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Tagesanbruch: Massenproteste in Frankreich – Der Zorn reicht tiefer


Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

10.12.2018Lesedauer: 7 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Demonstranten in ParisVergrößern des Bildes
Demonstranten in Paris (Quelle: Chen Yichen/XinHua dpa/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Wenn die Franzosen auf ihre Straßen schauen, sehen sie gelb. Und die Gelben sehen rot. Protestmärsche, brennende Barrikaden, Tote, Verletzte: Eine unbändige Wut hat Zehntausende Menschen in unserem Nachbarland erfasst. Wut auf eine Politik, die als ungerecht empfunden wird, die die kleinen Leute benachteilige und jene begünstige, die sowieso schon alles haben. Die Vermögenssteuer wurde abgeschafft, aber die Mineralölsteuer erhöht: Die "Gelbwesten" haben es nicht schwer, Symbole für Ihre Empörung zu finden.

Aber ihr Zorn reicht tiefer. Er richtet sich gegen eine politische Kaste, die so elitär ist wie in kaum einem anderen europäischen Land. Gegen Leute, die aus wohl gestellten Familien stammen, auf Eliteschulen und Top-Universitäten ausgebildet wurden und nun Karriere als Abgeordnete, Bürokraten, Minister, Präsident machen. Er richtet sich gegen die Nationalversammlung, die das ganze Land repräsentieren soll, aber noch nie so homogen zusammengesetzt gewesen ist wie heute. Denn auch dort sitzen überwiegend gut ausgebildete und sozial gut gestellte Volksvertreter. Der Zorn richtet sich gegen einen Präsidenten, der die verknöcherte Kaste der Sozialdemokraten und Bürgerlichen hinwegfegte und sich als Strahlemann feiern ließ – aber bis heute nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass ihn nur eine Minderheit ins Amt gewählt hat. Mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten boykottierten die Abstimmung oder gaben ihre Stimme seiner Gegnerin Marine Le Pen.

Emmanuel Macron ließ sich davon keine Minute in seinem Elan bremsen. Bei seinem Amtsantritt versprach er, das Land zu einen, und kündigte einen Neuanfang an. Letzteres ist ihm gelungen, Ersteres nicht einmal ansatzweise, im Gegenteil. So erscheint Macron heute als ein strauchelnder Schnellläufer. Als einer, der schwor, jeden Tag eine Reform loszutreten, aber in seinem rastlosen Sprint vergaß, die Bürger mitzunehmen. Der mit dem Kopf durch die Wand wollte, aber sich dabei die Stirn blutig stieß.

So eskalieren in diesen Dezembertagen die seit Jahren schwelenden Konflikte Frankreichs, die der Soziologe Didier Eribon in seinem Bestseller "Rückkehr nach Reims" plastisch beschrieben hat: Es geht nicht mehr um Links und Rechts, denn längst vermischen sich die politischen Lager, verwischen die Extreme. Es geht vielmehr um die wachsende Kluft zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern, um die Diskrepanz zwischen Stadt und Land, zwischen gut ausgebildeten Wohlstandsgewinnern, die Zugang zu Pfründen, Beziehungen, gut bezahlten Jobs haben – und jenen, die sich politisch, sozial und kulturell abgehängt wähnen, die mit kalter Wut zusehen müssen, wie in ihrer Kleinstadt die letzte Fabrik und die letzte Oberschule schließt. Die dann auf Facebook lesen, dass der Mann, der alles anders zu machen versprach, jeden Monat Tausende Euro für seine Visagistin ausgibt und nichts dabei fand, das Tafelgeschirr im Élysée-Palast durch ein neues, hübscheres zu ersetzen, Kostenpunkt: 50.000 Euro.

"Viele Leute in Frankreich leben nicht, sie setzen nur alles daran, um zu überleben", sagt der Lagerist Marc aus der Stadt Pau im Gespräch mit meinen Kollegen von watson.de. "Aber sogar das ist kaum möglich mit 1.200 Euro im Monat. Mir bleibt nach all den Abzügen, Versicherungen und Steuern fast nichts. Ein Kino oder einen Restaurantbesuch mit meiner Freundin, das kann ich mir höchstens einmal pro Jahr leisten. Das ist doch kein Leben. Die da oben im Élysée sind doch total abgehoben von der Realität. Ihnen ist nicht bewusst, wie schlecht es uns geht."

Schafft es der da oben im Élysée, das Vertrauen von Marc und all den anderen Zornigen zurückzugewinnen? Er wird ihnen große Zugeständnisse machen müssen. Heute Vormittag trifft er sich mit … nein, nicht mit Vertretern der "Gelbwesten", sondern der Gewerkschaften, der Arbeitgeber, der Nationalversammlung. Er wolle "ihre Stimmen und Vorschläge hören", heißt es aus dem Palast. Abends will er dann eine Fernsehansprache an das französische Volk halten. Ich denke, ich übertreibe nicht, wenn ich schreibe: Es wird die wichtigste Rede seiner bisherigen Präsidentschaft.

