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Proteste in den USA: Donald Trump schürt die Angst des Mittelstandes


Was heute wichtig ist
Hochmut kommt vor dem Fall

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 02.09.2020Lesedauer: 8 Min.
Meinung
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Demonstranten verbrennen Puppen von George W. Bush und seiner Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice während einer antiamerikanischen Demonstration in Bagdad im Jahr 2008.Vergrößern des Bildes
Demonstranten verbrennen Puppen von George W. Bush und seiner Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice während einer antiamerikanischen Demonstration in Bagdad im Jahr 2008. (Quelle: imago images)

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WAS WAR?

Im Süden herrschen Armut, Not und Konflikte, im Osten regieren Autokraten und Diktatoren, im Norden ist es kalt und langweilig – aber im Westen leuchtet die Fackel der Freiheit und Demokratie: Ungefähr so sah das westliche Weltbild jahrzehntelang aus. Sicher, das ist ein wenig überspitzt, aber das sind Weltbilder ja immer. Was hat der Westen im Lichte dieses Sendungsbewusstseins alles geleistet! Demokratieaufbau, Pluralismus und Meinungsfreiheit. Soziale Marktwirtschaft, Kulturexport und die europäische Einigung. Hilfe für Katastrophenopfer, Hungernde und Unterdrückte. Eine stolze Bilanz. Was hat der Westen im Lichte dieses Sendungsbewusstseins alles angerichtet! Kriege für Öl und Geld. Dreiste Lügen, um die Kriege zu rechtfertigen. Unterstützung von Diktatoren und Menschenschindern. Waffenlieferungen in Krisengebiete. Folter von Gefangenen und Morde per Drohne. Stacheldraht gegen geflüchtete Frauen, Kinder und Männer. Eine beschämende Bilanz.

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Wer sich zu einer Gemeinschaft hinzurechnet, der schöpft Kraft aus verbindenden Prinzipien, genießt den Schutz des Kollektivs und besitzt die Macht, über Schwächere zu entscheiden. Der will aber mitunter auch stärker erscheinen, als er es in Wahrheit ist. 45 Jahre lang lieferte sich der Westen mit dem Ostblock einen Wettstreit um die Vorherrschaft in der Welt. Dann hatte er den Gegner endlich totgerüstet und durfte triumphieren. Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama rief das "Ende der Geschichte" aus, viele Kriegsgewinnler in Amerika und Europa applaudierten ihm begeistert. Am 11. September 2001 war dann auch das Ende der Geschichte zu Ende, und die westliche Supermachtzentrale in Washington stellte entsetzt fest, dass ein vollkommen unterschätzter Gegner sie bis ins Mark verletzen konnte. Also zog sie in den "Krieg gegen den Terror", propagierte den "Demokratie-Export", verkämpfte sich erfolglos in Afghanistan und stürzte den Irak ins Chaos. Aus den Ruinen des Saddam-Regimes erhob sich der "Islamische Staat", dessen Strategen sich in amerikanischen Gefängnissen radikalisiert hatten. Millionen Flüchtlinge, aber auch viele Banditen und Terroristen aus dem irakischen Trümmerfeld strömten nach Syrien und trugen mindestens ebenso sehr zum Fall der Assad-Diktatur bei wie die Weltfinanzkrise ab 2007. Als Syrien brannte, flohen wiederum Millionen Menschen in die umliegenden Staaten, wo viele bis heute unter erbärmlichen Bedingungen ihr Leben fristen. Andere kamen weiter und standen schließlich im Jahr 2015 vor der deutschen Grenze, weil Ungarns Premier Orban die Kanzlerin ausgetrickst hatte. Die meisten suchten Rettung oder eine bessere Zukunft. Manche suchten aber auch den Tod, ob im Pariser Club "Bataclan" oder auf dem Berliner Weihnachtsmarkt.

Man mag solche Kausalketten für holzschnittartig halten, und das sind sie zu einem gewissen Grad sicher auch. Aber ganz falsch sind sie nicht. Wenn der Westen in den vergangenen Jahrzehnten eines bewiesen hat, dann das: Mit guten Absichten kann man unfassbares Unheil anrichten. Und mit Zynismus, der sich das Mäntelchen guter Absichten umhängt, erst recht. Unter den Folgen der imperialen Hybris, der ideologischen Verblendung und der krassen Fehlentscheidungen des Westens in den Jahren nach 2001 leiden noch heute Millionen Menschen. Auch den absurden Aufstieg des Scharlatans, der sich gegenwärtig im Weißen Haus breit macht, kann man zu einem Gutteil als Folge dieses historischen Versagens deuten. Nicht alle Staaten, die sich der westlichen Hemisphäre zurechnen, haben jeden Mist mitgemacht, den sich US-Präsidenten, Geheimdienste oder Großkonzerne ausdachten. Aber alle haben bis heute mit den Folgen zu kämpfen: Im Nahen Osten, in Nordafrika, auf dem Mittelmeer, in ihren Vorstädten, manche auch in ihren Parlamenten. Seine größten Probleme hat sich der Westen selbst eingebrockt – und dabei dem Aufstieg des chinesischen Imperiums zu wenig Beachtung geschenkt, was sich nun bitter rächt.

