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Emmanuel Macrons zweite Amtszeit in Frankreich: "Sonst explodiert es"


Zweite Amtszeit in Frankreich
"Sonst explodiert es, das weiß Macron"

InterviewVon Lisa Becke

13.05.2022Lesedauer: 8 Min.
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Emmanuel Macron: Er will Veränderung für Europa und die französische Gesellschaft versöhnen. Kann das gelingen?Vergrößern des Bildes
Emmanuel Macron: Er will Veränderung für Europa und die französische Gesellschaft versöhnen. Kann das gelingen? (Quelle: Hans Lucas/imago-images-bilder)

In seiner zweiten Amtszeit steht für Macron viel auf dem Spiel am Ende könnte der französische Präsident doch noch als Verlierer in die Geschichte eingehen, sagt der Politologe Joseph de Weck im t-online-Interview.

Feierlich eingeführt wurde Emmanuel Macron bereits, am Samstag beginnt seine zweite Amtszeit als französischer Präsident nun auch ganz formell. Seine Vorhaben dafür sind groß: Er will unter anderem eine stärkere EU und die gespaltene französische Gesellschaft befrieden.

Worauf es dabei ankommen wird, erklärt der Politologe und Historiker Joseph de Weck, ein Experte für die französische Politik und Gesellschaft. Ob Macron den deutschen Kanzler in der EU vor sich hertreiben wird, ob er wirklich ein anderer Präsident für die Franzosen werden kann und was bei den in wenigen Wochen stattfindenden Parlamentswahlen für ihn auf dem Spiel steht, lesen Sie im t-online-Interview.

t-online: Herr de Weck, frisch wiedergewählt kam Macron am Montag nach Berlin zu Olaf Scholz. Im Gepäck: neue Ideen für eine andere Europäische Union. Will der französische Präsident mit einer Reform der EU in die Geschichtsbücher eingehen?

Joseph de Weck: Europa gehört schon seit langem zum Markenkern Macrons. Er will, dass die Europäer enger zusammenspannen, damit diese ihre Interessen gegenüber Großmächten wie China oder Großkonzernen wie Google durchsetzen können. Die Arbeit an diesem "souveränen Europa" will er in seiner zweiten Amtszeit noch intensivieren.

Was hat er vor?

Wenige Stunden bevor er zu Scholz kam, hielt er eine Rede in Straßburg. Da sagte er zwei Sachen – eine alte und eine neue. Was wir bereits wussten: Damit Europa selbstständiger und weniger erpressbar wird, muss die EU bereit sein, mehr Geld auszugeben. Konkret: Europa muss die Energiewende beschleunigen, um von Russland unabhängiger zu werden. Und Europa muss mehr in Rüstung investieren, um seine Verteidigungsfähigkeit auszubauen.

Und was ist neu?

Die Idee, dass es für ein handlungsfähigeres Europa nicht nur mehr Geld braucht, sondern auch andere Abläufe. Die EU muss sich auch institutionell neu aufstellen, sagt Macron. Die EU soll demokratischer gemacht werden. Beispielsweise indem das Europäische Parlament das Recht bekommen soll, selbst Gesetzesvorhaben zu lancieren. Das wäre eine große Stärkung des Europäischen Parlaments. Auch will er das Einstimmigkeitsprinzip in vielen Bereichen abschaffen…

… denn das führt dazu, dass ein einzelnes EU-Mitglied, beispielsweise Ungarn, wichtige Beschlüsse verhindern kann.

Genau. Ihm schwebt ein Mehrheitsprinzip vor – damit könnte ein Vorhaben, wie zum Beispiel Sanktionen gegen Russland oder die Harmonisierung von Steuern in der EU auch dann beschlossen werden, wenn nicht alle Länder zustimmen. Viele Blockaden wären damit aufgelöst.

