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Jean-Claude Juncker im Interview: So muss man mit Trump umgehen


Ex-Chef der EU-Kommission
Europa-Legende Juncker: So muss man mit Donald Trump umgehen


Aktualisiert am 04.08.2020Lesedauer: 11 Min.
Interview
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Jean-Claude Juncker in seinem Büro in Brüssel: "Diesem Haushaltsplan fehlt der zukunftsorientierte Touch."Vergrößern des Bildes
Jean-Claude Juncker in seinem Büro in Brüssel: "Diesem Haushaltsplan fehlt der zukunftsorientierte Touch." (Quelle: Valentin Bianchi / Hans Lucas)

Jean-Claude Juncker ist ein Urgestein der Europäischen Union. Er hat sogar den US-Präsidenten gebändigt. Wie er das macht und was er jetzt von den Deutschen erwartet.

Europa hat bei Jean-Claude Juncker Spuren hinterlassen. Das Stück Kohle aus Deutschland steht in der Ecke, der Familienhund trägt einen spanischen Namen. Den Fotografen und die Journalisten begrüßt er erst auf Französisch, dann versucht er es mit Luxemburgisch und schließlich auf Deutsch.

Das Büro, in dem der Ex-Kommissionschef, der Ex-Eurogruppen-Chef, der Ex-Premier von Luxemburg empfängt, liegt im Herzen des Brüsseler Regierungsviertels. Neben den malerischen Altbauten wirken die EU-Gebäude aus Glas und Stahl wie gelandete Raumschiffe. Hier fällt leicht zu verstehen, warum die Europäische Union mancherorts als Bürokratie-Ungetüm gilt – stocksteif, mit seinen zehntausenden Beamten, Karrieristen und Berufspolitikern, die schon früher jedem Neigungsgrad von Gurken an den Kragen wollten.

Juncker ist auch einer dieser Berufspolitiker, Kind eines Industriellen, gelernter Jurist. Er ist auch einer, der auf großen Polit-Gipfeln Scherze macht, Backpfeifen verteilt, vor laufender Kamera Zigaretten schnorrt und andere Staatschefs als "Diktator" begrüßt. Sehen Sie hier seine skurrilsten Momente in der Fotoshow. Ist das das Erfolgsgeheimnis des Mannes, der es vom Minister eines Landes mit der Einwohnerzahl einer mittelgroßen Kleinstadt bis hin zum mächtigen Kommissionschef der EU gebracht hat?

Wer ihn jetzt trifft, merkt, dass etwas fehlt. Wegen Corona fällt die Begrüßung etwas unpersönlich aus. Juncker, der Menschenfreund, verliert durch Social Distancing etwas von seinem Charme. Juncker ist nicht mehr Kommissionschef, nur noch Alterspräsident – ein Job, der auf seinen Vorschlag hin nach seinem Ausscheiden an der EU-Spitze entstanden ist. Sie hätten ihn ja ansonsten rausschmeißen müssen, sagt er. Bei t-online.de erklärt er, wie man es schafft, US-Präsident Donald Trump zu zähmen und warum er fassungslos auf den ersten großen EU-Gipfel ohne ihn geblickt hat.

Herr Juncker, sind Sie eigentlich besonders zäh?

Jean-Claude Juncker: Wenn Sie so pauschal fragen, antworte ich auch so pauschal: Ja!

Wenn man sich den letzten EU-Sondergipfel Mitte Juli anschaut, muss man das wohl auch sein. Es waren schwierige Verhandlungen. Mit welchen Gefühlen haben Sie diesen Gipfel verfolgt?

Das war einer der wenigen Gipfel seit 25 Jahren, an denen ich nicht teilgenommen und die ich nur in den Medien verfolgt habe. Mich hat doch sehr gewundert, dass dort fast nur noch über die Dauer des Gipfels berichtet wurde. Glauben Sie mir – es gab Gipfel, die länger gedauert haben. Insofern: Ich war erleichtert, dass es überhaupt zu einem Ergebnis kam, bin aber auch ziemlich enttäuscht, weil es so viel Streit gab.

Aber viel Streit ist in der EU doch nichts Neues!

Dass er so nach außen getragen wurde, schon. Ist das die neue Auffassung von Transparenz, dass man jedes Schimpfwort, das gewechselt wird, sofort mitteilen muss? So als wäre rhetorische Gewalt eine besondere Heldentat.

