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Die ignorierte Gefahr – Schluss mit der Wessi-Ignoranz!


Tagesanbruch
Die ignorierte Gefahr

  • Annika Leister
MeinungVon Annika Leister

Aktualisiert am 18.05.2022Lesedauer: 5 Min.
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Robert Habeck, Brandenburgs Ministerpräsident Woidke (r.) vor der Raffinerie in Schwedt: "Jetzt müssen Taten folgen", sagte Woidke nach dem Besuch des Bundeswirtschaftsministers.Vergrößern des Bildes
Robert Habeck, Brandenburgs Ministerpräsident Woidke (r.) vor der Raffinerie in Schwedt: "Jetzt müssen Taten folgen", sagte Woidke nach dem Besuch des Bundeswirtschaftsministers. (Quelle: Frank Ossenbrink/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

das Blatt im Ukraine-Krieg scheint sich zu wenden, die Truppen von Präsident Selenskyj gewinnen Boden zurück. Selbst im russischen Staatsfernsehen, wo Propaganda sonst gern jede Wahrheit erstickt, warnte am Dienstag ein Militärexperte mit ungewohnt kritischen Worten vor der Schlagkraft der ukrainischen Armee und den Folgen der geopolitischen Isolation Russlands: "Die Welt ist gegen uns", sagte er. "Die Situation ist nicht normal."

Das ist für die Ukraine und den Westen so etwas wie ein Hoffnungsschimmer. Ein Ende des Krieges aber ist damit noch lange nicht in Sicht. Es werden weiter Ukrainer durch russische Bomben und Kugeln sterben, der Rest der Welt die sozialen Folgen von Embargos und Machtspielen unter anderem auf dem Energiemarkt spüren. In Deutschland droht diese Entwicklung einen Riss zu vertiefen, der bei Staatsakten gerne geleugnet wird, der sich aber auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung tief durch das Land zieht.

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Denn Ostdeutschland ist von den Energielieferungen aus Russland und der Ukraine in höherem Maße abhängig als der Westen des Landes. Das hat mit der geografischen Lage zu tun, aber auch mit der Sozialisierung vieler Politiker und Industrieller. In der DDR war es zum Beispiel für alle Schüler Pflicht, Russisch zu lernen. Was von Vorteil war, als billiges Gas und Öl aus Russland noch weltweit begehrt waren, entwickelt sich nun zu einem Nachteil, der zusehends verheerende Ausmaße annimmt.

Dabei geht es nicht nur um die Raffinerie im brandenburgischen Schwedt, die bisher zu 100 Prozent am russischen Öl hängt. Es geht um Chemieparks in Sachsen-Anhalt, um die Glasindustrie in Thüringen, um die Autoproduktion und die Landwirtschaft, der ohne russisches Gas der Dünger ausgehen könnte. Tausende Jobs sind potenziell in Gefahr.

Mit Blick auf die Anlage in Schwedt warnt Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bei dem geplanten Ölembargo der EU außerdem vor einer Benzinknappheit speziell in Ostdeutschland und Berlin. Es könne passieren, dass "für eine begrenzte Zeit zu wenig Öl und damit zu wenig Benzin verfügbar ist". Die Preise an den Zapfsäulen werden dann unweigerlich in nie gekannte Höhen schießen. Auch das trifft viele im Osten hart – die Zahl der Pendler ist hier besonders groß.

Die neuen Probleme gesellen sich zu alten Ungerechtigkeiten. Denn nach wie vor verdienen Arbeitnehmer im Osten deutlich weniger als Arbeitnehmer im Rest des Landes. Die Zahlen des Statistischen Bundesamts für das Jahr 2021 lesen sich bitter: 26,81 Euro erhielten Arbeitnehmer im Westen im Durchschnitt als Stundenlohn. Im Osten waren es nur 20,91 Euro. Auf eine 40-Stunden-Woche gerechnet macht das einen Unterschied von 240 Euro. Pro Monat sind es also rund 1.000 Euro weniger. Entsprechend machen sich die gestiegenen Lebenshaltungs- und Energiekosten im Osten für viele deutlicher bemerkbar als im Westen.