Joseph de Weck, Jahrgang 1986, studierte an der London School of Economics, an der Sciences Po Paris und an der Universität St. Gallen. Gegenwärtig ist der Historiker und Politologe Europachef eines Beratungsunternehmens für geopolitische und makroökonomische Risiken. De Weck ist zudem Fellow des Foreign Policy Research Institute in Philadelphia und schreibt für "Foreign Policy". Im vergangenen Jahr erschien sein Buch "Emmanuel Macron. Der revolutionäre Präsident".

Das müsste er erst einmal durchbringen – aus Angst, übergangen zu werden, dürften viele Mitgliedstaaten davon nicht begeistert sein. Schon während seiner ersten Amtszeit sind seine Reformideen bei der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht unbedingt auf großen Widerhall gestoßen.

Das stimmt. Merkel ließ Macron auflaufen. Sie sah hinsichtlich Europas nicht wirklich dringenden Handlungsbedarf.

Ändert sich das nun mit Scholz?

Was Europa anbelangt, denken Scholz und Macron ähnlich. Im Unterschied zu Merkel erkennt Scholz, dass der Status quo nicht wirklich nachhaltig ist. Auch die Grünen sind überzeugt, dass man vorwärts machen muss. Aber ich glaube nicht, dass der Kanzler irgendwann, wie Macron, eine große Rede zu Europa halten wird. Für Scholz ist es einfacher, sich von Macron treiben zu lassen.

Scholz gilt, auch hierzulande, als der Zögerliche. Wie blickt der französische Präsident auf den deutschen Kanzler?

Olaf Scholz hat in Frankreich einen großen Vertrauensvorschuss.

Woher kommt der?

Im Wahlkampf hat er von Macron das Narrativ eines "souveränen Europa" übernommen. Als Finanzminister in der Großen Koalition unter Angela Merkel hat er sich in der Pandemie für den europäischen Wiederaufbaufonds eingesetzt, der Frankreich sehr wichtig war. Dafür hat die EU gemeinsame Schulden aufgenommen.

Eigentlich zuvor unvorstellbar für Deutschland.

Ja, Scholz ist manchmal gar nicht so zögerlich. Er handelt manchmal auch sehr schnell, geht Risiken ein und nutzt Krisen, um vorher innenpolitisch blockierte Politiken endlich durchzusetzen. Das sieht man etwa auch mit dem 100 Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr.

Also ein deutsch-französisches Dream-Team?

Das wäre übertrieben. Die Ampelkoalition eröffnet neue Perspektiven für Paris. Aber so wie das politische Berlin eifrig diskutiert, wer Scholz wirklich ist und darüber rätselt, was er mit dem Land vorhat, gibt es auch in Paris noch kein gefestigtes Bild von Scholz. Man denkt und hofft, er ist näher an den französischen Vorstellungen dran, aber ist er es wirklich?

Das werden die nächsten Jahre zeigen. Wird Macron es darauf anlegen, Scholz mit seinen Vorschlägen zur EU vor sich herzutreiben?

Die deutsch-französische Achse ist weniger wichtig als in der Vergangenheit. Früher lief es so ab: Frankreich hatte eine Idee, suchte dann den Kompromiss mit Deutschland und im Anschluss haben sie die restlichen EU-Länder davon überzeugt. Jetzt sieht man eine andere Strategie: Frankreich wird oft Allianzen ohne Deutschland bauen. Beim Pandemiefonds war das zum Beispiel so, da waren etwa Italien, Spanien, Irland, die Slowakei und Luxemburg mit an Bord – Deutschland erst ganz zum Schluss. Frankreich wird versuchen, Deutschland einzukreisen.

Um so Druck aufzubauen?

Genau. Heute ist Berlin aber auch in einer anderen Situation. Merkels Strategie, nicht auf Macrons Vorschläge einzugehen, funktionierte nur, weil Deutschland mit dem Status quo zufrieden war. Die damalige Bundeskanzlerin handelte nach dem Prinzip: "Abblocken, abblocken, abblocken – und dann geht das irgendwann weg." Scholz aber ist jetzt gezwungen, etwas zu tun.

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Durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Genau, die Europäer müssen eine europäische Zukunftsperspektive für die Ukraine entwickeln und die eigene Verteidigung stärken. Das sieht auch Deutschland so.