Was folgt daraus? Vielleicht dies: Der Westen ist nur so stark wie es seine Werte sind – vorausgesetzt, er hält sich selbst daran. Verhält er sich widersprüchlich oder verletzt er seine eigenen Prinzipien, wird er unglaubwürdig, instabil und orientierungslos. Umso leichter fällt es dann seinen Gegnern, seine Schwächen auszunutzen – egal, ob die in Peking, Moskau oder Ankara sitzen.

Trifft diese Diagnose zu oder kann man die Dinge auch ganz anders sehen? Niemand könnte diese Frage hierzulande besser beantworten als der führende deutsche Staatshistoriker Heinrich August Winkler. Also haben mein Kollege Marc von Lüpke und ich ihn zum Gespräch gebeten. Wir veröffentlichen es nicht grundlos an diesem 2. September. Heute vor 75 Jahren endete mit der Kapitulation Japans der Zweite Weltkrieg, und die USA stiegen zur westlichen Führungs-Supermacht auf. Heute aber ist Amerika ein krankes Land, zerrüttet von politischen Grabenkriegen, gebeutelt von der Corona-Krise, mit einer gespaltenen Gesellschaft und einem Anführer, der die Welt tagtäglich in Entsetzen versetzt. In diesem Zustand haben die USA ihren Anspruch als Führungsnation verwirkt. Steht der Westen also vor dem Niedergang? Auch das haben wir Professor Winkler gefragt. Seine Antworten lege ich Ihnen an diesem wichtigen Tag ans Herz.


WAS STEHT AN?

An das folgende Fernsehinterview werden Sie sich sicher nicht erinnern. Damals, im Bundestagswahlkampf 2017, als Angela Merkel ihr Amt gegen Martin Schulz von der SPD verteidigte und im Studio einem Interviewer Rede und Antwort stand. Es war eine seltsame Szene, als sie über ihren Konkurrenten herzog:

Bundeskanzlerin: Schauen Sie sich an, was um uns vorgeht. Schulz – nun, ich mag ihn nicht mal erwähnen, denn Schulz steuert nichts.

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Interviewer: Wer, denken Sie, zieht die Fäden an der Marionette Schulz? Sind es ehemalige Schröder-Funktionäre?

Bundeskanzlerin: Leute, von denen Sie noch nie gehört haben. Leute, die in den dunklen Schatten sind. Leute, die...

Interviewer: Was heißt denn das? Das hört sich nach einer Verschwörungstheorie an: dunkle Schatten.

Bundeskanzlerin: Nein. Leute, von denen Sie nichts gehört haben. Das sind Leute, die auf der Straße sind, es sind Leute, die die Straße kontrollieren. Wir haben einen, der in einer gewissen Stadt ins Flugzeug gestiegen ist, dieses Wochenende. Und das Flugzeug war komplett vollgepackt mit Schlägertypen, die dunkle, schwarze Uniformen trugen, mit Ausrüstung und sonst was. Die waren in einem Flugzeug! Die...

Interviewer: Wo war das?

Bundeskanzlerin: Das werde ich Ihnen irgendwann sagen. Es laufen gerade Ermittlungen. Aber sie kamen aus einer gewissen Stadt... Und die Person im Flugzeug war unterwegs zu unserem Parteitag, und da waren noch so sieben Leute im Flugzeug wie er, aber ansonsten waren viele Leute im Flugzeug, die großen Schaden anrichten wollten.

Wenn Ihnen dieser Wortwechsel spanisch vorkommt, weil Angela Merkel solchen Unsinn nie und nimmer über die Lippen brächte, dann haben Sie recht. Aber der Dialog selbst ist echt und die Situation vergleichbar, nur die Namen sind geändert. Der Mann, der hier wirklich das Wort führt, zieht in seinem Verschwörungsgeschwurbel nicht über Martin Schulz her, sondern über Joe Biden, den Kandidaten der Demokraten im US-Präsidentschaftswahlkampf. Sie ahnen es: Das Gespräch fand im Weißen Haus statt, und der Präsident brachte noch manch anderen wirren Gedanken darin unter. Biden und seine Leute hätten die Kontrolle über die "radikale Linke" verloren, einer Horde von Gewalttätern, denen die Demokraten sich anbiedern würden. Er, Trump, halte die linke Gefahr in Schach. Noch. "Irgendwann werde ich nicht mehr Präsident sein. ... Und sie werden sterben. Sie werden alle sterben."

