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Angela Merkels Krisenmanagement: Anfangs hurra, später so lala


Tagesanbruch
Merkels vielleicht größter Fehler

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 03.12.2021Lesedauer: 7 Min.
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Kanzlerin mit Zapfenstreich verabschiedet: Bei der Zeremonie bekam Angela Merkel wässrige Augen. (Quelle: Reuters)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

so geht eine Ära zu Ende: Ein kalter Winterabend im Zentrum von Berlin, Temperatur um den Gefrierpunkt, Fackelschein auf den Fassaden. Auf dem Hof vor dem Bendlerblock stehen Bundeswehrsoldaten in Reih und Glied, sitzen ein paar Dutzend Gäste, steht die Kanzlerin. Schwarzer Mantel, kurze Rede. "Unsere Demokratie lebt von der Fähigkeit zum kritischen Austausch und zur Selbstkorrektur", sagt Angela Merkel und nennt die großen Herausforderungen unserer Zeit: "den Klimawandel, die Digitalisierung, Flucht und Migration." Sie wünscht ihrem Nachfolger, dem "lieben Olaf Scholz alles, alles Gute, eine glückliche Hand und viel Erfolg". Er möge sich mit "Fröhlichkeit im Herzen an die Arbeit machen". So habe auch sie selbst es stets gehalten. Als die Kapelle "Du hast den Farbfilm vergessen" intoniert, hat sie Tränen in den Augen. 19 Jahre war sie jung, als Nina Hagen den Schlager durch die DDR trällerte.

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16 Jahre lang hat Angela Merkel die Geschicke des wiedervereinigten Deutschlands gelenkt. Sie hat Erfolge errungen und Niederlagen weggesteckt und dabei mehr Zähigkeit bewiesen als die meisten ihrer politischen Weggefährten. Er habe "niemand anderen erlebt, der über einen so langen Zeitraum so viel gearbeitet hat", sagt ihr früherer außenpolitischer Berater Christoph Heusgen. "Es war immer wieder unglaublich zu sehen, wie sie mit als Letzte ins Bett gegangen und als Erste wieder aufgestanden ist." So habe Merkel "von morgens bis abends voller Energie, mit Fleiß und Hingabe alles für ihr Amt gegeben – wenn sie sich mal einen halben Tag die Woche gönnte, war das viel".

Wer lang regiert, wird mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Angela Merkel hat jahrelang im Krisenmodus gearbeitet. Das setzte ihr zu, aber es war ihr womöglich nicht ganz unrecht. "Krise war der Aggregatzustand der Politik, der Merkel am besten lag", schreibt die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". "In der Finanz- und Eurokrise konnte sie ihre Stärken ausspielen: ihren analytischen Verstand, ihren vernunftbetonten Pragmatismus sowie die Fähigkeit, in schwierigen Situationen Ruhe zu bewahren – und diese auch auszustrahlen."

Tatsächlich dürfte ihre geradezu stoische Ruhe das Erfolgsgeheimnis gewesen sein, dank dem sie plötzliche Eskalationen meistern konnte. Wenn alle Welt kopflos umherrannte und Alarm schrie, blieb sie besonnen und suchte Auswege. Meistens fand sie sie. Das war stark. Weniger stark war, was dann oftmals folgte: Hatte sie die unmittelbare Notlage beigelegt, verlor sie die Dinge aus den Augen, ließ sie laufen, wandte sich anderen Dingen zu. Zu Beginn ihrer Regierungszeit inszenierte sie sich als Klimakanzlerin. Doch als sie feststellte, dass mit dem Thema kein Blumentopf zu gewinnen war, ließ sie es fallen und widmete ihm allenfalls in Sonntagsreden noch ein paar Sätze. Es war vielleicht der größte politische Fehler, der hierzulande in den vergangenen Jahren begangen worden ist. Wäre die Bundesregierung schon damals konsequent auf einen klimafreundlichen Kurs umgesteuert, müsste sie jetzt nicht in halsbrecherischem Tempo und für zig Milliarden Euro die Versäumnisse der Vergangenheit wettmachen, wäre die deutsche Solarbranche nicht zusammengebrochen, könnte die Bundesrepublik heute womöglich mehr moderne Energietechnik in die ganze Welt exportieren und anderen Ländern beim Umstieg helfen. Wäre, hätte, könnte.

