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Putins Krieg und die Folgen: Kurz vorm Rumms – Deutschland droht Ausnahmezustand


Kurz vor dem Rumms


Aktualisiert am 06.07.2022Lesedauer: 9 Min.
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Wer soll das bezahlen? Wirtschaftsminister Robert Habeck und Kanzler Olaf Scholz im Kabinett.Vergrößern des Bildes
Wer soll das bezahlen? Wirtschaftsminister Robert Habeck und Kanzler Olaf Scholz im Kabinett. (Quelle: IPON/imago-images-bilder)

Schon in zwei Wochen könnte Wladimir Putin Deutschland das Gas endgültig abdrehen. Dann droht der Republik der Ausnahmezustand.

Es gibt ein Datum, an dem sich entscheidet, ob es schlimm wird in Deutschland oder sehr, sehr schlimm. Das Datum ist der 22. Juli, ein Freitag, das Wochenende beginnt, der Großteil der Republik ist dann in den Sommerferien, manche am Meer.

Auch Olaf Scholz und Robert Habeck werden sich an diesem Tag mit der Ostsee beschäftigen. Doch wenn es so kommt, wie viele im politischen Berlin befürchten, dann ist sie für den Kanzler und den Wirtschaftsminister ganz und gar kein Ort der Entspannung.

In der Ostsee nämlich, tief unten auf dem Meeresgrund, müsste eigentlich ab dem 22. Juli wieder Gas aus Russland nach Deutschland fließen. Zwei Rohre verbinden dort auf 1.224 Kilometern das russische Wyborg mit dem mecklenburg-vorpommerischen Lubmin: die Gas-Pipeline Nord Stream 1.

Russland pumpt schon seit einigen Wochen nur noch rund 40 Prozent der Mengen durch die Rohre, die eigentlich durchpassen würden. Aus politischen Gründen, da ist man sich in der Bundesregierung sicher, wegen der deutschen Hilfe für die Ukraine. Doch am 11. Juli wird der Gasfluss ganz versiegen. Es stehen reguläre Wartungsarbeiten an, die zehn Tage dauern, in normalen Zeiten keine große Sache.

Doch normal ist gerade kaum noch etwas. Und deshalb fragt man sich in Berlin hinter vorgehaltener Hand schon seit Wochen: Was, wenn auch am 22. Juli kein Gas strömt? Wenn Russland sagt, huch, da ist etwas schiefgegangen, da fehlt uns noch eine Schraube, das wird dauern, da können wir leider gar nichts machen?

"Superüberraschend", sagte selbst Wirtschaftsminister Robert Habeck gerade erst leicht ironisch, käme ein solches Szenario nicht. Was so viel heißt wie: Es wäre der perfekte Vorwand für Wladimir Putin, das Gas ganz abzudrehen.

Und damit wäre es auch ein Tag der Entscheidung für Deutschland. Denn sollte das passieren, dann sind die Folgen kaum abzusehen. Und was abzusehen ist, das ist dramatisch. Der Staat müsste wohl nicht nur selbst dafür sorgen, dass Krankenhäuser noch mit Energie versorgt werden. Er müsste auch darüber entscheiden, welche Unternehmen oder sogar Industriezweige abgeschaltet werden.

Deutschland würde auf eine Art Kriegswirtschaft zusteuern. Und die Antworten der Politik auf die Krise, über die gerade noch heftig gestritten wird, die paar Milliarden Euro für weitere Entlastungen – diese Antworten würden auf einmal lächerlich klein anmuten. Viel zu klein für die riesengroßen Probleme.

Die verzweifelte Suche nach Energie

Wie groß die Probleme wären, wenn kein Gas mehr durch Nord Stream 1 flösse, das hat nach gutem deutschen Brauch gerade erst eine Behörde berechnet. Was in der Corona-Krise das Robert Koch-Institut ist, also die hochoffizielle Kassandra, das ist in dieser Energiekrise die Bundesnetzagentur. Der Lothar Wieler heißt dort Klaus Müller.

Das Referat 623 in Klaus Müllers Haus hat kürzlich eine Powerpoint-Präsentation erstellt. Sie trägt den nicht sonderlich griffigen Titel "Gas-Mengengerüst von 06/22 bis 06/23". Sie könnte aber auch "Robert Habecks Albträume" heißen. Denn von den Szenarien, die sie für die Gasversorgung der nächsten Monate darstellt, ist keines so richtig gut, die meisten sind sogar richtig schlecht. Und das sind auch noch die realistischeren.

