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Fridays for Future: Wie Greta Thunbergs Bewegung mit einem Pappschild begann


Tag des globalen Klimastreiks
In einem Jahr zur mächtigen Bewegung

Von Rebekka Wiese und Jonas Schaible

Aktualisiert am 20.09.2019Lesedauer: 8 Min.
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Aktivisten demonstrieren mit Greta Thunberg vor dem Brandenburger Tor: In nur einem Jahr wurde aus einem einsamen Sitzstreik eine einflussreiche Bewegung.Vergrößern des Bildes
Aktivisten demonstrieren mit Greta Thunberg vor dem Brandenburger Tor: In nur einem Jahr wurde aus einem einsamen Sitzstreik eine einflussreiche Bewegung. (Quelle: F. Kern/ Future Image/imago-images-bilder)

Die Fridays for Future-Aktivisten wollen am heutigen Freitag den größten Klimastreik aller Zeiten abhalten. Wie wurde aus einigen Schülern eine derart einflussreiche Bewegung?

Warum genau er zu seiner ersten Fridays-for-Future-Demonstration ging, kann Moritz Kalis nicht mehr genau sagen. Er weiß nur noch, dass er auf Facebook davon gelesen hatte. Das war im Januar, nur acht Monate sind seitdem vergangen und jetzt arbeitet er daran, die größte Klimademonstration zu organisieren, die es je in Deutschland gegeben hat. An diesem Freitag in Berlin, als Teil eines globalen Aktionstages.

So wie Kalis erging es der Bewegung, in der er sich engagiert: Politisierung in Hochgeschwindigkeit. Bedeutungszuwachs im Zeitraffer. In wenigen Monaten wurde aus dem Sitzstreik einer 15-jährigen Schwedin die wahrscheinlich einflussreichste politische Bewegung in Westeuropa seit einem halben Jahrhundert. Die neuen 68er. Das "Time"-Magazin druckte die junge Schwedin auf den Titel: Greta Thunberg ist zu einer Ikone geworden.


Wie gelang es einer Gruppe von lose organisierten Schülern ohne Geld, Öffentlichkeit und Erfahrung, eine Wahl entscheidend zu prägen, Massenveranstaltungen zu organisieren, Angriffen zu trotzen und die Politik vor sich herzutreiben? Die ersten großen Widerstände hat die Bewegung überwunden – aber sie steht vor entscheidenden Wochen. Wie geht es weiter, wenn die Politik vorgibt, das Problem gelöst zu haben? Und wenn die internen Widersprüche dadurch größer werden?

Mit einem Pappschild ging es los

Die Fridays for Future beginnt an einem Dienstag, es ist der 20. August 2018 und in Schweden sind die Sommerferien vorbei. Hinter dem Land liegt der heißeste Sommer aller Zeiten. Greta Thunberg, 15 Jahre alt, sitzt nach den Sommerferien nicht in der Schule, sondern vor dem Reichstag in Stockholm. Bis zu den Parlamentswahlen in drei Wochen will sie streiken. Bei sich trägt sie einen Rucksack, eine Wasserflasche und ein Schild aus alter Pappe. "Skolstrejk för klimatet", hat sie darauf geschrieben: "Schulstreik für das Klima". Dieser Moment ist mittlerweile zum Gründungsmythos geronnen.

Am zweiten Tag setzten sich Linnea und Melda dazu, 12 und 13 Jahre alt. Am Ende der ersten Wochen streiken 35 Personen. Bald erscheinen erste Berichte über das Mädchen mit dem Pappschild, auch in deutschen Zeitungen. "Es ist mein Protest dagegen, dass kein Politiker die Klimafrage so ernst nimmt, wie sie genommen werden muss", sagt sie in diesen Tagen einer Zeitung.

Am Tag nach der schwedischen Parlamentswahl lädt Arnold Schwarzenegger Greta per Twitter zu einem Klimakongress nach Wien im kommenden Jahr ein. Sie antwortet: "Count me in. Hasta la vista baby!"

