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Clemens Tönnies: Die gute Seite der Selbstherrlichkeit


Was heute wichtig ist
Die gute Seite der Selbstherrlichkeit

MeinungVon Florian Wichert

Aktualisiert am 02.07.2020Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Ein Mann des Volkes: Clemens Tönnies im Fanblock.Vergrößern des Bildes
Ein Mann des Volkes: Clemens Tönnies im Fanblock. (Quelle: RHR-Foto/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier kommt der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

"Blau-weiß oder Schwarz-gelb?" Mit dieser Frage begrüßte Clemens Tönnies einen damaligen Kollegen und mich zu einem Interviewtermin in einem Konferenzraum seiner Fleischfabrik in Rheda-Wiedenbrück. Er wollte wissen, ob wir mit seinem Klub Schalke 04 sympathisieren oder möglicherweise mit dem Erzrivalen Borussia Dortmund. "Weder noch. Blau-Gelb", antwortete ich. Das sind die Farben meines Heimatvereins Eintracht Braunschweig (Der ist übrigens am gestrigen Abend in die zweite Liga aufgestiegen – Juhu!). "Hauptsache keine Zecken", erwiderte Tönnies. "Zecke" ist die in Gelsenkirchen übliche Beleidigung für Anhänger des BVB.

Der Interviewtermin ist Jahre her. Schon damals stand Tönnies in der Kritik, weil der FC Schalke 04 drohte, die Europapokalplätze zu verpassen. Die Probleme damals? Ein Witz gegen die heutigen. Vorgestern verkündete Tönnies seinen sofortigen Rückzug von allen Ämtern – nach 26 Jahren bei Schalke. Der wichtigste Posten: der des Aufsichtsratschefs. Der Verein hat 16 Spiele hintereinander nicht gewonnen, die Fan-Proteste wurden immer heftiger. Und Tönnies ist nach dem Corona-Ausbruch in seiner Fabrik zu einem der meistgehassten Menschen in Deutschland geworden.

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Gestern verlängerte das nordrhein-westfälische Gesundheitsministerium die Quarantäne für Menschen, die beim Tönnies-Schlachthof in Rheda-Wiedenbrück gearbeitet haben oder in einer der Gemeinschaftsunterkünfte leben – um zwei Wochen bis zum 17. Juli. Der Betrieb bleibt vorerst weiter geschlossen. Bundesweit werden Menschen aus der Region angefeindet, nachdem das Land Nordrhein-Westfalen Gütersloh und Warendorf zurück in den Lockdown geschickt hat. Alles wegen Tönnies.

Und beim FC Schalke 04 kündigte Marketingvorstand Alexander Jobst gestern auf einer Pressekonferenz eine "neue Zeitrechnung" ohne Tönnies an: "Der heutige Tag bedeutet eine Zäsur. Ein 'Weiter so' wird es nicht geben." Drastische Sparmaßnahmen und neue, demütige Ziele sollen die Fans versöhnen. Motto: Schluss mit Größenwahn und Selbstherrlichkeit. Dafür stand auch Milliardär Tönnies.

Wie zum Beweis hatte der zu seinem Rückzug einen offenen Brief geschrieben. Es sei ihm stets eine Ehre gewesen, "diesem großen Klub über ein Vierteljahrhundert dienen zu dürfen." Nun sei seine Aufgabe allerdings, sein Unternehmen durch die schwerste Krise seiner Geschichte zu führen und seinen Beitrag zu leisten, die Fleischwirtschaft insgesamt neu aufzustellen.

Selbstkritik? Der Rassismus-Skandal vor einem Jahr? Die Ausbeutung osteuropäischer Arbeitskräfte? Die Zustände in den Unterkünften? Das System mit Werksarbeiterverträgen und Subunternehmen? Das fehlende Interesse an Tierschutz, Arbeitsschutz und Pandemie-Bekämpfung? Diese Punkte sparte er in dem Brief aus. Wie auch die Tatsache, dass Tönnies selbst die aktuellen Zustände in der Fleischwirtschaft ganz maßgeblich zu verantworten hat. Wenn auch unter den Augen der Politik, die ihn ewig gewähren ließ und sich nun ganz plötzlich empört.

Selbstherrlich eben. Der Kotelett-Kaiser. Der Fleischbaron.

Dazu passt auch ein altes Video, das vor wenigen Tagen in sozialen Netzwerken auftauchte. Tönnies performt darauf den Song "Mein Ding" von Udo Lindenberg. Es ist vielleicht unfair, ihm den musikalisch sehr gelungenen Auftritt in der aktuellen Situation um die Ohren zu hauen. Aber es ist auch unfair, osteuropäische Arbeitskräfte auszubeuten. Und der Auftritt passt einfach zu gut ins Bild.