Es ging um viel Geld – vor allem um das riesige Corona-Hilfspaket. Wie bewerten Sie das Ergebnis dieses Gipfels?

Auch das hat mich teilweise enttäuscht: In vielen Bereichen wird jetzt weniger Geld zur Verfügung gestellt. Wenn ich das mit dem letzten mehrjährigen Haushaltsentwurf der Kommission aus dem Frühjahr 2018 vergleiche, dann wird hier Geld gestrichen. Und zwar beim Bildungsaustausch Erasmus, bei Gesundheit, Forschung, Verteidigung. Diesem Haushaltsplan fehlt der zukunftsorientierte Touch.

Angela Merkel bezeichnet Corona als die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie aber sagen: Da war vor allem Zoff. Zwei, die besonders quer geschossen haben, waren Sebastian Kurz und Mark Rutte. Wenn Sie bei dem Gipfel dabei gewesen wären, was hätten Sie diesen beiden gesagt?

Es ist okay, dass sie ihr Plädoyer vorgetragen haben. Aber dann hätten sie sich auf die anderen zubewegen sollen. Und zwar schnell. Diese Gipfelentscheidung hat vier Tage gebraucht. Das wäre auch nach zwei Tagen zu schaffen gewesen.

Also sind die selbsternannten Sparsamen Schuld daran, dass der Gipfel zur Zitterpartie wurde?

Es ist keine Sondererscheinung dieses Gipfels, dass es ein paar gibt, die aus der Reihe tanzen. Das tun sie, damit man zu Hause merkt, dass sie beim Tanz dabei waren.

Das alles klingt, als wäre der Gipfel in Ihrer Wahrnehmung nichts Besonderes gewesen.

Er war besonders, weil er die Folgen der schlimmsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg abmildern soll. Jeder weltweit ist davon betroffen – aber nicht jeder im selben Maße. Man müsste sich nur mal vorstellen, was an den Finanzmärkten los wäre, wenn es zu keiner Einigung gekommen wäre. Also besser diese Einigung als keine.

Lassen Sie uns mal kurz auf Ihre Nachfolgerin blicken: Ursula von der Leyen ist für ihre Sachlichkeit sehr bekannt. Sie haben immer einen herzlicheren Politikstil gepflegt. Welche Schulnote geben Sie Frau von der Leyen?

Ich rede nie über meine Vorgänger und auch nicht über meine Nachfolger. Ich finde, sie macht das gut. Sie macht es nur anders als ich.

Angela Merkel führt jetzt bis Ende Dezember die EU-Ratspräsidentschaft. Wie agiert die Kanzlerin bei solchen Gipfeln?

Sie hat keine Marotten, aber sie ist ein Gesamtkunstwerk.

Ein Kunstwerk?

Es setzt sich aus vielen Teilen zusammen: Sie ist nüchtern, sie denkt vom Ende her, sie ist aber oft auch sehr engagiert und streitet – auf freundliche Weise, zumindest im Regelfall. Die deutsche Ratspräsidentschaft ist bei ihr in guten Händen.

Aber?

Die Ratspräsidentschaft ist nicht mehr das, was sie über viele Jahrzehnte war. Es gibt seit über zehn Jahren einen Präsidenten des Europäischen Rates. Das ist im Moment Charles Michel. Das heißt: Frau Merkel leitet keine Gipfel der Staats- und Regierungschefs, das tut der Präsident. Merkel ist insofern weniger gefordert.

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Kann eine Ratspräsidentschaft unter solchen Vorzeichen überhaupt noch ein Erfolg werden?

Die Deutschen müssen jetzt liefern. Sie haben ein Programm für die Ratspräsidentschaft veröffentlicht und das werden sie auch umsetzen – mit der Hilfe der anderen. Und wenn es sein muss, wenn es um wichtige europäische Dinge geht, auch gegen die Borstigkeit anderer.

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Wie soll das denn gehen? Beim letzten Sondergipfel haben sich die Niederlande, Österreich und andere bei gemeinsamen Schulden quergestellt. In der Asylfrage blockieren vor allem Staaten in Osteuropa eine gerechtere Verteilung von Flüchtlingen. Das sind nur zwei Beispiele für eine größere Entwicklung, oder? Die größeren Staaten können nicht mehr führen, denn manche kleinen Staaten mucken auf…

Ich mag Ihre Wortwahl überhaupt nicht!