Damit es im Fall des Nord-Stream-Stopps nicht zu einem Gasmangel kommt, müssen gleich drei Voraussetzungen erfüllt sein, die allesamt kompliziert sind. Deutschland müsste den Export von Gas weiter reduzieren, was auf einem europäischen Markt wie dem für Energie eigentlich keine gute Idee ist. Deutschland müsste darüber hinaus seinen Gasverbrauch insgesamt um ganze 20 Prozent senken, was selbst Ampelpolitiker für ein ziemlich ambitioniertes Ziel halten. Und es müssten schließlich bis Ende des Jahres gleich zwei der schwimmenden LNG-Terminals fertig werden, deren Bau gerade auch nicht wirklich rund läuft.

Kann alles irgendwie klappen, muss aber nicht.

Dabei ist es nicht so, als würde die Bundesregierung nichts tun gegen die Energiearmut. Robert Habeck fliegt ausgerechnet nach Katar, um Deutschland Gas zu sichern, sein Ministerium versucht in aller Welt das Gleiche, nur mit weniger Kameras. Und nicht nur Privatleute werden mit großen Kampagnen zum Energiesparen aufgerufen. Auch die Industrie kann sich übrig gebliebenes Gas jetzt für viel Geld abkaufen lassen.

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Erst kürzlich hat Habeck grünen Horror wahr gemacht und mehr Kohlekraftwerke als Reserve für den Notfall vorgehalten. Und der Notfall ist jetzt. Wenn das Gesetz verabschiedet ist, sollen Kohlekraftwerke sofort wieder laufen, möglichst schon zum Nord-Stream-Stopp am 11. Juli.

Klimaschutz? Naja, später.

Es ist der ziemlich verzweifelte Versuch, auch bei der Stromproduktion Gas einzusparen, indem man es durch Kohle ersetzt. Was tut man nicht alles als grüner Minister? Die Antwort lautet: Eigentlich nur eine Sache. Die drei Atomkraftkraftwerke, die Ende des Jahres vom Netz gehen, will Habeck nicht weiterlaufen lassen. Zu wenig Nutzen, zu viel Risiko, so hat es ihm sein Ministerium aufgeschrieben.

Aber ob all das auch ausreicht, um die Gasspeicher jetzt so vollzupumpen, dass im Winter alle genug haben? Daran zweifeln selbst Politiker der Ampelkoalition.

Und die Fachleute warnen. "In der Industrie und bei den Haushalten muss man nun alle Einsparpotenziale heben, um möglichst frühzeitig und umfangreich die Speicher zu füllen", sagt die Wirtschaftsweise Veronika Grimm t-online. "Sonst kann es im Winter zu einer Gaslücke kommen, wenn Russland über längere Zeit wenig oder gar nicht liefert, mit entsprechend gravierenden Folgen für die Wirtschaft."

Wer bekommt Gas – und wer nicht?

Der bayerische Ministerpräsident weiß schon jetzt Bescheid. Es werde "eine Art Gas-Triage" kommen, orakelte er gerade erst. Und was dann? Sollte das Gas tatsächlich nicht reichen, sollte Putin wirklich weniger liefern, als Deutschland einsparen kann, dann werden Klaus Müller und seine Bundesnetzagentur noch wichtiger. Die Notfallstufe des Notfallplans Gas würde ausgerufen – und die Bundesnetzagentur würde zum Bundeslastverteiler.

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Was kryptisch klingt, hat sehr handfeste Auswirkungen. In einem Lagezentrum, das über eine eigene Stromerzeugung und Wasserversorgung verfügt, würden künftig 65 Leute im Schichtbetrieb rund um die Uhr daran arbeiten, dass die Gasversorgung nicht komplett zusammenbricht. Und das heißt: Der Staat bestimmt im Zweifel, wer überhaupt noch Gas bekommt – und wer nicht.

Privathaushalte und kritische Infrastrukturen wie Krankenhäuser oder Pflegeheime sind dabei besonders geschützt, sie würden als Letztes abgeschaltet, wenn überhaupt. Theoretisch.

Denn praktisch lässt sich auf einem Zettel schon jetzt begutachten, dass Haushalte eben keineswegs fein raus sind. Auf einem Aushang an die Mieter der Wohnungsgenossenschaft Dippoldiswalde im Erzgebirge heißt es: "Kurzfristig" müsse man die Betriebszeiten für Heizung und Warmwasser "anpassen". Die Anpassung sieht so aus: Warmes Wasser zum Duschen gibt es nur noch zwischen 4 und 8 Uhr, zwischen 11 und 13 sowie 17 und 21 Uhr. Sonst bleibt das Wasser kalt. Die Heizung kann bis September gar nicht benutzt werden.

