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Gaza-Krieg: Israel will auf Rafah vorrücken – "Eine riskante Wette"


Experte zu Israels Rafah-Plan
Israels Verbündete hoffen auf einen "Lucky Punch"


Aktualisiert am 13.02.2024Lesedauer: 6 Min.
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Bodenoffensive im Palästinensergebiet (Archivbild): Israelische Soldaten fahren in einem Panzer an der Grenze des Gazastreifens. (Quelle: Ariel Schalit/ap)

Israels Armee will auf Rafah im Gazastreifen vorrücken. Doch in der Stadt befinden sich gut 1,3 Millionen Menschen, davon viele Geflüchtete. Kippt nun die internationale Unterstützung für Israel?

Seit Ende Oktober 2023 führt Israel eine Militäroperation gegen die Terrororganisation Hamas im Gazastreifen durch. Bodentruppen rückten vom Norden des Palästinensergebiets ausgehend in Richtung Süden vor.

Zunächst kreisten sie Gaza-Stadt ein und eroberten die größte Stadt des Gazastreifens schließlich. Dann nahm sich die Armee Chan Junis zum Ziel: Nach gut zwei Monaten der Kämpfe erklärte Verteidigungsminister Joav Galant Anfang Februar, dass alle Hamas-Einheiten in der Stadt zerstört worden seien. Und nun will die israelische Armee nach Rafah vordringen, wo die letzten Hamas-Kräfte vermutet werden.

Israels Offensive und die internationale Unterstützung für das israelische Vorgehen stehen an einem Kipppunkt. Die USA und andere Verbündete fordern vehement den Schutz der Zivilbevölkerung im Gazastreifen. Gut 1,3 Millionen Menschen müssten evakuiert werden, doch weite Teile des Palästinensergebiets sind bereits zerstört. Dazu sind laut Hamas-Angaben bereits mehr als 28.000 Menschen seit Kriegsbeginn getötet worden. Geht Israel in dieser Situation trotzdem dieses Risiko ein?

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Nahostexperte Daniel Gerlach ist sich sicher, dass es dazu kommen wird: "Israel hat seinen Ankündigungen während der Bodenoffensive stets Taten folgen lassen", sagt er im Gespräch mit t-online. Doch wie kann die israelische Führung ihr oberstes Kriegsziel – die Zerstörung der Hamas – mit dem Schutz palästinensischer Zivilisten verbinden? Und wohin sollen die Menschen aus Rafah vor einem israelischen Angriff fliehen?

Wie ist die Lage in Rafah?

Sam Bloch, Leiter der Nothilfe bei der US-Organisation World Central Kitchen, beschreibt im "Wall Street Journal" die Situation in Rafah mit drastischen Worten: "Ich habe noch nie etwas so Verzweifeltes, Komplexes und Herausforderndes gesehen." Noch im Dezember habe es in der Stadt Bäume gegeben. Nun seien fast alle Bäume von Zivilisten gefällt worden, um Brennholz zum Kochen zu haben.

Während die israelischen Bodentruppen ab Ende Oktober im Gazastreifen vorrückten, forderte die Armee die palästinensischen Zivilisten dazu auf, sich in Richtung Süden zu evakuieren. Der Großteil von ihnen – rund 1,3 Millionen Menschen – befindet sich nun in Rafah. Die Stadt liegt unmittelbar an der Grenze zu Ägypten. Besonders über den dortigen Grenzübergang gelangten zuletzt humanitäre Hilfsgüter in den Gazastreifen. Immer wieder griff Israel Rafah aus der Luft an. Und jetzt sollen auch israelische Bodentruppen dorthin vordringen.

Die humanitäre Lage in der Stadt ist prekär. Laut UN-Angaben hungern Hunderttausende Menschen im Gazastreifen. Obwohl Israel Lkw mit Hilfsgütern in den Gazastreifen durchlässt, beklagen Hilfsorganisationen immer wieder, dass diese nicht ausreichen. Seit dem 7. Oktober seien laut israelischen Angaben rund 11.000 Lkw mit Hilfsgütern über die Grenze gekommen, schreibt die "Tagesschau". Das entspreche rund 90 Lkw pro Tag. Vor Beginn des Krieges seien es normalerweise gut 500 Lkw täglich gewesen.

Warum ist Rafah für Israels Armee ein Ziel?

