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Was macht Angela Merkel eigentlich jetzt?


Tagesanbruch
Das hat kein anderer geschafft

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 05.11.2021Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Der Countdown bis zu Merkels Amtsende läuft.Vergrößern des Bildes
Der Countdown bis zu Merkels Amtsende läuft. (Quelle: Florian Gaertner/picture alliance / photothek/obs)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

die letzten Wochen sind angebrochen. Jetzt ist jeder Termin und jeder Besuch das letzte Mal. Die anderen Mächtigen auf dem G20-Gipfel in Rom applaudierten ihr stehend. Emmanuel Macron hat ihr im Burgund einen rührenden Empfang bereitet und sie zum Abschied innig liebkost: "Frankreich liebt Dich!" Sie war sichtlich gerührt. Lange hat sie sich schwergetan mit dem endgültigen Abschied von der großen Bühne, aber jetzt weiß sie: Es muss sein. Loslassen. Die anderen ans Ruder lassen. Wenn alles läuft wie geplant, dann ist sie in einem Monat raus. Sie will ihr Haus geordnet übergeben, deshalb bindet sie Olaf Scholz und dessen Leute schon jetzt in alle wichtigen Themen ein, die man eben auf dem Schreibtisch hat, wenn man der mächtigste Mensch Europas ist.

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Das ist keinesfalls selbstverständlich in der von Rivalitäten, Eitelkeiten und Machtkämpfen durchzogenen Welt der Spitzenpolitik. Aber sie will es so. Will es anständig machen. Angela Merkel ist drauf und dran, zu schaffen, was keiner ihrer männlichen Vorgänger geschafft hat: aus freien Stücken, geordnet und ohne Groll aus dem Bundeskanzleramt zu scheiden. In einer Demokratie mag das nach einer Selbstverständlichkeit klingen, ist es aber beileibe nicht. Macht ist verführerisch, und in der einen oder anderen Form ist ihr jeder Staatschef erlegen. Am Ende schieden alle ihre Vorgänger mit Makeln aus der Regierung aus: weggemobbt, abgewählt oder über Skandale gestolpert.

Sie nicht. Sie tritt in Würde ab und erfreut sich in der Bevölkerung immer noch enormer Popularität. Man muss hier nicht die Anerkennung wiederholen, die ihr an früherer Stelle im Tagesanbruch gewidmet wurde, aber man kann durchaus noch einmal feststellen: Trotz mancher schwerer Fehler und Versäumnisse ist nach Merkels knapp 16-jähriger Kanzlerschaft eine überwiegend positive Bilanz zu ziehen. In einer Zeit permanenter Krisen hat sie das Land auf Kurs gehalten, die Mehrheit der Bürger lebt in Stabilität, Wohlstand und Sicherheit. Angesichts der Zerwürfnisse andernorts in Europa und auf der Welt, eingedenk all der Orbáns, Morawieckis, Salvinis, Trumps, Erdoğans und Putins ist das bemerkenswert.

Dennoch kann man Fragen zu Frau Merkels Wirken stellen, und am besten stellt man sie einer Kollegin, die sich monatelang akribisch mit dem Leben und Handeln der ersten deutschen Kanzlerin beschäftigt hat: Unsere geschätzte Kolumnistin Ursula Weidenfeld hat ein fesselndes Buch über Angela Merkels Regierungszeit geschrieben: "Die Kanzlerin. Porträt einer Epoche". Fragen wir also die Autorin, was wir heute Morgen wissen wollen:

Wie hat es Angela Merkel geschafft, so lange an der Macht zu bleiben?

Ursula Weidenfeld: Sie hat ihre Partei zu einer Regierungs- und Machtpartei der Mitte gemacht, die mit nahezu jeder anderen Partei – außer der AfD und der Linken – koalieren konnte. Dafür hat die CDU ihr konservatives Profil aufgeben müssen. Aber sie blieb 16 Jahre lang die Partei, gegen die keine Mehrheit im Bundestag zu schmieden war.

Und welche Eigenschaften zeichnen Frau Merkel als Politikerin aus?

