit: Welche Schuld tragen wir am Schlamassel?


Was heute wichtig ist
Wir hätten den Briten mehr Zeit geben sollen

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 27.03.2019Lesedauer: 7 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Britische Demonstranten fordern ein zweites Referendum über den Brexit.Vergrößern des Bildes
Britische Demonstranten fordern ein zweites Referendum über den Brexit. (Quelle: imago)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Wenn ein Drama seinen Höhepunkt erreicht, verfolgen wir im Publikum gebannt jede Regung der Darsteller und jede Wendung der Handlung. Das Adrenalin pulsiert durch unseren Körper, der Schweiß steht auf der Stirn. Ein Augenblick, der seinen ganz besonderen Reiz hat. Allerdings auch einen Nachteil: Indem wir uns voll und ganz auf das aktuelle Geschehen vorn auf der Bühne konzentrieren, blenden wir aus, was sich zuvor zugetragen hat, wo und wie genau das Drama seinen Lauf nahm, wer wann welche Entscheidungen getroffen und welche Finten geschlagen hat. Wir haben den Tunnelblick und verlieren ihn erst dann wieder, wenn das grelle Licht im Zuschauerraum aufleuchtet. Dann blinzeln wir und schauen uns ein wenig benommen um: Was jetzt?

Die Bühne unserer Tage steht im Londoner Stadtteil Westminster, und das Drama, das dort aufgeführt wird, lässt an Spannung, Abgründen und Überraschungsmomenten nichts zu wünschen übrig. Wir schauen tragischen Helden und listigen Schurken zu, wie sie ihr Spiel vorantreiben, wir sehen vertrackte Verwicklungen und eine Handlung, die wie gottgegeben stets die schlechteste aller denkbaren Wendungen zu nehmen scheint. Irgendwann in dem Tohuwabohu haben wir die Orientierung verloren, wer eigentlich der Held und wer der Übeltäter ist, aber darauf kommt es angesichts des immer schneller drehenden Spannungskarussells auch nicht mehr an.

Oder?

Nehmen wir uns heute Morgen einen Moment Zeit und wagen wir, kurz bevor das Brexit-Drama seinen endgültigen Höhepunkt erreicht, einen Blick zurück. Lenken wir ihn weg von London und hinüber in die EU-Hauptstadt Brüssel. Lassen wir einen Augenblick lang die strauchelnde Premierministerin, die Brexit-Jubler und das Planungschaos in der britischen Regierung beiseite. Stellen wir uns die einfache Frage: Hat die EU zu wenig unternommen, um die Briten in der Union zu halten?

Sicher, mit ihren ständigen Sonderwünschen, ihrer Geld-zurück-Leier, ihrer Blockade einer strikten Finanzmarktkontrolle und einer europäischen Sicherheitspolitik haben die Briten in den vergangenen Jahren ganz schön genervt. Aber wenn man grundsätzlich davon ausgeht, dass ein Staatenbund mit mehr potenten Mitgliedern stärker ist als mit weniger, erst recht in einer globalisierten Welt, dann ist der Abschied der Briten ein großer Verlust. Nicht umsonst haben fast alle Staats- und Regierungschefs der verbleibenden EU-Staaten den Brexit aufrichtig bedauert.

Aber haben sie auch genug dagegen getan?

Manchmal lohnt es sich, den Blick zu weiten und einen Sachverhalt aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Gestern führte mich mein Weg in die schöne Schweiz, was immer eine gute Idee ist, weil dort nicht nur nette Menschen leben, sondern weil sie auch nüchterner auf die Weltlage blicken als wir es hierzulande oft tun. Dort fragt sich mancher kluge Kopf: Warum um alles in der Welt haben die Briten, aber auch die EU-Staaten den Austrittsprozess derart überstürzt? Wie soll man in zwei Jahren trennen können, was in Jahrzehnten zusammengewachsen ist?

