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Angela Merkel: Orientierungslose Regierung – Deutschland braucht einen Plan


Was heute wichtig ist
Deutschland braucht einen Plan

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 27.11.2019Lesedauer: 7 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Angela Merkel bevorzugt einen Führungsstil der kleinen Schritte.Vergrößern des Bildes
Angela Merkel bevorzugt einen Führungsstil der kleinen Schritte. (Quelle: imago images)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Führung kann verschiedene Formen annehmen. Eine davon ist der Pragmatismus: Plötzlich aufkommende Herausforderungen werden mit kurzfristigen Lösungen beantwortet. In schnell wechselnden Situationen kann diese Methode durchaus erfolgreich sein. Eine zweite Form ist der Langmut: Man wartet einfach so lange, bis sich alle anderen Akteure auf eine Lösung für das anstehende Problem geeinigt haben, und schließt sich dann der Mehrheitsmeinung an. Die dritte Form wird uns im Comic "Asterix und Kleopatra" vorgeführt: Die Mächtigen überschütten alle, die sie belohnen (oder ruhigstellen) wollen, mit Unmengen an Staatsknete. Und wenn sich jemand beschwert, schütten sie eben noch mehr hinterher. Dann ist Ruhe im Karton.

(An dieser Stelle war ursprünglich ein Bild aus dem Comic "Asterix und Kleopatra" zu sehen.)

Angela Merkel und ihre Bundesregierungen haben alle drei Methoden zur Perfektion gebracht. Taucht plötzlich ein gravierendes Problem auf (ein explodiertes Atomkraftwerk in Japan, aus Ungarn kommende Flüchtlinge), handelte sie pragmatisch und kurzfristig (Atomausstieg, Grenzen offen lassen). Den brenzligen Situationen geschuldet, erschienen solche Ad-hoc-Entscheidungen durchaus nachvollziehbar, ließen die Frage nach dem "Und dann?" aber geflissentlich in der Orientierungslosigkeit versacken. Die Grenzen blieben monatelang geöffnet, die Energiewende blieb Stückwerk.

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Auch die zweite Form der Führung beherrscht die Bundeskanzlerin aus dem Effeff: Seit sie im Jahr 2003 bei der Gesundheits-Kopfpauschale eine herbe Niederlage gegen ihre eigenen Leute einstecken musste, hat Merkel im politischen Alltag die Methode des Abwartens zu hoher Kunst entwickelt. Ob Steuer-, Justiz- oder Sozialreform: Merkel wartet einfach so lange, bis sich die Streithähne in ihrer Koalition und den Parlamentsfraktionen zusammengerauft haben, dann pflückt sie den Kompromiss vom Schlachtfeld der Erschöpften und präsentiert ihn als ihren Erfolg. Ist das Thema zwar wichtig, aber zugleich so komplex, dass sich niemand ernsthaft darum kümmern will, sitzt sie es eben so lange aus, bis die Legislaturperiode vorbei ist und wieder ein Wahlkampf mit neuen Themen ansteht. So hat Deutschland jahrelang Herausforderungen wie die Digitalisierung und die europäische Sicherheitspolitik verbummelt.

Auch Methode drei durften wir zuletzt ausgiebig in Merkels großer Koalition studieren. Digitalpakt Schule, Gute-Kita-Gesetz, Starke-Familien-Gesetz, Grundrente, solidarische Pflege, starke Bundeswehrtruppe: Alles super Namen für super Projekte, die super viel Geld kosten. "Die Groko ist eigentlich eine Grogeko: eine große Geldausgebekoalition", schrieb ich vor drei Monaten an dieser Stelle. "Was in die Kasse sprudelt, wird schnellstens umverteilt." Der Bundeshaushalt 2020, den die Großkoalitionäre diese Woche im Bundestag verabschieden, ist der größte, den das Land je gesehen hat: 362 Milliarden Euro schütten CDU, CSU und SPD aus ihrem Füllhorn unters Volk. In ihrer Spendierlaune haben die drei Regierungsparteien auf den letzten Metern auch noch geschwind beschlossen, fast 100 Millionen Euro für die "Computerspielförderung" und für die "Förderung der Zustellung von Abonnementzeitungen und Anzeigenblättern" hinzublättern. Man fragt sich ja, was als nächstes kommt. Die “Jedem-Bürger-seinen-Gartenzwerg-Förderung“ vielleicht oder die “Förderung des Andenkens an die ausgestorbene Schriftsetzerkunst“? Auch da ließen sich bestimmt noch ein paar Milliönchen versenken. Zählt man zu denjenigen Bürgern in unserem Land, die den Steuersäckel durch ihre Arbeitskraft füllen müssen, kann einem in diesen Tagen durchaus die Zornesröte ins Gesicht steigen.