Intelligenz, Misstrauen und die Geduld, erst im letzten möglichen Moment zu entscheiden – wenn alle anderen schon gesagt haben, was sie wollen. Angela Merkel verbirgt ihre eigenen Vorstellungen und schlüpft in die Rolle der ehrlichen Maklerin der Interessen.

Wie hat sie sich dabei in den knapp 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft verändert?

Angetreten ist sie mit einem liberalen Programm zur Reform von Wirtschaft und Gesellschaft. Davon ist nichts übrig geblieben. Ihre eigenen politischen Ziele hat sie dem Wähler nie wieder zur Entscheidung vorgelegt. Stattdessen hat sie dem Land nur versprochen, es gut zu regieren. Franz Müntefering hat dazu einmal gesagt: Wenn man mit Angela Merkel in ein Flugzeug steigt, weiß man, dass man sicher landen wird. Man weiß nur nicht, wo.

Was ist Merkels größte politische Leistung als Bundeskanzlerin?

Sie hat im Sommer 2015 die Eurozone zusammengehalten, als Griechenland schon fast draußen war. In Krisen hat sie immer gezeigt, was sie kann: die Nerven behalten, bis zum letzten Moment verhandeln und dann entscheiden. Im Rückblick sind das die Eigenschaften, die Europa in seinen kritischsten Momenten stabilisiert haben.

Und was war ihr größtes Versäumnis?

In Krisen gut zu reagieren, aber die Sache danach schleifen zu lassen. Bei der Finanz-, der Euro- und der Migrationskrise hat sie die akute Situation immer sehr gut bewältigt – danach aber viel zu wenig Energie aufgewendet, um das Land widerstandsfähiger zu machen. Das gilt auch und vor allem für die Klimakrise.

Welche Rolle hat sie für die Emanzipation von Frauen in der Politik gespielt?

Dass eine ganze Generation von Mädchen und Jungen sich heute fragt, ob eigentlich auch ein Mann Kanzler werden kann, beweist, dass die Kanzlerin vor allem als Rollenvorbild gewirkt hat. Als Feministin hat sie sich selbst nie empfunden, wenn sie auch als Frauenministerin im Kabinett Helmut Kohls ihr Erstaunen über die konservative westdeutsche Männer-CDU nie verbergen konnte.

Ist Frau Merkel also eine so große Kanzlerin wie Willy Brandt und Helmut Kohl?

Schwere Frage. Angela Merkel fehlen große politische Leistungen, wie es die Ostpolitik für Willy Brandt oder die Wiedervereinigung für Helmut Kohl waren. Sie ist vielleicht eher mit Helmut Schmidt zu vergleichen. Ich glaube ja, dass sie eine moderne Antwort für die Rolle Deutschlands in Europa und in der internationalen Politik entwickelt hat: sich seiner Stärke bewusst zu sein und dennoch nicht anmaßend und dominierend aufzutreten. Ich bezweifle allerdings, dass das reicht, um am Ende in den Geschichtsbüchern als "große Kanzlerin" gelobt zu werden.

Letzte Frage: Was wird Angela Merkel wohl in den kommenden Jahren machen?

Keine Ahnung. Sie weiß es ja nicht einmal selbst. Viele denken, dass sie sich irgendwann für den Klimaschutz engagieren wird, dass sie vielleicht ein Buch schreibt oder ein paar Semester an einer amerikanischen Spitzenuniversität lehren könnte. Aber wie gesagt: Niemand weiß es.


Schwieriges Schweden

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Während Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seine zweitägige Norwegen-Visite beendet, wird SPD-Kanzler in spe Olaf Scholz heute in Schweden erwartet: Der Noch-Finanzminister will auf dem Parteitag der schwedischen Sozialdemokraten in Göteborg sprechen. Dort kann er nicht nur die Stärke der Sozialdemokratie in Nordeuropa beschwören, sondern auch seiner Amtskollegin Magdalena Andersson gratulieren: Die Finanzministerin wurde gestern als Nachfolgerin des amtsmüden Ministerpräsidenten Stefan Löfven zur neuen Parteivorsitzenden gewählt.