Bitte?

Wenn die Kleinen etwas sagen, mucken die auf? Was ist denn das, Groß und Klein? Die Kleinen wissen, dass sie klein sind. Die Großen merken nicht immer sofort, dass sie auch klein sind.

Ist das das neue Europa, in dem niemand mehr über die eigenen Interessen hinausdenkt?

Entweder lassen wir jetzt die nationalen Befindlichkeiten gegeneinander aufmarschieren oder wir raufen uns zusammen und marschieren in dieselbe Richtung. Ich habe Helmut Kohl öfters im Europäischen Rat erlebt. Er sagte oft: Ich bin mit dem, was hier angedacht wird, nicht einverstanden. Meine ganze Republik ist dagegen. Aber ich mache mit, weil es hier um Europa geht.

Es wirkt manchmal, als hätten so große Visionen wie die von Emmanuel Macron keinen Platz mehr in Europa – oder als wären sie unmöglich.

Macron ist der erste französische Präsident, der offensiv einen pro-europäischen Wahlkampf geführt hat. Aber nicht jeder seiner Vorschläge war zu Ende gedacht. Er wollte die Zahl der Kommissare verringern, was absolut notwendig wäre. Er wollte in der Außenpolitik mit qualifizierter Mehrheit abstimmen lassen statt mit Einstimmigkeit. All dies stieß bei den anderen Regierungen auf wenig Gegenliebe. Er wollte auch Eurobonds einführen, also als EU gemeinsam Schulden aufnehmen. Als ich das 2009 vorschlug, hat man mich ja in Frankfurt an Kreuzen festgenagelt. Jetzt kommt der Vorschlag aus Deutschland – gut.

Gibt Ihnen das eine späte Genugtuung?

Ja. Und ich habe das vorausgesehen: Wenn erstmal Spitz auf Knopf kommt, werden alle den Sinn dahinter sehen, dass die Europäische Union Schulden machen kann. Und dass alle Mitgliedsstaaten solidarisch füreinander eintreten, wenn es um die Abwicklung dieser Schuld geht.

Jean-Claude Juncker, Jahrgang 1954, stammt aus Luxemburg. Er ist studierter Jurist, hat sich aber von Anfang an als Berufspolitiker verstanden. Er gehört der konservativen Christlich Sozialen Volkspartei an und war ein guter Freund von Helmut Kohl. Er war luxemburgischer Premierminister, Finanzminister, Chef der Eurogruppe und von 2014 bis 2019 Chef der EU-Kommission.

Dafür braucht es aber den Rückhalt aus der Bevölkerung. Der ist in der EU bei weitem nicht mehr überall gegeben. Dabei gab es ein ambitioniertes Projekt: die "Konferenz zur Zukunft Europas". Da sollen sich Bürger und Politiker über Europa austauschen. Und daraus sollte echte Politik werden. Muss das jetzt nicht endlich mal gemacht werden?

Man arbeitet ja fleißig daran, das Ding zum Laufen zu bekommen. Zurzeit herrscht Streit zwischen den Institutionen, wer denn der Vorsitzende dieser Konferenz werden soll.

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Dieser Streit geht nun aber schon ein Dreivierteljahr…

Ich sage das nicht bei allem, aber hier kam Corona dazwischen. Das hat weniger wichtige Themen ausgebremst. Ich bin sehr für diese Konferenz. Ich habe schon meine eigenen Erfahrungen mit solchen Bürgerdialogen gemacht…

Was haben Sie sich anhören müssen?

Da kam vieles auf den Tisch – auch viel Unvernünftiges. Ich habe bei den Dialogen feststellen müssen, dass viele Menschen überhaupt nicht wissen, wofür die Nationalstaaten und wofür die Europäische Union zuständig ist. Damit muss ich mich dann herumärgern.

Geben Sie uns ein Beispiel.

In Malta fragte man mich, warum ich eigentlich keinen europäischen Großelterntag einführen würde. Ich musste dann behutsam erklären, dass das nicht Sache der EU ist. Derartige Beispiele gab es zuhauf.