In Deutschland kommt die Bewegung im Dezember an

Das Interesse an der Klimaaktivistin, die jetzt nur noch freitags streikt, reißt nicht ab. Vielleicht, weil es so ungewöhnlich heiß und trocken ist in diesem Sommer 2018. Sicher auch, weil der Protest eines jungen Mädchens eine gute Geschichte ist. Umso mehr, weil sie Asperger hat, fließend Englisch spricht, und gleichzeitig ungemein souverän und unerhört klar auftritt. In sozialen Netzwerken ruft sie dazu auf, sich ihr anzuschließen. Sie verwendet dazu den Hashtag #fridaysforfuture.

In Deutschland kommt der Streik am 14. Dezember 2018 an. Während sich die Vereinten Nationen im polnischen Katowice zur Klimakonferenz treffen, fehlen in Deutschland Schüler in den Klassen. Sie sitzen vor Rathäusern, malen Protestplakate und ziehen durch Innenstädte. Es ist der erste große Protest der deutschen Fridays For Future.

Wie viele Menschen sich genau an den Protesten beteiligen, lässt sich nicht eindeutig sagen. Die Bewegung ist dezentral organisiert, das macht es beinahe unmöglich, den Überblick zu behalten. Bis heute gab es Proteste auf allen Kontinenten und in zahlreichen Ländern – darunter die Türkei, Indien und Nigeria. Am heutigen Freitag soll es in 150 Ländern Aktionen geben. Wie viele Menschen teilnehmen werden, ist unklar. Die eigentlichen Zentren der Bewegung liegen noch immer in den Industrieländern. In 400 deutschen Städten sind Demos angemeldet. Auf der Karte sehen Sie wo:

Dass die Bewegung schon in den USA nicht so groß ist, war zu sehen, als Greta Thunberg kürzlich nach ihrer zweiwöchigen Segelreise in New York ankam. In Deutschland war das ein Riesenthema, in den USA wurde sie von einer überschaubaren Gruppe empfangen.

Der Wirtschaftsminister – ausgebuht

In Deutschland sind rund 600 Ortsgruppen aktiv. Wie viele Aktivisten das sind? Simon Teune, der sich an der TU Berlin mit sozialen Bewegungen beschäftigt und Fridays for Future erforscht, will nicht einmal eine Schätzung geben: "Dazu fehlt die Basis", sagt er knapp. Der Eindruck ist: Die Bewegung wächst. Zumindest in Deutschland und einigen anderen anderen europäischen Ländern.

Obwohl die Bewegung nicht hierarchisch ist, wird die 22-jährige Geografiestudentin Luisa Neubauer schnell das deutsche Gesicht. Nicht allen gefällt das, Personenkult ist in der Bewegung, die von einer globalen Ikone begründet wurde, nicht gern gesehen, das betont auch Neubauer selbst. So pendelt sich ein Arbeitsmodus ein: Es gibt keine Führungsfiguren. Aber wenn Medien sich welche schaffen, wird es geduldet. Wer sollte auch eingreifen, wenn es doch kein Zentrum gibt?

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Die erste größere Demonstration in Deutschland findet im Januar 2019 statt. Es ist der Tag, an dem Moritz Kalis zu der Bewegung stößt. In Berlin schaut Peter Altmaier vorbei: Wirtschaftsminister, Ex-Umweltminister, Ex-Kanzleramtschef, ein Mann mit Autorität. Die Schüler buhen ihn aus. Altmaier wendet sich ab. "Das war echt ‘ne Scheißidee", sagt er zu seinem Pressesprecher. Das ZDF strahlt die Szene im März aus.

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Damit ist das Verhältnis zur Politik beschrieben: Die Schüler wahren kühle Distanz, zu allen Parteien. Die Politik glaubt anfangs noch, es wäre eine Option, sich nicht mit der Protestbewegung zu beschäftigen.

In Berlin kommt Mitte März Deutschlands größte Jugendorganisation zu ihrem Jahrestreffen zusammen, die Junge Union, die Nachwuchsorganisation von CDU und CSU, mehr als 100.000 Mitglieder, alle jünger als 35. Doch für den scheidenden JU-Chef und CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak und seinen Nachfolger Tilman Kuban sind die protestierenden Jugendlichen: Schulschwänzer.