Wenn alles nach Plan läuft, werden sich die beiden dann auch künftig auf Augenhöhe begegnen, nämlich als Regierungschefs: Die 54-jährige Ökonomin Andersson soll auch diesen Posten zeitnah von Löfven übernehmen und als erste Frau das Land führen. Dafür allerdings dürfte sich bei einer Abstimmung im Parlament keine Mehrheit gegen sie aussprechen, was bei der komplexen Gemengelage im schwedischen Reichstag noch schwieriger zu organisieren ist als eine deutsche Ampelkoalition: Die rot-grüne Minderheitsregierung benötigt derzeit die Unterstützung der liberalen Zentrumspartei und der ex-kommunistischen Linkspartei, die in wesentlichen Fragen nahezu unvereinbare Positionen haben und beide noch Zugeständnisse für ihre Stimmen aushandeln wollen. "Svår" sagt man dazu in Schweden.


Vier gewinnt

Apropos Schweden: Heute veröffentlicht das Popquartett Abba sein erstes Studioalbum seit 40 Jahren. "Voyage" heißt die Reise zurück ins Rampenlicht und passt trefflich zu einem weiteren Comeback, das morgen bevorsteht: der Jubiläumsausgabe von "Wetten, dass ..?". Geradezu zwingend also, dass Björn Ulvaeus und Benny Andersson dann auf der Couch neben Thomas Gottschalk Platz nehmen werden. Unsere Unterhaltungschefin Ricarda Heil sitzt ein paar Meter weiter.


Schlitzohr im Dauereinsatz

Anders als sein Chef Boris Johnson zeichne er sich durch Detailwissen und eine ruhige Art aus, heißt es über David Frost. Das sind Eigenschaften, die er in seinem Job gut brauchen kann: Der Brexit-Minister eilt derzeit von einem Konfliktherd zum nächsten. Gestern noch weilte er in Paris, um den französisch-britischen Streit über Fischereilizenzen im Ärmelkanal beizulegen, heute trifft er in Brüssel den für den Brexit zuständigen EU-Kommissar Maroš Šefčovič, um über das Nordirland-Protokoll zu verhandeln. In dem Abkommen ist festgehalten, dass Nordirland weiterhin den Regeln des EU-Binnenmarkts unterworfen ist, sodass Waren frei über die grüne Grenze zum EU-Mitglied Irland bewegt werden können. Weil Großbritannien jedoch den Binnenmarkt verlassen hat, sind seitdem Kontrollen für britische Güter in nordirischen Häfen notwendig. Herr Frost möchte nun das von ihm selbst ausgehandelte Protokoll aussetzen und eine neue Vereinbarung mit Brüssel treffen. "Rascal" nennt man so einen in England.


Was lesen?

Wie viele andere Spitzenpolitiker reiste auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen per Flugzeug zum Klimagipfel – und zieht damit und mit weiteren Flugreisen harsche Kritik auf sich. Meine Kollegin Heike Aßmann findet das ungerechtfertigt.


Rund 40 Prozent aller Lebensmittel werden nicht gegessen, sondern weggeworfen – was dem Klima schadet. Welche Lösungsansätze es gibt und wer dabei mitmachen muss, erklären die Kollegen der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".


Der Flughafen Frankfurt-Hahn ist insolvent. Die Menschen vor Ort in Lautenhausen wollen die Pleite als Chance nutzen, berichtet unser Reporter Mauritius Kloft.


In Wolfsburg herrscht dicke Luft: Mal wieder ist Volkswagen-Boss Herbert Diess mit der eigenen Belegschaft aneinandergeraten. Warum es immer wieder kracht, erläutert Ihnen unsere Wirtschaftsredakteurin Nele Behrens.


Was amüsiert mich?

Klimaschutz muss halt konsequent sein.

Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Freitag. Der Wochenend-Podcast setzt noch einmal aus, aber ich darf Ihnen Hoffnung machen: Bald kommt er zurück. Bis dahin mögen Sie sich vielleicht die Zeit mit dieser entspannten Musik vertreiben, die ich während des Tippens dieser Zeilen wiederentdeckt habe.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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