Loading...
Symbolbild für eingebettete Inhalte

Embed

Spätestens jetzt, kurz vor dem Ende der vergeigten Brexit-Verhandlungen, wissen wir: Binnen zwei Jahren durchzupauken, wofür man bei nüchterner Betrachtung eher fünf, sieben oder zehn Jahre gebraucht hätte – eine komplizierte politische und wirtschaftliche Entflechtung –, das grenzt an einen kollektiven Kamikazeflug. Erst recht, wenn man es mit einer Regierung zu tun hat, die selbst nicht so genau weiß, was sie eigentlich will. Warum hat kaum jemand diese viel zu kurze Frist ernsthaft hinterfragt? Warum gaukeln uns die großen europäischen Staatsmänner und -frauen Juncker, Barnier, Merkel, Macron und Co. vor, dass das Schauspiel nur so ablaufen und nur so lange dauern darf, dass dies der einzig gangbare Weg sei? Warum haben sie nicht rechtzeitig die Notbremse gezogen; warum haben sie sich selbst und den irrlichternden Briten nicht mehr Zeit gegeben, um Streitpunkte wie den Backstop für Nordirland so auszuhandeln, dass er das Parlament passiert? Es mag eine subjektive Sicht sein, aber der Eindruck lässt sich nicht aus der Welt schaffen, dass Herr Juncker, Frau Merkel und ihre Kollegen die Briten bewusst unter Zeitdruck hielten und so das Drama anheizten – um den Insulanern, aber auch allen anderen "Problemländern" von Ungarn bis Italien zu zeigen: Aus der EU-Familie auszuscheren tut richtig, richtig weh! Und es gereicht dem Scheidenden am Ende auf jeden Fall zum Nachteil.

Nur dem Scheidenden? Nun ja. Ich möchte den Bogen nicht überspannen, aber da der Morgen noch frisch ist, nehme ich den Mund jetzt mal etwas voller und behaupte: Der Brexit schadet der EU mindestens ebenso sehr wie Großbritannien. Wir lassen ein Land gehen, das Atommacht ist und im UN-Sicherheitsrat sitzt, das eine starke Finanzwirtschaft und große Erfahrung in der Weltdiplomatie besitzt, das zwei der besten Universitäten der Welt beherbergt und obendrein eine enorm produktive Populärkultur. Wir verabschieden uns von einem Volk, dessen Exzentrik uns manchmal staunen lässt, aber dessen Weltgewandtheit, Coolness und großartiger Humor noch viel öfter eine enorme Bereicherung darstellen.


Ist es das alles wert? Sicher, die Briten bleiben Europäer, aber die EU wird nach ihrem Austritt ärmer sein. Und womöglich hätte sich das ganze Drama glimpflicher entfaltet, hätten die Strategen in Brüssel und London sich mehr Zeit gegeben, über all die Streitpunkte, aber auch das Für und Wider des Austritts zu diskutieren. Vielleicht wäre vielen Briten dann die enorme Frustration erspart geblieben, die sie nun erst recht in ihrem negativen Urteil über die EU bestätigt. Vielleicht hätten wir nach ein, zwei Legislaturperioden sogar fähigere Herrschaften an den Machthebeln in London gesehen, die ihren Landsleuten die gravierenden Nachteile des Brexits schlüssig erklärt und den letzten Akt des Dramas in eine versöhnliche Wiedervereinigung umgelenkt hätten. Hätte, hätte, Fahrradkette.

Leider leben wir nicht im Konjunktiv, sondern im Indikativ. Und dort führen uns die großen und kleinen Chefs in London und Brüssel gerade die Kakophonie des letzten Akts vor. Weil sich Theresa May nicht durchsetzen kann, stimmt das britische Parlament heute über Alternativen zu ihrem Austrittsabkommen ab. So bleibt uns nur zu hoffen, dass bald der Vorhang fällt und wir uns wieder erbaulicheren Themen widmen können. Aber trauern um verpasste Chancen, das dürfen wir schon.

Loading...
Loading...
Loading...
Täglich mehr wissen

Abonnieren Sie kostenlos den kommentierten Überblick über die Themen, die Deutschland bewegen. Datenschutzhinweis


WAS STEHT AN?


Es gibt Orte, da trennt die EU von Afrika nur ein Zaun: Die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla befinden auf dem afrikanischen Kontinent, der für Europa lange keine große Rolle mehr spielte. Nicht einmal drei Prozent des Welthandels entfallen auf Afrika. Doch in den vergangenen Jahren ist Afrika für die EU-Staaten interessanter geworden, weil die meisten Flüchtlinge und viele andere Migranten aus afrikanischen Staaten kommen oder afrikanische Staaten passieren. Und weil China sich dort breit macht. Entwicklungsminister Müller spricht vom "Chancenkontinent", die Kanzlerin sagte vor bald einem Jahr, Europa müsse die Migration so regeln, "dass man auch in Afrika und anderswo daran glaubt, dass uns Werte leiten … oder aber niemand wird mehr an unser Wertesystem glauben, das uns so stark gemacht hat."

