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Selenskyjs Rede im Bundestag: Hätte Scholz die Blamage verhindern können?


Tagesanbruch
Hätte er die Blamage überhaupt verhindern können?

MeinungVon Florian Wichert

Aktualisiert am 18.03.2022Lesedauer: 7 Min.
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"Deutschland hat einen Anspruch darauf": Das Vorgehen des Bundestags nach der Rede von Selenskyj sorgte für viel Wirbel – auch im Plenarsaal. (Quelle: t-online)

Liebe Leserin, lieber Leser,

woran denken Sie beim Wort "Tagesordnung"? Vielleicht an Mitgliederversammlungen, Satzungen, Fristen, Abstimmungen, Verwaltung? An mitunter langatmige Reden oder Diskussionen, bei denen einem schon mal die Füße einschlafen? An Unterpunkte und Spiegelstriche? Paragrafen?

Sicherlich denken Sie an Bürokratie. Und damit wahrscheinlich auch an Deutschland.

Seit gestern ist der Begriff zudem eng verbunden mit einer besonders dunklen Stunde im Bundestag. Oder wie CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen es formulierte: mit dem unwürdigsten Moment, "den ich je im Parlament erlebt habe".

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Warum? Weil die Abgeordneten im Bundestag einfach zur Tagesordnung übergegangen sind. Und das nicht nur sprichwörtlich. Sondern tatsächlich.

Nach einer zwölfminütigen und denkwürdigen Ansprache von Wolodymyr Selenskyj. Der ukrainische Präsident tat gestern im Bundestag, was er auch schon im US-Kongress oder im britischen Unterhaus getan hat. Er schaltete sich per Video aus Kiew in das Parlament. Mitten im Krieg. Zwischen Gefechten, Sirenen und russischen Angriffen auf die Hauptstadt der Ukraine. Er redete Klartext, rüttelte auf und bat um Hilfe.

Charmant, aber doch sehr deutlich äußerte Selenskyj seine Vorwürfe. Deutschland habe Warnungen ignoriert, mit der Nato Sicherheitsgarantien verweigert, nehme seine historische Verantwortung nicht wahr, unterlasse mögliche Hilfeleistungen und finanziere durch die Abhängigkeit vom russischen Gas den Angriffskrieg auf sein Land mit. (Lesen Sie hier die Rede im Wortlaut nach.)

Deutschland befinde sich hinter einer Mauer mitten in Europa zwischen Freiheit und Unfreiheit.

Selenskyj verwendete das Wort "Mauer" 15-mal. Er weiß, welchen Schmerz die Berliner Mauer nicht nur vielen Familien der Abgeordneten im Bundestag bereitet hat, sondern dem ganzen Land – und wie er seine Zuhörerschaft damit emotionalisiert. Er sagte gen Ende: "Lieber Herr Bundeskanzler Scholz, zerstören Sie diese Mauer. Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die das Land verdient."

Da war es 9.23 Uhr und das Parlament quittierte die Botschaft mit Standing Ovations.

Vier Minuten später, um 9.27 Uhr, gratulierte die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Katrin Göring-Eckardt, den Abgeordneten Christian Görke und Joe Weingarten jeweils zum 60. Geburtstag. Um 9.29 Uhr erklärte sie, wer in den Stiftungsrat der deutschen Härtefallstiftung entsandt wird, anschließend ging es um die Stiftung "Haus der kleinen Forscher".

Den brutalen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und das "Haus der kleinen Forscher" trennten also nur sechs Minuten.

Göring-Eckardt weiter: "Die Tagesordnungspunkte 10 Buchstabe A und Buchstabe C sowie der Zusatzpunkt 16 werden abgesetzt."

Alles klar. Willkommen im Deutschen Bundestag.

Ganz beendet war das Thema Krieg gegen die Ukraine nicht.

In den folgenden 22 Minuten wurde über den Antrag der CDU/CSU-Fraktion gestritten, ob auf der Tagesordnung als erster Punkt nicht doch eine 68-minütige Debatte über Deutschlands Umgang mit dem russischen Angriffskrieg stattfinden sollte. Die wurde am Ende allerdings von den Fraktionen der SPD, FDP und Grünen abgelehnt. Man müsse die Worte Selenskyjs für sich stehen und wirken lassen.

Falls Sie nicht regelmäßig Sitzungen des Bundestags verfolgen: Es ist so absurd, wie es klingt. Es wurde ausführlich darüber debattiert, ob nicht vielleicht eine Debatte angebracht wäre, zu der es dann nicht kam.

Weiter ging es mit dem Thema Impfpflicht.

Das Echo: verheerend. Nicht nur von Röttgen und weiteren Unionspolitikern. "Lange hat sich ein demokratisches Parlament nicht mehr so blamiert", schrieb der "Spiegel". "Bild" sprach vom "Tag der Schande". Das Redaktionsnetzwerk Deutschland nannte das Schauspiel "peinlich und würdelos". (Weitere Pressestimmen lesen Sie hier.)