Wissen in Politik übersetzen

Es ist die erste heikle Phase für die Bewegung, der Kampf nach der ersten Euphorie. Die Demonstranten werden verlacht und lächerlich gemacht. Schulen erwägen Geldstrafen für die Teilnahme an den Streiks.

Kurz darauf sagt FDP-Chef Christian Lindner in einem Zeitungsinterview: "Klimaschutz ist was für Profis." Zwei Tage später bekennen sich mehr als 23.000 Wissenschaftler zu den Forderungen der Schüler. Einige dieser "Scientists for Future" treten Mitte März bei einem Protest auf. Wir sind die Profis, sagen sie, und: "Ihr habt recht". Aus einer Jugendbewegung ist spätestens jetzt eine Protestbewegung geworden.

Der Klimawandel ist seit Jahrzehnten gut erforscht. Wenn die Treibhausgasemissionen nicht drastisch sinken, wird sich die Erde um mehr als 1,5 Grad erwärmen, eher um 2, 3 oder 4 Grad. Dann drohen Dürren, tödliche Hitzezonen, Starkregen, Stürme, Überflutungen. Und all das in einem sich selbst verstärkenden System.


Aber weil Wissenschaftler mit Bedacht formulieren, bleibt eine Restunsicherheit, die Gegner ausnutzen können, um Zweifel zu säen. Die Jugendlichen lassen Zweifel nicht zu. Sie haben die besseren Argumente, aber sie setzen nicht auf deren zwanglosen Zwang, sondern auf die Autorität der Wissenschaft. Sie übersetzen Wissen in Politik. Das lässt sie kompromisslos wirken, macht sie aber auch erfolgreich.

Eine Wahl, die Union und SPD aufschreckt

Am 24. Mai stehen in Berlin Tausende vor dem Brandenburger Tor. Es sind noch zwei Tage bis zur Europawahl und noch nie waren so viele Demonstranten bei den Fridays For Future. Immer mehr Studenten kommen, an den Universitäten haben sich Hochschulgruppen der Bewegung gegründet. Die Bewegung hat inoffizielle Hymnen ("Hurra, die Welt geht unter") und Parolen: "Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!" Fast die Hälfte der Deutschen sagt, Klimaschutz sei wichtig für die Wahlentscheidung. Fünf Jahre zuvor sagte das nicht einmal ein Drittel.

Zwei Tage später holen die Grünen 20,5 Prozent in Deutschland. Der Wahlabend zeigt auch die aktuellen Grenzen der Bewegung, nicht überall in Europa sieht es genauso aus. Aber in Deutschland hat sich etwas verändert. Das erkennen auch die Volksparteien. Man müsse jetzt Klimapolitik machen, hört man nach der Wahl in Berlin ständig.

Große Gefahr: Sommerferien

Für die Bewegung wird es bald zum zweiten Mal heikel. Der Sommer droht – nicht mit Hitze, sondern mit Ferien. Nun werde sich zeigen, dass die Schüler einfach nur schwänzen wollten, höhnen Kritiker.

Ein Freitag Ende Juli, in Berlin sind Ferien. Auf dem Platz neben dem Wirtschaftsministerium ist eine kleine Bühne aufgebaut. Ein junger Mann versucht, Sprechchöre anzustimmen: "Another world is possible" ruft er, und, als Gruß an die französischen Freunde: "On est plus chaud, plus chaud, plus chaud que le climat!" Nur ein Teil der Leute macht mit. Wie eine mächtige Protestbewegung klingt das nicht.

"Gerade anfangs war das ein Nervenkitzel", erinnert sich Moritz Kalis aus dem Berliner Organisationsteam des Streiks. "Viele waren verreist. Wir wussten nicht, schaffen wir es, die Ferien durchzustreiken?" Aber ein paar sind jeden Freitag da. Die Bewegung kann weitermachen.