Das klingt nach einem Appell an die Schulbildung in den einzelnen Mitgliedsländern.

Wenn ich Europa betrachte, ist das ein immer wiederkehrendes Ärgernis. Unsere Schulsysteme reagieren einfach nicht auf die europäische Wirklichkeit. Man bringt den jungen Menschen nicht bei, dass es neben dem Nationalstaat auch noch eine europäische Union gibt, die wichtige Aufgaben hat. Kaum einer weiß vom Europäischen Rat, von der Kommission. Weil man den jungen Menschen die europäische Geschichte nicht vermittelt. Das war übrigens auch schon so, als ich noch zur Schule ging. Da hat der Geschichtsunterricht bei den Etruskern aufgehört.

Was wäre mit einem verpflichtenden Schulfach “Europa”?

Ich wäre dafür. Für ein Intensivfach "Europa". Für Wissensvermehrung über die unterschiedlichen Biografien der Mitgliedsstaaten. Jedes Land hat seine eigene Geschichte. Und diese nationalen Geschichten sind nie gleichförmig.

Kann es ansonsten überhaupt noch wirkliche Europäer geben?

Wenn wir ehrlich sind, müssen wir doch zugeben, dass wir über die anderen Europäer nicht viel wissen. Was weiß denn der Sizilianer von dem Nordlappen? Was weiß der Nordlappe von dem Brandenburger? Nichts! Trotzdem haben wir als EU den Anspruch für den Lappen, für den Sizilianer und für den Brandenburger, Regeln zu erlassen, die für alle gelten – ohne dass wir wissen, was die Menschen dort im Moment umtreibt.

Führt das zu dem Vormarsch der Nationalismen, den Sie bei Ihrem Amtsende beklagt haben?

Ich mache mir Sorgen, dass dem Nationalen eine Bedeutung zukommt, die es in den 60er- und 70er-Jahren eigentlich verloren hatte.

Wo sehen Sie das?

Bei der Corona-Krise war der Anfang geprägt von Scheitern. Jedes Land und jede Regierung hat sich auf seinen nationalen Bezugsrahmen verlassen. Wie schnell kamen bitte die Grenzschließungen? Und wie unnütz waren sie? Die Pandemie hat keinen Pass.

Nationale Alleingänge sind nicht nur in Europa angesagt. Sie waren vor zwei Jahren in Washington und haben US-Präsident Donald Trump davon abgebracht, Strafzölle auf europäische Autos festzulegen. Wie haben Sie den mächtigsten Mann der Welt gezähmt?

Als ich bei ihm in den USA war, habe ich ihn nicht umgarnt, ich habe ihn auch nicht in Komplimenten ersoffen, sondern ich habe mit ihm auf gleicher Augenhöhe geredet.

Aber das werden Merkel und Macron doch ebenfalls versucht haben?

Anders als die Kanzlerin oder der französische Präsident habe ich für die damals 28 Länder der EU gesprochen. Das hat ihn beeindruckt – und er konnte mir die Zahlen, die ich im Gepäck hatte, nicht zu Fake News machen...

Sie meinen die Handelsbilanzen?

Trump hat immer über den Exportüberschuss der Deutschen geschimpft. Ich habe ihm klar gemacht, dass wenn man die Handels- und Finanzdienstleistungsbilanzen zusammennimmt, eigentlich die Amerikaner einen Überschuss haben – und nicht die Europäer.

Und warum hat er Ihnen das geglaubt?

Trump hat in der stundenlangen Sitzung zweimal lauthals gesagt: ‚Deine Zahlen sind falsch‘. Darauf habe ich nur erwidert, dass das nicht meine Zahlen seien, sondern seine. Sie kamen nämlich vom US-Statistikamt. So erfuhr Trump letztendlich auch von den Zahlen – und ließ die Zölle sein.

Sie haben ihn also mit seinen eigenen Waffen geschlagen?

Es geht nicht ums Schlagen oder Besänftigen. Es geht darum, dass wir Europäer lernen müssen, dass wir nur gemeinsam auftreten müssen, um Eindruck zu machen.

So leicht kann es doch nicht sein?