Wie ginge es anders? Es gibt nicht nur drei Methoden der Führung. Es gibt noch eine vierte. Sie erfordert zunächst viel Mühe, Hirnschmalz und Überzeugungsarbeit – aber dann kann sie erfolgreicher und nachhaltiger sein als alle anderen Methoden zusammen: das Führen mit Plan. Mit klarem Kompass. Man definiert langfristige Ziele, von denen man wiederum Wegmarken ableitet, die man ausführlich erklärt. Wieder und wieder und wieder. So weiß jeder Bürger jederzeit, woran er ist, und jeder Minister und jeder Beamter, welchen Weg er im Zweifelsfall einschlagen muss. Konrad Adenauer hatte so ein Ziel mit der Westbindung, und er erläuterte jedem, der nicht bei drei auf dem Baum war, warum Westdeutschland in der Nachkriegszeit unbedingt auf sie angewiesen war. Willy Brandt verfolgte so ein langfristiges Ziel mit seiner Ost-Entspannungspolitik, und Gerhard Schröder mit seinen Sozialreformen ebenfalls. Helmut Kohl fiel das Ziel der deutschen Einheit quasi in den Schoß, und er war so klug, ihm alle anderen politischen Vorhaben unterzuordnen.

Angela Merkel hingegen hat sich jahrelang jeder strategischen Debatte verweigert, wohin sie Deutschland eigentlich führen will. Ihr genügt "ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben". In einer Welt, die sich durch Globalisierung, Digitalisierung, Klimakrise, Bevölkerungswachstum und Migration schneller verändert als je zuvor, reicht so ein triviales Motto gerade mal bis zur nächsten Landtagswahl. Da lauern dann die bösen Wähler und malen ihren Unmut in Kreuzchen auf den Wahlzettel.

Noch einmal: Wie ginge es anders? Die politischen Berater der Bundeskanzlerin, die Referenten ihrer Minister und die Redenschreiber der Abgeordneten sind ungleich klüger als Newsletter-Autoren, daher kann hier nur ein Gedanke, nicht seine Ausgestaltung notiert werden. Aber wie wäre es denn, so banal es klingen mag, würde sich die Bundesregierung folgende Ziele setzen:

Deutschland soll dauerhaft eine tolerante, aber wehrhafte Demokratie bleiben, die den technologischen Fortschritt im Dienste des Menschen gestaltet und die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen zur obersten Maxime erhebt. Es setzt sich aktiv für den Frieden in der Welt ein und unterstützt großzügig Notleidende. Wer hier lebt, muss sich jederzeit an Recht und Gesetz halten; Verstöße werden sofort geahndet. Als Grundlage unseres Wohlstands dürfen Bildung und sozialverantwortliches Unternehmertum nicht durch bürokratische Regeln behindert werden.

Stünden Ziele wie diese über allen anderen (und sicher fehlen hier noch einige), würden wir in einem anderen Land leben. Dann würden wir die Chance wahren, unseren Kindern und Enkeln eine intakte Umwelt zu hinterlassen. Dann müssten sofort Hunderte absurde Steuerregeln und sinnlose Verwaltungsvorschriften eingestampft werden, die vielen Firmen das Wirtschaften erschweren. Kriminelle – ob Schlägertypen, Rechtsradikale, Mafia-Clans, Menschenhändler, Steuerhinterzieher oder Abgasbetrüger – würden mittels einer Null-Toleranz-Strategie in die Schranken gewiesen. Sogar in Berlin. Der schädliche Bildungsföderalismus würde abgeschafft und durch ein bundesweites System ersetzt, das sich an sozialen Kompetenzen und den Ansprüchen der internationalen Arbeitswelt orientiert. Deutsche Diplomaten würden den Ausgleich mit Russland suchen, statt sich darauf zu beschränken, Putins Mafiaregime anzuprangern. Deutschland dürfte keine einzige Waffe mehr exportieren, würde aber die humanitäre Hilfe für Krisenregionen wie den Südsudan als politisches Top-Thema anpacken. Es würde die Menschenrechtsverletzungen der chinesischen Regierung in Xinjiang offen ansprechen, wohl wissend, dass eine selbstbewusste Ingenieursnation von den Pekinger Politbürobossen eher respektiert wird als ein ängstlicher Bittsteller, der die Augen vor dem Unrecht verschließt und den Schwanz einzieht. Auch würde die Bundesregierung der Telekom den Ausbau des Handynetzes mittels spionageanfälliger Sendemasten aus China untersagen – was sie sich erlauben könnte, da sie die Digitalisierung der Republik gemäß ihres Plans ja schon vor Jahren angepackt hätte.