Kann uns der wütende Protest bei unseren Nachbarn etwas lehren? Einerseits sollte man vorsichtig mit Vergleichen sein. Frankreich ist zentralistisch, Deutschland ist föderal organisiert, die Bundesländer und Kommunen haben bei uns viel größeren Einfluss. Frankreich ist ein Präsidialsystem mit einem übermächtigen Staatschef, Macron ist nicht der Erste, der in seiner Selbstherrlichkeit den Kontakt zu vielen Bürgern verlor. Hierzulande müssen die Bundeskanzler mehr Rücksicht auf Koalitionen im Bundestag und Mehrheiten im Bundesrat nehmen, komplizierte Mehrheiten schmieden, divergierende Interessen einbinden.

Andererseits: Manche Parallele gibt es schon, und sie stimmt mich bedenklich. Wer sich einmal länger mit Bürgern in Chemnitz, Zwickau oder Dresden unterhalten hat, der hört manches, was man auch bei Didier Eribon lesen und aus dem Mund der "Gelbwesten" hören kann: Zorn über enttäuschte Versprechungen. Das Gefühl, unverschuldet abgehängt worden zu sein. Bei manchen auch die mangelnde Bereitschaft, das eigene Glück selbst zu schmieden, statt auf das Füllhorn des Staates zu warten. Kurz: eine tiefe Kränkung.

Eine verantwortungsvolle Politik versucht, auf solche Stimmungen zu reagieren, indem sie die Enttäuschten nicht ignoriert, sondern auf sie zugeht. Indem sie ihre Repräsentanten in die demokratischen Prozesse einbindet und an der innerparteilichen Willensbildung teilhaben lässt. Wer das so sieht, kann eigentlich nur den Kopf schütteln über das, was die stärkste Partei Deutschlands gerade anstellt: Nach dem Abschied von Angela Merkel als CDU-Chefin wurde kein einziger Stellvertreterposten mit einem Ostdeutschen besetzt. Ein Neuanfang, bei dem Teile der Bevölkerung vernachlässigt werden, kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor? Falls nicht, brauchen Sie diesen Text einfach nur noch mal von vorn zu beginnen.

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WAS STEHT AN?

Keine Frage: Die deutsche Bundeskanzlerin ist die prominenteste Teilnehmerin der heute beginnenden UN-Migrationskonferenz in Marokko. Das darf man getrost als das verstehen, was es sein soll: Ein klares Zeichen, dass Angela Merkel die Migrationspolitik als Chefsache betrachtet. Und dass sie den UN-Migrationspakt, der heute per Akklamation vom Plenum der Konferenz gebilligt werden soll, ausdrücklich unterstützt.

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Wie brisant dieses Abkommen ist, haben nicht nur die deutschen Regierungsparteien in den vergangenen Wochen bitter erfahren müssen. Aus dem rechten Lager rund um die AfD blies ihnen ein so heftiger Proteststurm entgegen, dass auch einige Unionsabgeordnete ins Schwanken gerieten. Aber auch viele Bürger in der Mitte und manche Verfassungsrechtler bezweifelten, dass der Pakt seinen Zweck tatsächlich erfüllen kann: einerseits die gewünschte Ordnung in die globale Migration zu bringen, andererseits so unverbindlich zu sein, dass Deutschland in Zukunft keine unerwünschten Pflichten auferlegt werden können. Ein explosiver Streit, der andernorts sogar noch erbitterter geführt wird als hierzulande: In Belgien zerbrach gestern die Regierungskoalition am Zwist über den UN-Migrationspakt: Die flämisch-nationalistische Regionalpartei N-VA verließ die Regierung, weil der liberale Ministerpräsident Michel darauf bestand, heute in Marrakesch mitzuklatschen.

Vielleicht hat die Bundesregierung auch deshalb vor Merkels Abreise noch einmal klargestellt, worum es beim Migrationspakt aus ihrer Sicht geht. Ich zitiere:

  1. Der Pakt betrifft Migranten, nicht Flüchtlinge.
  2. Er zielt auf die Steuerung legaler Migration und bekennt sich zur Reduzierung illegaler Migration.
  3. Er fordert alle Staaten auf, Schleuser zu bekämpfen.
  4. Herkunftsländer sollen irreguläre Migranten zurücknehmen.
  5. Jeder Staat behält das Recht, seine Migrationspolitik selbst zu bestimmen.
  6. Der Pakt begründet keine rechtlichen Verpflichtungen und keine individuellen Ansprüche.
  7. Er umschreibt das Phänomen Migration erstmals politisch verbindlich als globale Verantwortung.
  8. Er ist in deutschem Interesse.