Die Wohnungsgenossenschaft sieht keine andere Möglichkeit, heißt es, um die Mieter vor zu hohen Preisen zu schützen: Man wolle, dass diese "gut durch diese Krise kommen".

Es ist nicht so, dass Dippoldiswalde ein Einzelfall einer vermeintlich übereifrigen Wohnungsgenossenschaft ist. Auch in Hamburg hat gerade erst der grüne Umweltsenator Jens Kerstan angekündigt, dass es Warmwasser im Notfall bei akutem Gasmangel nur zu bestimmten Tageszeiten geben könnte. Die maximale Raumtemperatur im Fernwärmenetz könne im Zweifel ebenfalls runtergedreht werden.

Das liegt auch daran, dass in Hamburg so wie in mehreren deutschen Regionen gar nicht zu unterscheiden ist, ob Unternehmen oder Privatkunden mit Gas beliefert werden. Oft schlicht, weil sie sich dieselbe Leitung teilen.

Die Kettenreaktion

Dippoldiswalde und Hamburg haben recht, die Wärmeversorgung ist in Deutschland ein riesiger Gasfresser. Rund 31 Prozent entfallen allein darauf. Noch mehr Gas aber verbraucht die deutsche Wirtschaft. Allein die Industrie verbraucht ganze 37 Prozent des Gases.

Hungrige Riesen wie BASF und Thyssenkrupp rechnen deshalb längst durch, was verschiedene Mangelszenarien für sie bedeuten würden. Bei bis zu 50 Prozent weniger Gas könnten beide wohl mit geringerer Last weiterproduzieren. Danach müssten beide erst einmal komplett herunterfahren. Mit unabsehbaren Folgen.

Denn Unternehmen, die auf Stahl von Thyssenkrupp oder Chemieprodukte von BASF angewiesen sind, müssten im Zweifel ebenfalls ihre Produktion stoppen. Sofern sie nicht andernorts schnell Ersatz finden, der umkämpft und dementsprechend teuer sein wird. Die berühmten Lieferketten – sie würden brüchig und irgendwann reißen.

Welchen Unternehmen in Deutschland in welcher Reihenfolge im Notfall das Gas abgeschaltet wird, dafür gibt es keinen genauen Plan. Kann es nicht geben, heißt es, weil so viele Fragen im Einzelfall eine Rolle spielen. Was heißt ein Gasstopp für die Lieferketten, für die gesamte Volkswirtschaft? Aber auch: Was bedeutet er für den Betrieb? Glasöfen etwa können aus technischen Gründen nicht einfach aus- und wieder eingeschaltet werden; der Betrieb wäre über Monate dicht und wohl schnell: pleite.

Schon jetzt hat das Robert Habeck deshalb Kreditprogramme für die Wirtschaft verfügbar gemacht. Aber der Staat wird im Notfall nicht nur Industrieunternehmen retten müssen, damit nicht viele Tausende Jobs verloren gehen. Auch den Energieunternehmen selbst droht die Pleite – und auch hier: eine fatale Kettenreaktion. Der größte deutsche Gasversorger Uniper etwa ist schon in gewaltigen Schwierigkeiten, weil er das Gas derzeit viel teurer einkaufen muss, als er es vertraglich an viele Stadtwerke weiterverkaufen kann.

Damit Uniper nicht pleitegeht und in der Folge auch die Stadtwerke in Schwierigkeiten geraten, bereitet das Wirtschaftsministerium gerade vor, sich im Notfall selbst dort einkaufen zu können. Es ist die Angst vor dem "Lehman Brothers"-Effekt, die zum Teil fast schon absurde Blüten trägt. So hat das Wirtschaftsministerium zuletzt auch die Grundlagen dafür geschaffen, dass Energieversorger bald die gestiegenen Beschaffungskosten unmittelbar an die Haushalte weitergeben könnten.

Der ominöse Paragraf 24 des Energiesicherungsgesetzes ist noch nicht in Kraft – und für eine gute Lösung hält ihn ohnehin niemand. Denn die Politik würde damit die Preise für die Menschen noch einmal kräftig steigen lassen – um die Energieversorger zu retten.

Nur was, wenn es keine guten Lösungen mehr gibt?