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Hätte, hätte, Fahrradkette. Ja, so eine Utopie schreibt sich schnell, wenn man unbelastet von der Bürde eines politischen Amtes Ideen in die Tasten hämmern darf. Sicherlich ist manches zu naiv und einiges auch zu stürmisch gedacht. Aber ich halte es da mit dem französischen Dichter Alphonse de Lamartine: "Das Zaudern, das oft in ruhigen Zeiten nützlich ist, bringt in unruhigen Zeiten den Untergang." Betrachte ich die turbulenten Entwicklungen unserer Zeit, dann scheint mir, wir haben in Deutschlands Führungspositionen derzeit allzu viele Zauderer.


Bei der Stange bleiben. Nicht zu schnell das Handtuch werfen. Ausdauer. Es gehört zu den größeren Herausforderungen beim Großziehen von Kindern, ihnen die Fähigkeit zum Durchhalten, gegebenenfalls auch zum Durchbeißen zu vermitteln. Denn der Mensch an sich ist von Haus aus nicht mit der nötigen Konsequenz ausgestattet, was vermutlich jeder bestätigen kann, der nach Silvester schon einmal mit guten Vorsätzen ins neue Jahr gestartet ist und im Frühjahr deren klägliche Halbwertszeit betrachtet hat. Was kann da helfen? Sich immer wieder erinnern, warum man weitermachen will. Sich aufs Neue motivieren, und zwar regelmäßig. Damit man beim Marathon über die Ziellinie kommt. So auch heute.

Nur geht es diesmal nicht ums Abnehmen, das Üben eines Musikinstruments oder den Besuch in der Muckibude. Heute geht es – ja, nicht zum ersten Mal – ums Ganze. Auf zwei Grad müssten wir den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur begrenzen, damit die Klimakrise auf unserem schönen Planeten noch irgendwie kontrollierbar bleibt. Wollen wir nicht mit dem Feuer spielen, sollte es sogar deutlich weniger sein. Von diesem begrenzten Budget, das haben wir seit gestern Schwarz auf Weiß, haben wir in Deutschland schon mehr als drei Viertel verfeuert. Seit 1881 ist die Lufttemperatur hierzulande bereits um 1,5 Grad angestiegen, quitiert uns der neue Klimabericht der Bundesregierung. Obendrein nimmt das Tempo dieses Anstiegs dermaßen zu, dass wir 20 Prozent davon allein in den vergangenen fünf Jahren durchgebrannt haben. Wir sind im Inferno-Modus unterwegs.

Dass das so nicht weitergehen kann, braucht uns eigentlich niemand mehr zu erklären. Anhaltende Trockenheit und Hitzewellen erleben wir inzwischen fast jedes Jahr. Alte und Kranke sind am Härtesten betroffen, die Zahl der Toten in Deutschland geht in die Tausende. Wir wissen es. Wir wissen aber auch, dass beständiger Druck auf die Politik nötig ist, damit der Kampf gegen die existenzbedrohende Krise auf der Prioritätenliste nicht doch wieder nach unten rutscht und unbequeme Maßnahmen auf die Zeit nach den nächsten Wahlen vertagt werden. So wie zum Beispiel ein effektiver CO2-Preis. So wie zum Beispiel eine Regel, dass alle Gesetze auf ihre Klimaverträglichkeit geprüft werden müssen. So wie der Sport, den wir uns an Silvester mal vorgenommen hatten. Wir müssen dranbleiben und unsere Bequemlichkeit überwinden. Ist gesünder für uns. Und für unsere Kinder. Außerdem brauchen die gute Vorbilder.


WAS STEHT AN?

Das Europäische Parlament wählt heute voraussichtlich die neue EU-Kommission von Ursula von der Leyen. Der Bundestag debattiert über den Bundeshaushalt 2020. Das Bundeskriminalamt befasst sich auf seiner Herbsttagung mit der Hasskriminalität im Internet. Das Weltstrafgericht in Den Haag urteilt über die Berufung des kongolesischen Warlords Jean-Pierre Bemba.


WAS LESEN?

Wie gehen Diebe bei einem so dreisten Juwelenraub wie in Dresden vor? Larry Lawton kann die Frage beantworten. Einst galt er als berüchtigtster Juwelendieb Amerikas, heute arbeitet er als Berater für die Polizei. Den Kollegen der "Süddeutschen Zeitung" hat er erklärt, warum die Dresdner Diebe vermutlich schon vor dem Einbruch einen Käufer für ihre Beute hatten.


WAS AMÜSIERT MICH?

Klischees können ganz schön hartnäckig sein.

Ich wünsche Ihnen einen ersprießlichen Tag. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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