Ist also alles schlecht an Clemens Tönnies? Nein. Es ist keine Frage, dass die schlimmen Zustände in der Firma und auch in der gesamten Fleischwirtschaft nicht einfach aufzuwiegen sind. Aber: Die Selbstherrlichkeit hat auch eine gute Seite.

Tönnies hat zwar auch die Schalker Fans von Beginn gespalten – aber einem beträchtlichen Teil der Anhängerschaft hat er es leicht gemacht, sich mit dem Verein und ihm an der Spitze zu identifizieren. Nicht nur, weil er Dortmund-Fans "Zecken" nennt und die Sprache der Schalker spricht. Sondern auch, weil er für einen großen Teil der Fans durchaus ein Kumpel war. Ein Malocher. Einer von ihnen, der sie nicht im Stich lässt. Der handelt, wenn es sein muss – zum Wohle des Vereins. Der beim Heimspiel schon mal mitten im Fanblock steht, greif- und ansprechbar ist. Und der die Anhänger zumindest von besseren Zeiten träumen ließ.

Was in Bayern das "Mia san Mia" ist, das verkörperte Tönnies in etwas kleinerem Rahmen auf Schalke. Deshalb sind auch nicht alle auf Schalke überzeugt davon, dass der Tönnies-Rückzug gut für den Verein ist. Zum Beispiel die Vereinslegende Klaus Fischer im Gespräch mit t-online.de. Und selbst die Tönnies-Kritikerin Kornelia Toporzysek schlägt im Gespräch mit Dominik Sliskovic versöhnliche Töne an: "Menschlich tut er mir auch leid, weil er sich in einer persönlich sehr schwierigen Situation befindet."

In der Nach-Tönnies-Ära klingt es bei Schalke schon jetzt weniger nach Ruhrpott-Deutsch, wenn Marketingvorstand Jobst sagt, er sei "committed", die Aufgabe anzugehen. Und wenn Sportvorstand Jochen Schneider sagt: "Träumen dürfen wir nicht mehr." Dann stellt "RP Online" zurecht fest: "Schalke ist nicht für Technokraten, sondern für große Träumer erschaffen worden. Ein Zufluchtsort für die Malocher aus der Region, die dort für 90 Minuten abschalten konnten." Dem Verein drohe nun ein Absturz wie anderen Traditionsklubs, zum Beispiel dem Hamburger SV.

Ist der Rückzug von Tönnies richtig gewesen? Ja, natürlich. Dennoch hat sich ein Mann wie Tönnies eben auch nicht aus heiterem Himmel mehr als ein Vierteljahrhundert bei einem der größten Bundesligisten in der Verantwortung gehalten. Selbstherrlichkeit hat eben auch eine gute Seite.


"Stabilität, Sicherheit, Wohlstand und ein würdevolles Leben der Menschen können wir nur über eine Entwicklung absichern – nur zusammen und nur mit Ihnen." So warb der russische Präsident Wladimir Putin im russischen Fernsehen für seine geplante Verfassungsänderung. Mit Erfolg, wie der gestrige Abend ergab – wenn man Berichte über Manipulationen und Einschüchterungen außen vor lässt.

Putin zementiert seine Langzeitherrschaft und verschafft sich noch mehr Macht in einem Staat, der nun völlig auf ihn ausgerichtet ist. Mit der Volksbefragung hat er sich im Schatten von Corona die Macht im Land für die nächsten 16 Jahre gesichert. In seiner Analyse schreibt mein Kollege Patrick Diekmann: "Damit steuert Putin sein Land immer mehr in eine Richtung, die an die politischen Verhältnisse der Sowjetunion erinnert." Putin bis zum Tod.


WAS STEHT AN?

Sie kennen die weltberühmte Hagia Sophia in Istanbul. Die Kirche. Oder ist sie eine Moschee? Moment. Ein Museum? Egal, mag man meinen. Aber von wegen! Der Status der einstigen Hauptkirche des Byzantinischen Reiches ist nicht weniger als ein Politikum. Nach der Eroberung von Konstantinopel (heute Istanbul) wurde sie 1453 von den Osmanen von einer Kirche in eine Moschee und 1934 dann zum Museum umgewandelt.

In der Türkei gibt es seit langem Bestrebungen, das Gebäude wieder in eine Moschee zurück umzuwandeln. Heute könnte das Oberste Verwaltungsgericht den Weg dafür frei machen. Das würde allerdings vor allem Griechenland wegen der Bedeutung der Hagia Sophia für die Orthodoxie verärgern und die Diskussionen nicht beenden, sondern neu anfachen. Auch die USA haben sich eingeschaltet.


Insgesamt 1.900 Spiele hat der SV Werder Bremen seit dem Bestehen der Bundesliga dort absolviert. So viele wie kein anderer Fußballverein – nicht einmal der FC Bayern. Der stieg nämlich erst 1965 in die Bundesliga auf und gehört im Gegensatz zu Bremen nicht zu den Gründungsmitgliedern. Werder stieg zwar einmal ab, allerdings auch gleich wieder auf.