"Strukturschwach" wird der Osten gerne genannt. Präziser aber ist: abgehängt, vernachlässigt, ignoriert, vergessen. Die Ostdeutsche Angela Merkel hat das erst ganz am Ende ihrer 16 Jahre als Bundeskanzlerin in einer Rede in Worte gefasst, aus denen tiefe Verletzung sprach: Es sei so, als zähle das Leben vor der deutschen Einheit nicht wirklich, als sei es Ballast. "Bestenfalls zum Gewichtsausgleich tauglich, im Grunde aber als unnütze Last abzuwerfen."

Mit der Linken und der AfD adressieren diese im Osten verbreiteten Gefühle vor allem die politischen Ränder. Auch in der aktuellen Situation machen sich beide Parteien bemerkbar, fordern etwa ein Aussetzen des Ölembargos der EU für Ostdeutschland. Ganz so, als wäre dieser Teil der Republik ein eigenständiges Land.

Gerade auch bei diesem Thema wird der Riss wieder überdeutlich. Und die große Aufgabe, die nun einem Bundeskabinett zukommt, das nur mit zwei Ministerinnen aus dem Osten besetzt ist: Mit dem Weghören, Kleinreden, mit der Wessi-Ignoranz muss endlich Schluss sein. Die Bundesregierung muss die speziellen ostdeutschen Probleme erkennen, sie muss die ostdeutschen Politiker anhören, sie muss dringend vorsorgen, damit die Stimmung nicht kippt. Mit PR-Auftritten in Ölraffinerien ist es nicht getan.

Sonst droht der Osten erneut abgehängt zu werden. Arme Regionen würden noch ärmer, Menschen noch tiefer verletzt. Der Politikverdruss nähme zu – und die Populisten würden profitieren. Nicht täuschen lassen darf man sich da von den jüngsten Landtagswahlen, bei denen AfD und Linke zu den Verlierern gehörten. Denn sie fanden alle im Westen statt.

Ein Anfang wäre es, einen gern zitierten Slogan endlich wahrzumachen – und tatsächlich für "Gleichen Lohn für gleiche Arbeit" zu sorgen.

Die soziale Bombe tickt. Der Kanzler und sein Kabinett müssen sie dringender denn je entschärfen.


Was steht an?

Die Entwicklungsminister der G7-Länder (Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, Großbritannien und die USA) treffen sich in Berlin, um unter anderem über die Folgen des Ukraine-Krieges für die weltweite Ernährungssicherheit zu sprechen. Lösungen müssen dringend gefunden werden – durch Putins Krieg drohen Millionen in den Hunger zu rutschen.

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Der Kölner Kardinal Woelki hat wegen "Bild"-Artikeln in mehreren Verfahren den Axel-Springer-Verlag verklagt. Unter anderem wendet er sich gegen die Formulierung "Vertuschungsmafia" in Bezug auf die Rolle des Erzbistums im Missbrauchsskandal. Es ist ein höchst fragwürdiges Vorgehen, wenn man bedenkt, wie viele Kinder unter dem Deckmantel der kirchlichen Nächstenliebe ihrer Rechte beraubt und wie viele Klagen durch klandestine Versetzungen wohl verhindert wurden. Heute sollen die Urteile verkündet werden.

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Was lesen?

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Was amüsiert mich?

Welche Tweets in der AfD-Fraktion weitergeleitet werden, nachdem Parteichef Tino Chrupalla bei einer Pressekonferenz in Bezug auf parteiinterne Kritik eine merkwürdige Analogie zum Camping zog.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Mittwoch! Morgen kommentiert an dieser Stelle mein Kollege Johannes Bebermeier das Wichtigste des Tages für Sie.

Ihre

Annika Leister
Redakteurin Politik
Twitter: @AnnLei1

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Mit Material von dpa.

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