Sie nutzt diese ruhigeren Wochen, um sich zu vernetzen. Von Berlin aus fahren Aktivisten mit dem Zug nach Brandenburg, schließen sich jeden Freitag einer anderen Demonstration an. Auf einem Sommerkongress in Dortmund kommen 1.500 Jugendliche zusammen. Ein Zentrum gibt es aber immer noch nicht. Der Bewegungsforscher Simon Teune sagt: "Gerade weil die Bewegung lokal verankert, ist sie so stark."

Was, wenn die Beschlüsse nicht reichen?

Etwa ein Jahr nach ihrem Start haben die Aktivisten politisch viel in Bewegung gebracht. Markus Söder, der CSU-Chef, umarmt öffentlich einen Baum. Die Junge Union, die sich im März noch lustig machte, plant, im Oktober einen Leitantrag zum Klima zu verabschieden. Und die Koalition will ein großes Klimapaket beschließen. In Berlin macht niemand einen Hehl daraus, dass das vor allem an Fridays for Future liegt, und an der Europawahl, die sie beeinflusst haben.

Damit steht Fridays for Future allerdings die dritte heikle Phase bevor, wenn der erste Schwung nachlässt und die Politik Lösungen präsentiert, die vielen in der Bewegung nicht weit genug gehen dürften. Wenn die Bewegung sich fragen muss, wer sie ist und sein will – und ob sie ihre Methoden ändert.

Moritz Kalis hält an der bisherigen Linie fest. Nüchterne Distanz zu allen, Offenheit in der Sache: "Jede Partei kann Klimaschutz machen und auch anders machen. Hauptsache, man reduziert den CO2-Ausstoß", sagt der 22-Jährige. Aber was, wenn die Regierung ein lange und mühevoll ausverhandeltes Programm vorlegt, das ihnen nicht reicht?

Simon Teune, der Wissenschaftler aus Berlin, denkt nicht, dass "Fridays for Future" von einer Spaltung bedroht sind. Im Ziel seien sich die Aktivisten doch einig. “Die Bewegung nimmt gerade erst Fahrt auf“, sagt Teune. Er sagt aber auch: "Das Klimakabinett wird am Freitag signalisieren: 'Wir haben verstanden, wir übernehmen.' Aber wenn es keinen großen Wurf vorlegt, werden viele darauf drängen, den Protest anders auf die Straße zu bringen."

Andere Klimabewegungen haben sich schon auf zivilen Ungehorsam verlegt. Allen voran die "Extinction Rebellion" in England, deren prominentestes Gesicht, Roger Hallam, gerade erst festgenommen wurde. Zuvor hatte er dem "Spiegel" in einem Interview von seinem Plan erzählt, am Flughafen London Heathrow mithilfe von Drohnen den Flugverkehr lahmzulegen.

Zelten vor dem Reichstag

An einem Donnerstag in der Freien Universität in Berlin hat die Hochschulgruppe der "Fridays for Future" eine studentische Vollversammlung einberufen. Nach vier Stunden kommen Studenten zu Wort, die einer antikapitalistischen Hochschulgruppe angehören. Es gebe keinen klimafreundlichen Kapitalismus, sagen sie. Nicht wenige denken so: dass unendliches Wachstum in einer endlichen Welt eine Illusion ist. Die Diskussion kommt zu keinem Abschluss. Sie wird vertagt, auf den Herbst. Aber sie verschwindet nicht.

So wie das Thema nicht verschwinden wird. Es ist abzusehen, dass die Bundesregierung ein Paket vorstellen wird, das viele Details offenlässt, dass sie an Zielen festhält, die innenpolitisch ambitioniert, aber klimapolitisch eher unterambitioniert sind, und dass sie erst einmal bis zum Jahr 2030 plant, nicht darüber hinaus.


Vorerst machen die "Fridays for Future" weiter wie bisher. Nach der Großdemonstration am 20. September plant sie eine "Week 4 Climate". An jedem Tag der folgenden Wochen sollen dann deutschlandweit Aktionen stattfinden, die Aktivisten wollen in dieser Zeit auch vor dem Reichstag campen.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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