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Digitalisierung: Auch die fand Angela Merkel immer irgendwie wichtig, doch das Deutschland, das sie ihrem Nachfolger überlässt, ist ein digitales Entwicklungsland. Vielerorts Funklöcher, fehlendes Wlan in Schulen, mit Faxgeräten hantierende Gesundheits- und Bürgerämter, genervte Bürger: Den Rückstand aufzuholen, wird Jahre dauern. Und teuer wird es auch.

Oder die Flüchtlingskrise 2015: Für die humane Entscheidung, die aus Budapest kommenden Kriegsflüchtlinge aus Syrien und dem Irak ins Land zu lassen, ließ Angela Merkel sich weltweit feiern. Hierzulande jubelten ihr plötzlich auch Linke zu. Und es war ja auch richtig. Nicht so richtig erschien allerdings ihre Entscheidung, die deutschen Grenzen anschließend monatelang geöffnet zu lassen, sodass auch Hunderttausende Migranten aus Nordafrika und Afghanistan einreisen konnten. Viele Bürgermeister und noch viel mehr Bürger fühlten sich überfordert. Aber da war Frau Merkel schon wieder auf der nächsten Baustelle unterwegs: Nun galt es, die freie Welt gegen Donald Trump zu verteidigen.

Auch zu Beginn der Corona-Pandemie hat die Kanzlerin entschlossen gehandelt und harte Entscheidungen durchgesetzt. Anders als in der Flüchtlingskrise bemühte sie sich diesmal sogar darum, den Bürgern ihre Entscheidungen ausführlich zu erklären. Ihre Fernsehansprache im März vergangenen Jahres wird in die deutsche Geschichte eingehen. In der zweiten und dritten Viruswelle scheute sie keine Mühen, legte sich mit den Ministerpräsidenten an und schluckte die Kritik an der schleppenden Impfkampagne. Sie setzte im Frühjahr die "Bundesnotbremse" durch und erntete große Zustimmung in der Bevölkerung. Doch im Sommer verlor sie die Dinge aus den Augen. Plötzlich schien sie die Warnungen der Wissenschaftler nicht mehr zu hören. Oder sie hörte sie vielleicht, fühlte sich aber nicht mehr recht zuständig. Es war ja Wahlkampf, es nahte das Ende ihrer Amtszeit. Natürlich trägt Angela Merkel nicht allein Schuld daran, dass Deutschland ungebremst in die vierte Viruswelle gestürzt ist. Aber sie hat als Regierungschefin ihren Teil dazu beigetragen.

Unterm Strich lässt sich in Merkels Krisenmanagement ein wiederkehrendes Muster feststellen: Anfangs hurra, später so lala. Wobei ihre Antwort auf die Finanz- und Eurokrise die rühmliche Ausnahme bildet. Dieser Herausforderung widmete sie sich tatsächlich jahrelang mit unermüdlicher Energie – und half so, den Kontinent in stürmischen Zeiten stabil zu halten. Pikanterweise dankt man ihr das in Frankreich, Spanien und Italien mehr als hierzulande.

Mit dieser Bilanz stand sie also gestern Abend im kalten Berliner Wind, lauschte der Bundeswehrkapelle und bekam eine rote Rose gereicht. Währenddessen trudelten die neuesten Meldungen aus unserem Nachbarland Österreich ein, wo der ehemalige Bundeskanzler Sebastian Kurz von allen Parteiämtern zurücktrat – er steht unter dem Verdacht der Korruption und der Falschaussage. Wenig später trat auch noch der amtierende Bundeskanzler Alexander Schallenberg zurück – nur sieben Wochen nach seiner Vereidigung. Mitten im Corona-Sturm.

Sieht man so ein politisches Chaos, fällt der Blick auf Angela Merkels politische Bilanz gnädiger aus. In 16 Jahren hat diese Frau keinen einzigen Skandal ausgelöst, sie hat sich nicht bereichert und keine Gesetze gebrochen. In Zeiten, in denen ordinäre Egoisten wie Donald Trump und gewissenlose Karrieristen wie Sebastian Kurz die Politik in Verruf bringen, ist schon das allein eine Leistung. So gesehen: Danke für die Normalität, Frau Merkel!

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Was amüsiert mich?

Die Charaktere sind ja verschieden.

Ich wünsche Ihnen einen schwungvollen Tag. Die Tagesanbrüche am Samstag und Montag kommen von meinen Kollegen Sebastian Späth und David Schafbuch, von mir lesen Sie am Dienstag wieder.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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