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Israel – Gaza, Ukraine, China: Historiker Neitzel über Kriege und Konflikte


Historiker Sönke Neitzel
Weltweiter Flächenbrand? "Ist jetzt eine reale Gefahr"

InterviewVon Simon Cleven

Aktualisiert am 02.11.2023Lesedauer: 7 Min.
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Zwei Männer gegen den Westen: Chinas Staatschef Xi Jinping und der russische Präsident Wladimir Putin begrüßen sich bei einem Treffen im März in Moskau. (Quelle: IMAGO/Xie Huanchi/imago-images-bilder)

Weltweit stellen Kriege und Krisen den Westen vor große Herausforderungen. Besteht die Gefahr eines Flächenbrands? Historiker Sönke Neitzel zieht Parallelen zur Phase vor dem Zweiten Weltkrieg.

Angesichts von Kriegen in der Ukraine und in Israel wächst die Angst vor einem weltweiten Flächenbrand. Neben diesen heißen Kriegen aber schwelen in verschiedenen Regionen weitere Konflikte, die die Aussicht auf eine friedliche Zukunft weiter verdüstern könnten. China betrachtet die Inselrepublik Taiwan als eigenes Staatsgebiet und bedroht das Land offen. Im Kaukasus hatte Aserbaidschan zuletzt militärisch Fakten geschaffen und die Region Bergkarabach erobert, die mehrheitlich von Armeniern bewohnt wurde.

Besonderes Augenmerk sollte laut dem Militärhistoriker Sönke Neitzel zudem auf denjenigen Staaten liegen, die sich in diesen Konflikten bisher nicht klar positionieren. Im Interview mit t-online erklärt Neitzel, wo derzeit die größten Herausforderungen für den Westen liegen und warum es mittelfristig auf der Welt wohl eher nicht friedlicher werden wird.

Herr Neitzel, in der Ukraine tobt ein brutaler Krieg, Israel hat einen Krieg gegen die Terrororganisation Hamas ausgerufen und China droht Taiwan mit einer Invasion. Leben wir in einer besonders krisengeplagten Zeit?

Sönke Neitzel: Als Historiker muss ich natürlich sagen, dass es andere Phasen in der Geschichte gab, die noch viel krisenhafter waren. Ich denke da an das Zeitalter der Weltkriege, den Dreißigjährigen Krieg oder auch die Napoleonischen Kriege. Seit 1945 leben wir aber in einer Phase der relativen Stabilität. Der Kalte Krieg beschwor zwar die Gefahr einer globalen Katastrophe herauf. Diese Gefahr war meines Ermessens aber sehr gering. Allerspätestens mit der russischen Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 ist diese Stabilität zusammengebrochen.

Wie konnte das passieren?

Nach dem Kalten Krieg ist die Hoffnung gewesen, dass sich die liberale Demokratie weltweit durchsetzt. Wirklich durchgesetzt hat sich die vom Westen erdachte regelbasierte Weltordnung aber nie. Das ist uns jedoch erst mit dem Krieg in der Ukraine wirklich bewusst geworden. Denn dies ist nicht nur ein regionaler Konflikt. Putin geht es dabei um viel mehr: den Kampf gegen den Westen und die Zerstörung der Ukraine. Und darüber hinaus – das hat er mehrfach deutlich gemacht – will Putin den Abzug der Amerikaner aus Europa, letztlich die Abspaltung Europas von den USA.

Wie passt das mit den Krisen im Nahen Osten und Ostasien zusammen?

Mit Russland, China und dem Iran gibt es weltweit mindestens drei Revisionsmächte, die gegen die liberale Weltordnung nach westlichem Vorbild Widerstand leisten und bereit sind, dazu auch militärische Mittel einzusetzen. Und sie haben zuletzt gemerkt, dass man mit solchen Mitteln durchaus Erfolge erzielen kann. Aserbaidschan hat Bergkarabach militärisch erobert, Syriens Präsident Baschar al-Assad war im Bürgerkrieg militärisch erfolgreich und Putin will es in der Ukraine sein. Die große Gefahr ist jetzt, dass sich Konfliktherde nicht isolieren lassen, sondern zusammenwachsen.

Wie realistisch ist ein solcher Flächenbrand?