Und man fragt sich: Steht Deutschland sich in einer massiven Krise wieder selbst mit Tagesordnungen und Bürokratie im Weg? Hat sich der direkt von Selenskyj angesprochene Kanzler Olaf Scholz weggeduckt, statt zu antworten, wie es ein Kriegsheld verdient gehabt hätte? Oder ist am Ende die Aufregung übertrieben, die diese Rückkehr zur Tagesordnung verursacht hat?

Zumal eine Tagesordnung einem vollgepackten Tag im Bundestag eine unerlässliche Struktur verleiht. Sie schafft einen Rahmen für effizientes Arbeiten.

Auf der anderen Seite kann sie natürlich schnell zum Problem werden, wenn man sich von ihr gar nicht lösen kann. Sie verhindert Flexibilität, schränkt das Denken ein. Und ist natürlich ein Synonym für vieles, was in Deutschland seit Jahren oder gar Jahrzehnten falsch läuft. Für zu viel Bürokratie, insbesondere in Krisenzeiten.

In der Pandemie waren das in den vergangenen Jahren schon die Bund-Länder-Gipfel, Regel-Flickenteppiche oder verhinderte Impfangebote, die in anderen Ländern längst zum Standard gehörten. Im Alltag sind das seit jeher Regeln für den Straßenverkehr oder gar den eigenen Garten.

Hätte das Parlament also seine Tagesordnung über den Haufen werfen oder zumindest verändern und hätte Kanzler Scholz dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj antworten müssen?

Was wäre überhaupt eine adäquate Antwort gewesen?

Mittel im Wert von 800 Millionen Dollar, wie sie die USA nach der Selenskyj-Rede im Kongress versprachen? Unmöglich. Flugabwehrraketen, Panzerabwehrlenkwaffen, Drohnen, Granatwerfer und Gewehre? Nicht in dem Maße vorhanden wie in den USA.

Und auch die mehrfach wiederholten Forderungen von Selenskyj kann die Bundesregierung nicht oder zumindest jetzt nicht erfüllen. Ein Eingreifen der Nato würde einen Dritten Weltkrieg riskieren. Dieses Risiko würde bei einer Schließung des Luftraums über der Ukraine ebenfalls bestehen. Ab sofort gar kein Öl und Gas mehr aus Russland zu beziehen, würde dazu führen, dass Hunderttausende Menschen in Deutschland ihre Arbeit verlieren, Energiepreise explodieren und Armut droht. So erklärt es zumindest Wirtschaftsminister Robert Habeck.

Zu beteuern, dass Deutschland alles in seiner Macht Stehende für die Ukraine tun würde, wäre also schlichtweg gelogen. Eine Antwort von Scholz hätte demnach womöglich ohnehin keine adäquate sein können nach einer Rede Selenskyjs über getötete Kinder sowie zerstörte Wohnviertel, Krankenhäuser, Schulen und Kirchen.

So ging der 100. Tag der Ampel in der Regierung trotzdem als Blamage in die Geschichte ein. Ganz sicher hätte es deutlich bessere Lösungen gegeben, als direkt zur Tagesordnung überzugehen. Eine Unterbrechung zum Beispiel. Mindestens.

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Die bittere Wahrheit ist allerdings, dass Scholz und die Bundesregierung wohl ohnehin ein enttäuschendes Bild abgegeben hätten, hätten sie sich geäußert. Nun hat sie eben noch zusätzlich jegliches Fingerspitzengefühl vermissen lassen.


Bundespräsident Steinmeier im t-online-Interview

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Steinmeier startet am heutigen Freitag sein neues Format "Ortszeit Deutschland". Er will in der nächsten Zeit jeweils für mehrere Tage in diverse Regionen reisen. Bis Sonntag hält er sich im thüringischen Altenburg auf, will dort "mit Stadtverordneten sprechen, kontroverse Debattenrunden anbieten, in denen Menschen mit unterschiedlicher Meinung zusammenkommen, Kulturstätten besuchen – und auch mal in eine Kneipe gehen". Bier in Altenburg statt in Schloss Bellevue also.

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Neue Corona-Schutzmaßnahmen trotz heftiger Kritik

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Dort richtet sich Russland nicht nur gegen sein Nachbarland, sondern auch gegen die Nato. Von diesen Verwerfungen profitiert vor allem ein Land, wie meine Kollegin Nele Behrens kommentiert.


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Eigentlich glaubt der Mensch, sich die Welt mittels seiner technischen Fähigkeiten untertan gemacht zu haben. Doch dem ist nicht so, wie eine Katastrophe 1967 bewies. Was geschehen ist, lesen Sie hier.


Was amüsiert mich?

Morgen hören Sie meine Kollegin Miriam Hollstein mit meinen Kollegen Sven Böll und Sebastian Späth im Podcast mit dem Rückblick auf diese Woche.

Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Freitag und anschließend ein sonniges Wochenende.

Ihr

Florian Wichert
Stellvertretender Chefredakteur t-online
Twitter: @florianwichert

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Mit Material von dpa.

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