Luxusgut Butter

Denn die rasant steigenden Energiekosten sind ja nicht das einzige Problem. Die Preise steigen auf breiter Front. Noch vor einigen Monaten kosteten 250 Gramm Butter unter 1,80 Euro, jetzt liegt der Preis oft bei rund 3,50 Euro. Ein Grundnahrungsmittel wird beinahe schon zum Luxusgut.

Die Preise für Lebensmittel sind fast überall erheblich gestiegen, im Supermarkt müssen viele Deutsche überlegen, was sie sich überhaupt noch leisten wollen, leisten können. Und diese Spirale könnte sich noch erheblich weiter in die Höhe schrauben, wenn die Energiepreise durch Gasmangel und Rezession weiter steigen.

Klar ist: Wenn selbst Grundnahrungsmittel immer teurer werden, ist die soziale Sprengkraft enorm. Gunther Schnabl, der das Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität Leipzig leitet, drückt es drastisch aus: "Hohe Inflation hat oft die Grenzen darin, dass die Menschen auf die Barrikaden gehen. Die französische Revolution begann damit, dass sich die Leute das Brot nicht mehr leisten konnten", sagt er t-online. "Noch sind wir davon weit entfernt – doch in ärmeren Ländern wie Sri Lanka und Pakistan gibt es bereits Proteste."

Möglich wäre zwar, dass der Staat lebensnotwendige Güter subventioniert. Doch in vielen Ländern würde das bedeuten, dass er hohe Schulden macht. Die Europäische Zentralbank würde vermutlich Staatsanleihen ausgeben müssen, was im Endeffekt die Inflation nur noch weiter verstärkt.

"Es ist noch mehr Geld im Umlauf, was den Inflationsdruck weiter verstärkt", erklärt Schnabl. "Denn es gilt: Wenn mehr Geld weniger Gütern hinterherjagt – dann steigen die Preise." Doch was dann? Die Preise für Lebensmittel könnten theoretisch auch gedeckelt werden. Mit freier Marktwirtschaft hätte das allerdings nicht mehr viel zu tun. Die Linkspartei stört das traditionell wenig. Sie fordert den Preisdeckel für Nahrungsmittel schon jetzt.

Entlastungen, und wenn ja: wie viele?

Man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, dass die Diskussion um Entlastungen die Politik im Herbst dominieren wird, noch mehr als ohnehin schon. Die Politik war nicht untätig, sie hat schon zwei Entlastungspakete mit einem Volumen von 30 Milliarden Euro verabschiedet.

Besonders Finanzminister Christian Lindner, der ohnehin sparen möchte, findet: Das reicht erst mal für dieses Jahr. Das Geld müsse ja auch ankommen und wirken können. Unterstützung bekommt er dabei vom Bundeskanzler. Auch Olaf Scholz will den Geldhahn vorerst nicht aufdrehen, wenn Putin den Gashahn abdreht. Nur sagt er es bisher nicht so laut wie sein Finanzminister.

Doch in den Parteien der Ampelkoalition sieht das schon anders aus. Bei den Grünen und der SPD drängen viele auf weitere Unterstützungen. Denn im Herbst dürften extrem hohe Nebenkostenabrechnungen in den Briefkästen der Deutschen landen. Und dann? Soll der Staat die Hände in den Schoß legen und der Kanzler sagen: "Dann zahlt mal schön?" Das sei nicht durchzuhalten, glauben viele bei SPD und Grünen.

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Doch woher nehmen, das viele Geld? Auch diese Debatte dürfte lauter werden, wenn Putin wirklich ernst macht. SPD und Grüne fordern seit vielen Wochen eine Übergewinnsteuer, die Profiteure der Krise zur Kasse bittet. Eine andere Idee hat der grüne Finanzminister von Baden-Württemberg eingebracht. Daniel Bayaz gilt als Hoffnungsträger in seiner Partei. Er schlug kürzlich einen "Kriegssoli" vor. Gezielte Steuererhöhungen sollen die Kassen des Staates füllen, damit an anderer Stelle entlastet werden kann.

Finanzminister Lindner winkt bislang bei beidem ab, schon das Wort "Steuererhöhungen" löst beim FDP-Chef Abwehrreflexe aus. Doch auch bei den Liberalen ist man sich einig: Der Herbst könnte eine enorme Belastung werden. Was genau dann zu tun ist, da will man aber noch abwarten. Erst mal, so sagt mancher hinter vorgehaltener Hand, müsse man abwarten, was Wladimir Putin tatsächlich am 22. Juli mache.

Verwendete Quellen
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