Nicht nur in Europa, auch in Frankreich selbst steht Macron vor einer großen Aufgabe: Er will die französische Gesellschaft, die sich in den vergangenen fünf Jahren stark polarisierte, wieder befrieden.

Ja, das ist sein zweites großes Vorhaben.

Warum ist es so wichtig, dass diese Versöhnung gelingt? Macron könnte ja auch sagen: Das ist mir alles egal. Schließlich kann er nach zwei Mandaten nicht erneut zur Wahl antreten – ist also nicht darauf angewiesen, die Frustrierten, die nicht für ihn stimmten, noch von sich zu überzeugen.

Sollte in fünf Jahren die Rechtspopulistin Marine Le Pen zu seiner Nachfolgerin gewählt werden, geht Macron als Verlierer in die Geschichte ein. Dann hätte er das Problem, das auch der ehemalige US-Präsident Barack Obama hatte: der zu sein, der den Weg für die extreme Rechte bereitete. Das wäre die totale Niederlage.

Und wie will Macron das verhindern?

Macron wird versuchen, sich versöhnlicher zu zeigen und die Gesellschaft mehr einzubinden. Nicht mehr so von oben herab Politik zu machen.

Ob die Menschen im Land ihm das abnehmen werden? Er gilt in Frankreich doch vielen als der Überhebliche, der sich nicht um die "einfachen Leute" schert. Kann Macron wirklich ein anderer werden?

In Teilen ist er das schon. In den ersten zwei, drei Jahren seiner Amtszeit hat er sein Wahlprogramm ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt. Das war zwar erfolgreich: Macron hat so viele Reformen durchgebracht wie keiner seiner Vorgänger. Doch dann fuhr diese Politik gegen die Wand – mit den Gelbwesten-Protesten.

… die sich 2018 ursprünglich an einer geplanten höheren Steuer auf Kraftstoffe entzündeten und in wochenlangen Protesten das Land lahmlegten …

Die sagten: So geht’s nicht weiter. Da fing Macron an, anders Politik zu machen. Beispielsweise die Gewerkschaften mehr einzubinden, einen breiteren gesellschaftlichen Konsens zu suchen.

Trotzdem ist der Hass im Land gegen Macron groß. Auch jetzt wollte die Mehrheit der Franzosen eigentlich nicht Macron zum Präsidenten. Viele stimmten im zweiten Wahlgang nur deshalb für ihn, um die Rechtspopulistin Le Pen zu verhindern. Woher kommt diese Ablehnung?

Die Franzosen hassen alle ihrer Amtsinhaber, das ist normal. Aber bei Macron ist es doch eine Stufe extremer. Denn er verkörpert die Selbstgerechtigkeit des Meritokraten.

Das heißt?

Er sieht sich selbst als den, der es dank harter Arbeit bis an die Spitze des Staates geschafft hat. In den ersten zwei Jahren seiner Amtszeit ließ er das nach außen hängen. Er sagte den Franzosen: "Du musst dich nur mal anstrengen, dann klappt das auch für dich." Das ist eine Arroganz und eine Selbstgerechtigkeit, die vielen Leuten wirklich auf die Nerven gegangen ist.

Aber diese Grundeinstellung und das damit verbundene Image wird er ja nicht so einfach los?

Die Pandemie hat ihm etwas geholfen, das zu korrigieren.

Inwiefern?

In seiner Corona-Politik hat er klar die Gesundheit der Bevölkerung vor die Wirtschaft gestellt. Da hat er gezeigt: Ich bin nicht der neoliberale Siegertyp, der sich nur um die Wirtschaft schert. Aber natürlich: Das Image vom "Präsident der Reichen", wie ihn die Linken nennen, wird er nie ganz loswerden.

Trotzdem wird er jetzt stärker versuchen Gräben zu überwinden. Macron weiß, dass das Land viel nervöser und gespaltener ist als noch 2017. Er weiß, dass er jetzt keinen Reform-Tsunami lostreten kann, wie er das zu Beginn seiner ersten Amtszeit getan hat.