Es ist ein Leichtes, den US-Präsidenten als Spinner, Lügner und Manipulator vorzuführen. Nur erklärt es wenig. In vielen Wohnzimmern in Amerika nicken die Menschen zu dem Irrsinn, den Sie oben gelesen haben. Gewiss, das hat mit der Propaganda in radikalen TV-Sendern zu tun, wo der Präsident sein Geschwurbel kritiklos verbreiten darf. Doch daran allein liegt es nicht. Um zu verstehen, warum Herr Trump noch immer so viele Amerikaner erreicht, schauen wir am besten nach Kenosha in Wisconsin. Inzwischen ist das Städtchen weltbekannt. Dort hat die Polizei einen Schwarzen zusammengeschossen. Dort tötete ein Mitglied einer rechtsradikalen Gang zwei Demonstranten. Jetzt ist Herr Trump dort zu Besuch, wohl wissend, dass seine bloße Anwesenheit die Flammen weiter anfachen wird.

Es sind diese Flammen, die das konservative Amerika umtreiben. In Kenosha verschaffte sich nicht nur geordneter Protest Gehör, es war zugleich die ungebändigte Gewalt der Straße zu sehen. Plünderungen. Brennende Häuser. "Die Zerstörung ist stellenweise total", schreibt der Korrespondent der britischen "Sunday Times" nach einem Rundgang durch den Ort. "Große Teile der Stadt sind von einem Kriegsgebiet nicht zu unterscheiden." Seine Fotos sind bestürzend.

In den Vororten der USA, wo der Mittelstand zu Hause ist, lebt auch die Angst vor dieser entfesselten Gewalt. Uns im fernen Deutschland ist dieses Gefühl nicht fremd. Erinnern Sie sich an den Schock und die Empörung, als der G20-Gipfel in Hamburg Protestierende aus ganz Europa anzog, die Autos anzündeten und Straßen verwüsteten? Diese Zerstörungen sind nur ein blasser Abklatsch dessen, was in den USA bei Unruhen in Flammen aufgeht. Die Angst davor verleiht Herrn Trump seine Flügel. Unablässig malt er das Bild einer radikalen Linken an die Wand, die den Mob entfesseln und ganz Amerika in ein Inferno verwandeln werde. Jedes Mal, wenn ein Protest gegen Polizeibrutalität in Gewalt umschlägt, gewinnt der Hetzer im Weißen Haus Stimmen hinzu, wie unser Korrespondent Fabian Reinbold analysiert. Nicht minder helfen ihm linke Aktivisten, die sich an ihrer moralischen Überlegenheit berauschen und Durchschnittsbürger drangsalieren. Das Unrecht, das Afroamerikanern widerfährt, gerät darüber ebenso aus dem Blick wie die Corona-Krise, die Donald Trump sonst den Wahlsieg kosten kann.

Es kann uns nicht egal sein. Auf Joe Bidens Wahlsieg sind wir in Europa dringend angewiesen, wenn wir in vier Jahren noch eine Nato haben und der Klimakrise etwas entgegensetzen wollen. Der demokratische Kandidat hat die Plünderungen scharf verurteilt. Er weiß: Die Ängste – auch die irrationalen – darf man nicht beiseite wischen und den Brandstiftern überlassen. Sonst tun sich die Verunsicherten mit den Wirrköpfen zusammen. Kommt Ihnen das bekannt vor? Genau, von diesem Gedanken sollten wir uns auch in Deutschland eine Scheibe abschneiden.


WAS LESEN?

Noch nie war die Bundeswehr so lange im Inland im Einsatz: Mehrere Monate lang haben Soldaten in Rheinland-Pfalz versucht, den sterbenden Wald zu retten. Mein Kollege Lars Wienand hat sie an der Borkenkäferfront besucht.


Wenn Sie ein Stück Fleisch oder Wurst essen, dann sehen Sie ein leckeres Gericht. Was Sie nicht sehen, ist die brutale Gewalt, mit der Rinder und Schweine in manchen Schlachtbetrieben zu Tode gequält werden. Wer das einmal mitbekommen hat, der verändert sein Ernährungs- und Einkaufverhalten. Überwinden Sie sich also bitte und sehen Sie sich dieses Video meiner Kollegen Tim Blumenstein und Adrian Röger an. Aber erst nach dem Frühstück.


Nun soll ein Bundestags-Untersuchungsausschuss den Wirecard-Skandal untersuchen. Das erschütterte Vertrauen der Deutschen in den Aktienmarkt wird er aber wohl kaum kitten, berichtet unser Wirtschaftschef Florian Schmidt.


Der Besuch des chinesischen Außenministers in Berlin darf uns nicht täuschen, meint FDP-Chef Christian Lindner in seinem Gastbeitrag. Das Regime in Peking fordere Gefolgschaft ohne Widerspruch – und das deutsche Appeasement gefährde unsere Freiheit.


WAS AMÜSIERT MICH?

Martin Sonneborn ist ja nicht nur ein begnadeter Satiriker, er schreibt auch sehr flott. Dementsprechend liest sich seine Abrechnung mit der deutschen EU-Politik.

Ich wünsche Ihnen einen flotten Tag. Morgen schreibt mein Kollege Peter Schink den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Freitag wieder.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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