Doch, das ist es. Seit den Zoll-Gesprächen stellte er mich seiner Frau immer vor mit den Worten: 'Das ist der Jean-Claude, der ist viel mächtiger als ich. Er ist der Chef von 28 Staaten – ich nur von den USA'. Ich war nie der Chef aller Europäer, aber ich durfte im Namen aller reden.

Die EU wäre also mächtiger, wenn der Außenbeauftragte mehr Kompetenzen hätte?

Nicht nur der Außenbeauftragte. Wenn die EU in der Außen- und Sicherheitspolitik mit einer Stimme reden könnte, würden endlich die Blockaden in den internationalen Gremien aufhören. Und warum können wir nicht mit einer Stimme sprechen? Weil ein oder zwei Mitgliedstaaten – nicht immer nur die kleinen – sich den gemeinsamen Beschlüssen verweigern.

Bitte ein Beispiel.

Nehmen Sie die Genfer Menschenrechtskonvention. In der Uno sollte China wegen seiner Menschenrechtspolitik verurteilt werden – auch von der EU. Damit sind wir gescheitert, weil Griechenland sich dagegengestellt hat.

Kennen Sie den Grund dafür?

Natürlich. Die Chinesen waren gerade dabei, den Hafen von Piräus zu kaufen. So kann man keine Außenpolitik machen.

Nicht nur von außen, auch von innen gibt es autokratische Tendenzen: Sie haben Viktor Orban mal als “Diktator” begrüßt. Die polnische Regierung verhält sich ganz ähnlich wie Orban. Wie sollte man mit Diktatoren mitten in Europa umgehen?

Wir müssen Wert darauf legen, dass die Rechtsnorm etwas gilt. Und dass sie für alle gilt. Die EU ist eine rechtsfundierte Gemeinschaft. Wenn sie aufhört, das zu sein, wenn sich Teile von ihr dieser Verpflichtung nicht mehr bewusst sind, dann zerbröselt sie.

Polen und Ungarn tun schon jetzt, was sie wollen – oder nicht?

Deshalb wurden ja bereits Rechtsstaatsverfahren eingeleitet. Allerdings ist das Verfahren ein relativ zahnloser Tiger, denn es braucht einstimmige Beschlüsse. Nur eine qualifizierte Mehrheit sollte verhindern können, dass einem Land die finanziellen Mittel wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit entzogen werden. Das wollte schon meine Kommission, und die von Frau von der Leyen wollte das am Anfang auch.

Also statt Einstimmigkeit für eine Bestrafung soll eine Mehrheit gegen die Entscheidung gefunden werden.

Ja, allerdings ist es nicht dazu gekommen. Stattdessen haben wir seit dem letzten Sondergipfel nun die Situation, dass sich eine Mehrheit für ein Verfahren finden muss. Dadurch haben wir uns ein Mittel gegen die Umtriebe von Orban aus der Hand nehmen lassen.

Und Orban und Duda sind die Gewinner.

Sie lassen sich in ihrer Heimat dafür als Helden feiern, dass sie sich in diesem Punkt vermeintlich durchgesetzt haben. Das haben sie nicht – die Richtigen aber leider auch nicht. Und das besorgt mich sehr.

Wenn man Sie hier erlebt, könnte man glatt vergessen, dass Sie schon in Rente sind.

Was mache ich denn?

Sie wirken sehr geschäftig.

Ach, die Bücher. Die habe ich nur zur Deko aufgestellt.

Das glauben wir Ihnen nicht. Sie haben jetzt den Posten als "ehemaliger Kommissionspräsident" inne.

Ich berate die Kommission nur aus administrativen Gründen – man hätte mich ja sonst hier rausschmeißen müssen. Aber ich kann hier nicht nur herumsitzen und so tun, als ob. Ich bin nun Berater des Haushaltskommissars, aber ich bin nicht sein Berater. Ich berate alle, die um Rat bitten. Aber ich dränge mich da nicht auf.

Das heißt, Frau Merkel oder Herr Macron stehen vor Ihrem Büro und bitten Sie um Hilfe?

Wenn ich das tun würde, hätte ich nur noch ein paar Stunden in der Woche meine Ruhe. Nein, ich schreibe gerade ein Buch, ich lese viel und ich halte Reden. In Corona-Zeiten ist es dann eher ein telefonisches Zureden.

Herr Juncker, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Jean-Claude Juncker am 29. Juli 2020 in Brüssel
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