    Ich erlaube mir hinzuzufügen:
  9. Der Pakt enthält nach wie vor Formulierungen, die im besten Fall missverständlich sind. Im schlechtesten Fall könnten sie auf dem Wege des Gewohnheitsrechts Folgen nach sich ziehen, die ursprünglich nicht intendiert waren.
  10. Der Pakt ist ein Lehrbeispiel dafür, wie politische Kommunikation nicht ablaufen sollte. Zwar fanden die Verhandlungen – anders als von manchen behauptet – keineswegs geheim statt, sondern liefen so öffentlich-bürokratisch wie die meisten Prozesse der Vereinten Nationen. Aber sowohl die Regierungsparteien als auch die Bundesregierung haben das Potenzial des Migrationsthemas unterschätzt, Scharfmachern und Verschwörungstheoretikern einen Vorwand für Hetzkampagnen auf Facebook und YouTube zu liefern.
  11. Deshalb sollten sowohl die Parteien als auch die Regierung ihre Informationspolitik im Internet grundlegend überdenken.
  12. Denn mit der Billigung des Paktes heute in Marrakesch wird der Protest sicher nicht verstummen.

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Noch ein Pakt: Weltweit begehen Aktivisten heute den 70. Jahrestag der UN-Menschenrechtserklärung. "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Ein glänzenderes Versprechen hat unsere Spezies nie hervorgebracht. Und keines, das so oft gebrochen wurde.

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Der Europäische Gerichtshof entscheidet heute Morgen, ob Großbritannien im Falle des Falles seine Austrittserklärung aus der EU einseitig zurücknehmen darf – also ohne die Zustimmung aller EU-Staaten. Der Fall des Falles könnte schon morgen Abend zur Diskussion stehen: Da stimmt das Parlament in London über den Brexit-Deal ab. Sieht so aus, als würde er scheitern.

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Ach ja, und ab Mittag sollten sie wieder ohne Fluchen Bahn fahren können. Vielleicht komme ja auch ich heute noch nach Berlin.

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WAS LESEN?

Der CDU-Parteitag sollte ein Zeichen des Aufbruchs setzen, markierte zugleich aber das Ende einer Ära: 18 Jahre lang hat Angela Merkel die Partei geführt. Als sie den Vorsitz übernahm, lag die CDU wegen der Spendenaffäre am Boden, in New York standen die Zwillingstürme noch, und in Deutschland machte Gerhard Schröder Basta-Politik. Was bleibt von den langen Merkel-Jahren? Unsere Politikchefin Tatjana Heid kommt in ihrer Analyse zu dem Schluss, dass Merkel vor allem eines verändert hat: den Stil von Politik.

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Unser Kolumnist Gerhard Spörl schaut nach vorn: Wozu ist die neue Führung um Annegret Kramp-Karrenbauer imstande? Im kommenden Jahr stehe ihr ein Höllenritt bevor, meint er, und prophezeit: Wie sie den hinter sich bringt, entscheidet über ihre Zukunft.

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Kurz vor Schluss eine Quizfrage: Wie viele Frauen sitzen in den Vorständen von Borussia Dortmund, Schalke 04 und FC Bayern München? Richtig: keine. Der Mangel von Frauen in Führungspositionen ist in den deutschen Fußball-Klubs noch augenfälliger als in anderen Wirtschaftsunternehmen; nur in Einzelfällen schaffen es Frauen über die Presseabteilung hinaus. Eine, die es geschafft hat, ist Katja Kraus. Sie war acht Jahre lang im Vorstand des Hamburger SV tätig und rechnet im Gespräch mit meinem Kollegen Benjamin Zurmühl mit der deutschen Fußballbranche ab: "Frauen können das Land führen und Wirtschaftsunternehmen, aber Fußball-Management wird zur Geheimwissenschaft erklärt." Warum der Fußball ein Sexismusproblem hat und wie sie den Frauenmangel lösen würde, erfahren Sie hier.

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WAS AMÜSIERT MICH?

Erinnern Sie sich noch an die bezaubernde Animation, die ich Ihnen vor einem Monat an dieser Stelle gezeigt habe? Genau, der kleine Schlittenfahrer, der so anmutig zu Beethovens Fünfter über den Bildschirm saust, dass man vor Rührung gar nicht mehr wegschauen kann. So, und jetzt sind Sie dran: Hier und heute können Sie Ihren eigenen Schlittenfahrer zeichnen. Rufen Sie bitte diese Website auf und drücken Sie auf "Play". Der Rest erklärt sich dann von selbst.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen. Kurz vor der Mittagspause sollten Sie dann aber schon noch ein bisschen was arbeiten.

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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