Der Zweite Weltkrieg, als erster echter globaler Krieg, ist aus einem europäischen Konflikt und einem Konfliktherd in Ostasien erwachsen. Was viele vergessen: Unter diesem "Dach" wurden zudem etliche Bürgerkriege und kleinere zwischenstaatliche Konflikte ausgetragen, die den Flächenbrand weiter angeheizt haben. Das ist auch jetzt eine reale Gefahr. Denn hinter den drei genannten Revisionsmächten stehen weitere Länder, die sich unterschiedlich – und nicht unbedingt pro-westlich – positionieren.

Welche Länder sehen Sie da?

Als Allererstes muss man da sicherlich Südafrika, Brasilien und Indien nennen. Diese Länder haben das Gefühl, dass die westliche Ordnung für sie nicht immer unbedingt gilt. Im Ukraine-Krieg haben sie nicht automatisch Position bezogen, sehen die Ursache sowohl aufseiten der Nato als auch Russlands. Im derzeit schwierigen internationalen Fahrwasser versuchen sie, sich zum eigenen Vorteil durchzumanövrieren.

(Quelle: Kai Bublitz)

Sönke Neitzel (55) ist Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam. Sein Schwerpunkt liegt auf der internationalen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie auf der Geschichte der Bundeswehr. Im Jahr 2020 legte Neitzel eine Militärgeschichte der deutschen Streitkräfte vor: "Deutsche Krieger: Vom Kaiserreich zur Berliner Republik".

Bei welchem Konflikt sehen Sie derzeit das größte Potenzial, einen Flächenbrand auszulösen?

Sowohl die Kriege in der Ukraine und in Israel als auch der Taiwan-Konflikt haben dieses Potenzial. Man stelle sich mal vor, die Terrororganisation Hisbollah oder der Iran würden in den Krieg in Israel eingreifen. Auch der Ukraine-Krieg kann sich durchaus noch ausdehnen. Und der Taiwan-Konflikt kann schon allein wegen der beteiligten Mächte, China und USA, zu einem Flächenbrand werden. Dort wissen wir noch am wenigsten: Wie verhalten sich andere Länder der Region in diesem Fall? Würde Nordkorea dann seine Chance wittern?

Das ist eine wahrlich komplexe Ausgangslage. Was sollte der Westen nun tun?

Wir müssen wehrhaft werden. Das betrifft vor allem Europa und Deutschland. Aktuell sind die USA der einzige Staat, der wirklich fähig ist, die westliche Weltordnung zu verteidigen. Sie haben zwei Flugzeugträgerverbände in das östliche Mittelmeer geschickt. Von einem solchen Engagement ist von europäischer Seite nichts zu sehen. Man merkt jetzt, dass Europa im Nahen Osten sicherheitspolitisch keine Rolle spielt, genauso sieht es in Ostasien aus. Und nicht zuletzt können wir auch aus der Geschichte lernen.

Worauf wollen Sie hinaus?

Auch in den 1920er- und 30er-Jahren gab es Krisen, die die Demokratien erschüttert haben. Da gibt es jetzt durchaus Parallelen, wenn auch teils unterschiedliche Konstellationen. Eine Lehre daraus sollte aber sein, dass wir die Demokratie nach innen wie außen stärken. Und zudem müssen wir unsere Wehrhaftigkeit massiv verbessern.

  • Wie sich der Konflikt in Gaza auf den Krieg in der Ukraine auswirkt, können Sie hier im Tagesanbruch-Podcast nachhören:
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Erinnert Sie die derzeitige Situation an die Appeasement-Politik (Entspannungspolitik, d. Red.) der Briten in der 30er-Jahren?

Nein und ja. Die Briten haben die damaligen Konfliktherde durchaus im Blick gehabt und haben versucht, diese Konfliktherde auseinanderzuhalten und den globalen Frieden zu bewahren. Damals gab es aber keine so starke Macht wie die USA jetzt. Die Vereinigten Staaten können an zwei Fronten notfalls einen großen Krieg führen, das konnten damals weder die Briten noch die Franzosen. Die Briten haben die Appeasement-Politik aber auch gemacht, um Zeit zu gewinnen und massiv aufzurüsten. Und letztlich waren sie dann auch bereit, Krieg zu führen.

Zeit haben wir jetzt nicht. Sowohl die Ukraine als auch Israel stellen sich auf lange Kriege ein. Lassen sich diese Konflikte vom Westen überhaupt noch eingrenzen?

Im Nahen Osten bin ich da skeptisch. Die Führung der Terrororganisation Hamas sitzt in Doha und lässt sich nicht ausschalten. Daneben gibt es andere arabische Bewegungen, die die Rolle der Hamas übernehmen könnten, wenn diese stark geschwächt wird. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass der Konflikt wohl noch Jahrzehnte andauern wird.