Das israelische Militär vermutet in Rafah die letzte noch stehende Brigade der Hamas. Eine Brigade besteht aus bis zu 5.000 Soldaten und ist in mehrere Bataillone unterteilt. Zudem suchen die Streitkräfte noch immer nach dem Hamas-Anführer Yahya al-Sinwar. Zunächst vermutete man, dass er sich in Chan Junis aufhalte – aufgefunden wurde er jedoch nicht. Ist al-Sinwar also in Rafah? Mit Sicherheit beantworten lässt sich diese Frage nicht.

Zudem befinden sich noch immer mehr als 130 Geiseln in der Gewalt von Hamas-Terroristen. Zwei von ihnen befreite die israelische Armee mit einer Spezialoperation in der Nacht zu Montag in Rafah. Mehr zu dem Einsatz lesen Sie hier.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte in der vergangenen Woche seine Armee angewiesen, einen "kombinierten Plan zur Evakuierung der Bevölkerung und zur Zerstörung der Bataillone" der Hamas in Rafah vorzulegen. Im Anschluss an die Geiselbefreiung sagte Netanjahu am Montag, dass "nur anhaltender militärischer Druck bis zum vollständigen Sieg" die "Freilassung aller unserer Geiseln" bewirken würde.

(Quelle: B. Benkredda/t-online)

Zur Person

Daniel Gerlach ist Autor, Nahost-Experte und Direktor der Denkfabrik Candid Foundation. Zudem gibt er das Fachblatt "Zenith – Zeitschrift für den Orient" heraus und ist dessen Chefredakteur. Gerlach studierte in Hamburg und Paris Orientalistik und Geschichte. Er gilt als einer der führenden Experten in Deutschland für den Nahen Osten und die muslimische Welt.

Nahostexperte Gerlach glaubt, dass dabei eine weitere Überlegung eine Rolle spielen könnte: "Möglicherweise hofft man darauf, dass das Bedrohungsszenario dazu führt, dass Geiseln, die die Hamas in Rafah hält, bewegt werden und so ihr Aufenthaltsort verraten wird." Doch es sei auch davon auszugehen, dass die Hamas-Führung gut auf ein solches Szenario vorbereitet ist, sagt Gerlach.

Wohin sollen die Menschen fliehen, wenn Israels Armee vorrückt?

Offizielle Pläne wurden bisher noch nicht verkündet. Israel soll Ägypten jedoch einen Vorschlag gemacht haben, wie das "Wall Street Journal" unter Berufung auf ägyptische Beamte berichtet. Demnach könnten im Westen des Gazastreifens entlang der Mittelmeerküste bis zu 15 Zeltstädte eingerichtet werden. Ein jedes dieser Camps soll etwa 25.000 Zelte umfassen. Ägypten wäre für die Einrichtung der Lager und der Feldlazarette zuständig, hieß es.

Eskaliert die Lage in Rafah, wäre Ägypten direkt betroffen. Hunderttausende Flüchtlinge könnten versuchen, vor den Kampfhandlungen über die Grenze zu fliehen. Doch ob Israels Vorschlag funktioniert, ob die Pläne für rund 1,3 Millionen zu evakuierende Menschen ausreichen, ist unklar.

Wie blicken Israels Verbündete auf die angekündigte Offensive?

Der internationale Druck auf Israel vor der Rafah-Offensive ist immens. Die wichtigsten Verbündeten Israels – allen voran die USA und Deutschland – pochen auf den Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung. US-Präsident Joe Biden sagte, viele Menschen in Rafah seien "mehrfach vertrieben" worden, "vor der Gewalt im Norden geflohen, und jetzt drängen sie sich in Rafah – ungeschützt und angreifbar".

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sprach am Dienstag von einem "unglaublichen Netz der Terrororganisation Hamas", das sich in Rafah befinde. Doch Baerbock wies auch darauf hin, dass Hunderttausende "auf Anweisung Israels" in der Stadt Schutz gesucht hätten. "Die Menschen müssen den Schutz dort auch weiterhin finden können", appellierte sie. Es sei Verantwortung der israelischen Armee, sichere Korridore für die Zivilbevölkerung zu schaffen. "Jedes Land hat – wie Israel auch – das Recht, sich gegen Terrorismus zu verteidigen. Aber es beinhaltet keine Vertreibung", so Baerbock.