Bleibt es nun vorerst bei den 1.900 Spielen, weil Werder Bremen absteigt? Verabschiedet sich nach dem Hamburger SV der nächste große Nordklub aus der ersten Liga? Das entscheidet sich in zwei Relegationsspielen zur Bundesliga gegen den etwas weniger renommierten 1. FC Heidenheim. Das Hinspiel findet heute um 20.30 Uhr statt (den Liveticker finden Sie bei t-online.de). Nachdem sich Werder am letzten Spieltag erst in die Entscheidungsspiele gerettet hat, wäre alles andere als ein Bestehen eine Sensation.


Falls Sie heute zufällig in der Kölner Innenstadt unterwegs sind und Ihnen dort nackte oder halbnackte Radfahrer entgegenkommen, gibt es dafür eine einfache Erklärung: Es handelt sich um den zweiten "Cologne Naked Bike Ride". Dahinter verbirgt sich eine Fahrrad-Demo, bei der für mehr Schutz für Radfahrer im Verkehr protestiert wird. Die Bitte der Veranstalter lautet: "So viel Textil wie nötig, so wenig wie möglich."


WAS LESEN UND ANSCHAUEN?

Michael Roth ist nicht nur überzeugter Europäer. Seit 2013 macht er Europa auch beruflich. Im Auswärtigen Amt ist der Sozialdemokrat Staatsminister für Europa und damit gerade während der nun beginnenden EU-Ratspräsidentschaft ein wichtiger Mann. Vielleicht kennen Sie ihn auch noch vom Rennen um den SPD-Vorsitz, damals unterlag er gemeinsam mit seiner Parteigenossin Christina Kampmann bei der Mitgliederbefragung. Das Duo landete mit 16,3 Prozent der Stimmen auf Platz drei.

Im Interview mit meinen Kollegen Madeleine Janssen und Johannes Bebermeier hat Roth über die Vision der Vereinigten Staaten von Europa gesprochen, den Umgang mit Russland, den USA und Ungarnund darüber, was Moses mit EU-Politik und ihm selbst zu tun hat.


In Washington ist die Empörung groß. Mal wieder. Diesmal geht es um Geheimdienstberichte über russische Kopfgeldzahlungen auf US-Soldaten, von denen US-Präsident Donald Trump nichts gewusst haben will. Wie kann das sein, wenn er doch eigentlich jeden Morgen über neue Geheimdienstinformationen unterrichtet wird – durch den "President's Daily Brief", ist ein streng geheimes, knappes Dokument zu Themen nationaler Sicherheit? Mein Kollege Fabian Reinbold ist der Sache nachgegangen.


Waren Sie gestern schon einkaufen, um von der gesenkten Mehrwertsteuer zu profitieren? Mit "Wumms" wollte Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz aus der Krise, dieses Wort nannte er bei der Vorstellung des Konjunkturpaketes der Bundesregierung, welches unter anderem die Reduzierung der Mehrwertsteuer beinhaltete. Die ist am gestrigen 1. Juli in Kraft getreten und beträgt: 16 statt 19 Prozent, beim ermäßigten Satz fünf statt sieben.

Mein Kollege Mauritius Kloft hat sich für Sie gleich ein Bild gemacht. Er war in Berlin am Alexanderplatz unterwegs und hat unter anderem eine Rentnerin getroffen, die sich zwar ein neues Telefon gekauft hat, allerdings noch wenig von dem angekündigten Wumms dabei verspürt hat. Lesen Sie selbst.


Unilever, Coca-Cola und andere Milliardenkonzerne verkündeten vergangene Woche, vorerst keine Anzeigen mehr auf Facebook und Twitter schalten zu wollen. Grund: der Umgang von Facebook mit kontroversen Beiträgen, zumeist rassistischer oder hetzerischer Natur. Bisher verfolgte Facebook-Chef Mark Zuckerberg die Devise: so wenig einmischen wie möglich.

Nach dem Weggang der Werbekunden ändert sich diese Einstellung. Das klingt nach einer guten Nachricht, doch unsere Kolumnistin Nicole Diekmann findet: Dieser Schritt kommt viel zu spät. In ihrer Kolumne kritisiert sie Zuckerbergs "Salamitaktik" und entblößt die Abgründe von Social Media anhand der Verschwörungstheorie "Pizzagate".


WAS AMÜSIERT MICH?

Angst vor der zweiten Corona-Welle?

Ich wünsche Ihnen einen sonnigen Tag. Morgen schreibt mein Kollege Daniel Fersch an dieser Stelle.

Ihr

Florian Wichert
Stellvertretender Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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