Also dann ein Land im Stillstand?

Macron hat jetzt einen Vorteil: Er muss nicht mehr so viel durchdrücken, wie das zu Beginn seiner ersten Amtszeit der Fall war. All die großen Reformen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, die er sich vorgenommen hatte, setzte er direkt 2017 und 2018 durch. Das waren Steuer- und Arbeitsmarktreformen, die aus sozialer Sicht sehr explosiv waren.

Und jetzt will er weniger Kontroverse und mehr Stabilität in Frankreich?

Davon gehe ich aus. Man könnte sagen: Macron ist nicht mehr der Reformer Gerhard Schröder, sondern wird zu Angela Merkel. Macrons Reformen waren geprägt von viel Widerspruch und Kontroverse, aber jetzt tragen sie Früchte. Seine zweite Amtszeit wird eher im Stil von Merkel sein. Will sagen: eher verwalten als Neues machen, mehr Stabilität bringen als weiter am Baum zu schütteln.

Aber eine Rentenreform will er unbedingt noch umsetzen, das Rentenalter auf 64 anheben. Auch das birgt großen Sprengstoff.

Ja. Das sah man in der letzten Amtszeit, als er das bereits versuchte. Da gab es große Proteste. Das Vorhaben wurde dann durch die Pandemie auf Eis gelegt. Jetzt muss er versuchen, die Leute mehr mitzunehmen. Sonst explodiert es, das weiß er.

Gerade in ländlichen Regionen schnitt Le Pen bei den Wahlen gut ab. Kann er diese Wähler zurückgewinnen?

Macron war ursprünglich angetreten mit dem Anspruch, das Land wirtschaftlich zu entwickeln und damit Rechtsaußen zu schwächen. Diesen Beweis muss er noch erbringen. Er will jetzt unter anderem in die Transport-Infrastruktur und Krankenhäuser investieren. Es geht darum, die abgehängten Regionen aufleben zu lassen.

Aber wird das reichen?

Das ist schwierig zu sagen. Um Gräben zu kitten, plant er auch ein proportionelleres Wahlrecht für das Parlament. Heute spiegelt das Parlament nur sehr beschränkt die politischen Einstellungen der Franzosen.

In wenigen Wochen stehen die Parlamentswahlen an. Präsident Macron wird im Anschluss denjenigen zu seinem Premierminister machen müssen, dessen Partei die Mehrheit im Parlament gewinnt. Was steht für Macron auf dem Spiel?

Ich gehe davon aus, dass Macron auch weiterhin die Mehrheit im Parlament haben wird – er also einen Premierminister aus seinen eigenen Reihen ernennt.

Aber der Kandidat der Linken, Jean-Luc Mélenchon, landete bei den Präsidentschaftswahlen auf dem dritten Platz und zeigt sich nun siegessicher – er will Premierminister werden.

Das linke Bündnis, das sich aus mehreren Parteien um Mélenchon formte, hat keine Chance, die Mehrheit zu gewinnen.

Was macht Sie da so sicher?

Um bei den Parlamentswahlen erfolgreich zu sein, muss eine Partei die Mehrheit in möglichst vielen Wahlkreisen gewinnen. Sie muss also in der Breite des Landes verankert sein. Doch die Wähler der Linken sind konzentriert in urbanen Regionen. Deshalb werden sie nicht die Mehrheit im Parlament bekommen. Für die Partei von Marine Le Pen sieht das ähnlich aus.

So unwahrscheinlich es ist: Was wäre, wenn Macron am Ende doch Mélenchon zu seinem Premierminister machen müsste?

Dann könnte Mélenchon alle innenpolitischen Fragen – etwa Wirtschafts-, Sozial- und Migrationspolitik – selbst entscheiden, denn bei diesen liegt die Macht im Parlament.

Und Macron?

Der französische Präsident würde sich dann sicherlich umso mehr noch auf die Außen- und Europapolitik konzentrieren.

Herr de Weck, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Joseph de Weck am 11.5.2022 in Berlin
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