Was bedeutet das konkret? Heute könnten wir es erfahren, das Bundeskabinett befasst sich mit der Weiterentwicklung der afrikapolitischen Leitlinien. Darin geht es um Frieden, Wirtschaftspolitik, Migration und die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft. Dafür reist eigens der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian nach Berlin – was passt, weil eine bessere Zusammenarbeit mit Afrika eine der wenigen Gemeinsamkeiten der Europa-Papiere von Emmanuel Macron und CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer ist.

Was allerdings auffällt: Die Kolonialverbrechen, die europäische Staaten in Afrika begangenen haben, spielten in den bisherigen afrikapolitischen Leitlinien keine Rolle. Der Kolonialismus tauchte dort nicht einmal auf. In einem Entwurf für die neuen Leitlinien, der unserem Reporter Jonas Schaible vorliegt, heißt es immerhin, man werde die Vergangenheit "aufarbeiten". Das gelte auch für den Umgang mit "Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten". So kann man Beutekunst auch nennen. Von hierzulande lagernden Gebeinen, von Kunstschätzen, aber auch von der Anerkennung der Gräueltaten und eines Völkermords in Südwestafrika ist nicht die Rede. Afrika und Europa trennt mehr als nur ein Zaun und ein Meer.


Auch über Rüstungsexporte wird die Bundesregierung heute mit dem französischen Außenminister sprechen. Die Koalition will bis Sonntag entscheiden, ob sie den kompletten Rüstungsexportstopp für Saudi-Arabien verlängert, der nach dem Mord am Regierungskritiker Jamal Khashoggi verhängt wurde. Frankreich und Großbritannien halten nichts davon, weil so gemeinsame Rüstungsprojekte ausgebremst werden. Ich erlaube mir zu sagen: Hoffentlich bleibt Merkel da hart.


Teller, Trinkhalme, Luftballonhalter: Das EU-Parlament stimmt heute Abend über das Verbot von Einweg-Plastikprodukten ab. Na, das ist doch mal sinnvoll.


WAS LESEN?

Erlauben Sie mir bitte eine Frage: Wer prägt Ihr Bild von Politik, vom Handeln der Parteien, des Parlaments und der Regierung? Bisher spielten Medien dabei eine Schlüsselrolle: Journalisten stellen kritische Fragen, decken Skandale auf, klopfen den Mächtigen auf die Finger. Doch nun versuchen die Mächtigen immer stärker, primär ihre eigenen Botschaften und Sichtweisen unters Volk zu bringen – ohne lästige Nachfragen. Von der CDU über die SPD und die FDP bis zur AfD: Der Trend ist eindeutig. Und fragwürdig. Die Kollegen der ARD haben das Phänomen unter die Lupe genommen. Kritisch natürlich.


Apropos Medien: Die öffentlich-rechtlichen Sender haben in den vergangenen Jahren viel Kritik einstecken müssen, mal mehr, mal weniger berechtigt. Sowohl die Berichterstattung als auch die Gebühren als auch die Versorgungsposten stehen im Feuer. Hinzu kommt der digitale Wandel, der alle Redaktionen herausfordert. Wie müssen öffentlich-rechtliche Medienhäuser heute aufgebaut und organisiert sein, damit sie der digitalen Realität gerecht werden? Der Schweizer Journalist Konrad Weber hat dazu ein lesenswertes Manifest verfasst.


Und noch mal Medien: Falls Sie nach der gestrigen Entscheidung des Europaparlaments zum Urheberrecht ebenso viele Fragezeichen im Kopf und Runzeln auf der Stirn haben wie ich, schauen Sie doch mal erstens in diesen Erklärtext meiner Kollegin Laura Stresing und zweitens diesen Kommentar der ZDF-Kollegin Kristina Hofmann.


WAS AMÜSIERT MICH?

Okay, das EU-Parlament hat also auf Druck der Verlagslobby das unselige Reformmonster verabschiedet. Schöne Bescherung. Aber was haben wir nun davon? Schnell mal unseren Experten Mario Lars fragen:

Ich wünsche Ihnen einen erfüllten Tag.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

Den täglichen Newsletter von Florian Harms hier abonnieren.

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...



TelekomCo2 Neutrale Website