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Doch diese Aussagen werden wohl nicht ausreichen, um Israel von einer Militäroperation in dem dicht bevölkerten Gebiet abzuhalten. Obwohl die USA und Deutschland Israel zur Zurückhaltung aufriefen, sei diese Kritik "sehr zurückhaltend", sagt Daniel Gerlach. "Es scheint deshalb momentan so, dass die israelische Regierung sich von Kritik nicht beeindrucken lässt, denn man hat keine Konsequenzen für sein Handeln zu befürchten." Die Verbündeten haben bisher zumindest noch keine angedroht.

Video | Hamas-Tunnel unter UNRWA-Hauptsitz gefunden
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Quelle: reuters

Könnte eine Militäroperation in Rafah diplomatische Bemühungen torpedieren?

In den vergangenen Wochen hat es in Ägypten immer wieder Gespräche für einen Geiseldeal gegeben, der eine mögliche mehrwöchige Feuerpause vorsah. An den Gesprächen beteiligen sich neben Ägypten auch Katar und die USA. Doch unterzeichnet ist bisher nichts. Laut Gerlach liegt das auch daran, dass der politische Wille weder aufseiten Israels noch der Hamas vorhanden ist.

Beide Akteure müssten von ihren Maximalzielen abrücken: Israel wolle die Freilassung aller Geiseln sowie die vollständige Zerstörung der Hamas. Die Terrororganisation hingegen fordert die Einstellung der israelischen Angriffe sowie die Freilassung der in Israel inhaftierten Palästinenser.

Vieles könnte sich an der Person al-Sinwars entscheiden, glaubt Daniel Gerlach: "Es scheint deshalb so, dass die USA insgeheim auf einen 'lucky punch' der Israelis hoffen." Gelinge der Armee die Verhaftung oder Tötung des Hamas-Anführers al-Sinwar und seiner Gefolgsleute, könnte Bewegung in die diplomatischen Bemühungen kommen, meint Gerlach. "Doch das ist eine riskante Wette." Al-Sinwars genauer Aufenthaltsort ist nicht bekannt.

"Ägypten ist hochnervös"

Nicht zuletzt steht auch das israelisch-ägyptische Verhältnis auf der Kippe. 1979 unterzeichneten beide Länder einen Friedensvertrag, Ägypten war das erste arabische Land, das Israel als Staat anerkannte. Doch die Situation in Rafah – Hunderttausende palästinensische Flüchtlinge direkt an der Grenze zu Ägypten – könnte die durch den Friedensvertrag entstandene Sicherheitsordnung in der Region aufs Spiel setzen, so Gerlach. Die ägyptische Regierung drohte bereits, den Friedensvertrag aufkündigen zu wollen, sollte Israel Rafah angreifen.

"Es ist aus Sicherheitskreisen zu vernehmen, dass Ägypten mit Blick auf die mehr als eine Million palästinensischen Binnengeflüchteten an seiner Grenze hochnervös ist", sagt der Nahostexperte. "Durchbrechen sie die Grenze und fliehen vor dem israelischen Vormarsch in Richtung Süden, würde Ägypten die israelische Vertreibung dafür verantwortlich machen und das wohl als Verletzung der Grenzvereinbarung betrachten. Sie ist Teil des Friedensvertrags – und der ist letztlich zentral für Israels Sicherheit und Existenz."

Ägypten befindet sich damit jedoch auch in der Position der Stärke, könnte mit anderen Regionalmächten wie Saudi-Arabien und Jordanien Druck auf Israel ausüben. "Ägypten möchte aber weder eine Konfrontation mit Israel noch klein beigeben und als Handlanger der USA dastehen", merkt Gerlach an. Eines jedoch gilt als sicher: "Wenn Ägypten den Frieden abkühlen lässt, trägt das nicht zur Sicherheit Israels bei." Die israelischen Militärs und Geheimdienste versuchten deshalb, die Ägypter zu beschwichtigen, so Gerlach. "Aber das Vertrauen in die Regierung Netanjahu ist in Kairo gering."

Verwendete Quellen
  • Telefoninterview mit Daniel Gerlach
  • Pressekonferenz von Annalena Baerbock mit dem Außenminister der Palästinensischen Gebiete, Riad Malki; Berlin, 13. Februar 2024
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