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Und in der Ukraine?

Da macht sich im Westen langsam die Kriegsmüdigkeit breit. Viele glauben, dass Friedensverhandlungen den Krieg beenden könnten. Das halte ich für eine Illusion. Putin will die Ukraine zerstören, wähnt sich am längeren Hebel und hat keinen Grund, den Krieg abzubrechen. Der Westen wiederum liefert der Ukraine aus politischen und wirtschaftlichen Gründen nicht in dem Umfang Waffen, den sie bräuchte, um die Russen aus dem Land zu verdrängen.

Was bedeutet das also für die Dauer des Krieges in der Ukraine?

Das deutet alles auf einen Krieg hin, der noch lange andauern wird. Und die Ukraine kann diesen Krieg verlieren. Selbst ein Waffenstillstand würde vielleicht die Kämpfe für den Augenblick beenden, aber eben nicht den Konflikt. Zwischen Russland und dem Osmanischen Reich wurden 300 Jahre lang immer wieder Kriege geführt. Zieht man diese Parallele, würde ich sagen: Wir stehen vor einem Zeitalter langwährender Konflikte.

Gerade für das friedensverwöhnte Europa sind das düstere Aussichten. Welche Schlussfolgerungen sollten wir daraus ziehen?

Eine Schlussfolgerung ist sicherlich, dass wir nicht vorhersehen können, wie sich Krisen entwickeln. Europa muss deshalb nach Schritten wie dem Schengenabkommen und der Einführung des Euro den nächsten großen Integrationsschritt wagen: im Bereich der Sicherheit. Dort haben wir bisher kaum Integration. Wenn Europa in diesem Bereich seine Hausaufgaben nicht macht und sich besser koordiniert, dann spielen wir sicherheitspolitisch weiter keine Rolle und sind völlig abhängig von den USA. Und sollten die Vereinigten Staaten diese Rolle in Europa nicht mehr übernehmen wollen und können, dann diktieren Putin und andere den Takt der Weltgeschichte.

Wie sollte die Bundesregierung in dieser Lage handeln?

Wir müssen die Versprechen einhalten, die wir der Nato gegeben haben. Dazu zählt das Zwei-Prozent-Ziel, aber auch das Versprechen von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, bis 2025 35.000 kampfbereite Soldaten für die neue Verteidigungsstrategie der Nato bereitzustellen.

Halten Sie das für realistisch?

Nein, das denke ich nicht. Einerseits gibt es natürlich Schwierigkeiten der Industrie, schnell Waffen zu produzieren. Andererseits sehe ich aber auch nicht, dass die dringend notwendigen, großen Reformen angegangen werden. Dabei sind Pistorius, aber auch der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, in der Pflicht. Bisher erkenne ich an dieser Stelle aber eher die Angst, groß zu denken. Ohne große Reformen kann der Supertanker Bundeswehr aber nicht gedreht werden.

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Groß gedacht wird in der Bundesregierung durchaus. Erst im vergangenen Jahr wurde das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen auf den Weg gebracht. Wäre das Geld also in einer europäischen Initiative besser investiert gewesen?

Das glaube ich nicht. Es ist schon richtig, in die Bundeswehr zu investieren, und es war auch ein großer Schritt. Aber neben dem Geld braucht man unbedingten Reformwillen. Und ich denke nicht, dass wir bis 2025 sagen können: Die Bundeswehr ist vom Kopf auf die Füße gestellt worden, dass sie in der Lage wäre, etwa mit litauischen Start-up-Unternehmen Drohnen in einem Kriegsfall schnell in die Truppe zu bringen. Wir sind unglaublich schwerfällig – und daran hat sich noch nicht viel geändert.

Könnte Deutschland dann zum Zugpferd einer europäischen Initiative für eine Sicherheitskooperation werden?

Wohl kaum. Deutschland macht derzeit eher drei Schritte nach vorn und zwei wieder zurück. Wir müssen erstmal in Europa unsere Hausaufgaben machen und klären, wo wir eigentlich hinwollen. Wollen wir echte Rüstungskooperationen? Wollen wir mehr Integration? Im Moment sehe ich da besonders zwischen Deutschland und Frankreich eher Misstrauen. Die Bereitschaft, wirklich Integration zu gehen, erkenne ich nicht.

Herr Neitzel, vielen Dank für dieses Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefoninterview mit Sönke Neitzel
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