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Tagesanbruch: Die Enteignungsdebatte, europäische Politik und der Brexit


Was heute wichtig ist
Die Wurzeln der Wut

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 10.04.2019Lesedauer: 7 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Theresa May, Angela Merkel.Vergrößern des Bildes
Theresa May, Angela Merkel. (Quelle: Michael Kappeler/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Wie finden Menschen in Städten auch künftig noch bezahlbare Wohnungen? Die Debatte über Enteignungen von Wohnungsgesellschaften hat die Gemüter erhitzt. In der Politik wirbt vor allem die Linkspartei dafür, auch einige Grünen-Politiker finden die Idee nicht übel. Die antisozialistische Allianz aus CDU, CSU, SPD und FDP dagegen verdammt sie mit variabler Vehemenz. Alles schön und gut, aber was denken eigentlich die Bürger? Das wollten wir wissen und haben daher eine repräsentative Umfrage in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse sind bemerkenswert. Mein Kollege Johannes Bebermeier zeigt sie Ihnen hier.


WAS STEHT AN?

Da ist er also: Mittwoch, der 10. April 2019. Die Staatsmänner und -frauen Europas eilen einmal mehr geschäftig nach Brüssel, sagen drei Sätze in die Kameras der Journalisten, ziehen sich dann in den Sitzungssaal zurück, schalten die Mikrofone an dem kreisförmigen Tisch an, reden, feilschen, taktieren. Zwischendurch ziehen sich einige zu Vieraugengesprächen zurück, kommen wieder zurück an den Tisch: mehr reden, mehr feilschen, mehr taktieren. Ein Prozess, der im bunten Gewand der Demokratie daherkommt, aber zu dem eher das Schwarz einer Trauergesellschaft passen würde. Denn dieser Mittwoch markiert einen Endpunkt. Nicht des desolaten Brexit-Prozesses (leider nicht), sondern der europäischen Politikstrukturen. So wie jetzt kann und darf es in Europa nicht weitergehen. Nicht in Brüssel und nicht in Berlin und nicht in den anderen Hauptstädten, aus denen die EU gesteuert wird. Die Kluft zwischen den Bürgern einerseits und den Politikern und Beamten andererseits war nie größer als jetzt. Die einen verstehen die anderen oft nicht mehr, die vielbeschworene Transparenz ist zur Chimäre verkommen. Europa spricht nicht Klartext, sondern Kauderwelsch. Und es reagiert mehr, als dass es agiert.

Dass es so weit gekommen ist, liegt zu einem Teil am gewachsenen Egoismus in vielen europäischen Gesellschaften: Hauptsache, mir geht es gut; Nehmen ist seliger denn Geben. Auch die Kommunikationsprozesse in den sozialen Medien spielen eine Rolle, wo komplexe Probleme auf scheinbar einfache Formeln verkürzt werden und Parolen erfolgreicher sind als Argumente.

Es liegt aber auch an der Arroganz der Macht. Der politischen und der wirtschaftlichen. Denn die größte Macht haben heutzutage nicht mehr Regierungen, sondern Unternehmen, die aufgrund von Innovationskraft und visionären Strategien, aber auch von Kaltblütigkeit und der schamlosen Ausnutzung von Gesetzeslücken und Steuerschlupflöchern eine Größe erreicht haben, die sie unangreifbar macht. Im Zeitalter der digitalen Globalisierung schlägt dabei der Matthäus-Effekt voll ins Kontor: Getreu dem Bibelvers “Wer da hat, dem wird gegeben“, fliegen Gewinne, Datenströme und Einflussmöglichkeiten jenen zu, die ohnehin schon groß und mächtig sind, während kleine Unternehmen und erst recht einzelne Bürger leer ausgehen. Größe erzeugt Macht, und Macht macht sakrosankt. Beispiele dafür gibt es mehr als genug.

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Facebook und Google beherrschen die Kommunikation im Internet, sie luchsen uns unsere persönlichen Daten ab und verticken sie zu Milliardengewinnen an Werbetreibende und dubiose Aktivisten. Die Sicherheit der Nutzer ist ihnen dabei allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz erwiesenermaßen piepegal; alle paar Wochen fliegt ein neuer Fall von Datenmissbrauch auf. Auch die Autohersteller haben systematisch ihre Kunden betrogen, vom Abgasskandal kommen ebenso alle paar Wochen neue Details ans Licht. Hießen die Täter nicht VW, Mercedes und BMW, sondern Cosa Nostra, Camorra und ‘Ndrangheta, die Politik hätte längst eine europaweite Polizeitruppe aufgestellt, um ihre Strukturen zu zerschlagen und die Übeltäter einzubuchten. So aber kommt der Ermittlungs- und Aufklärungs-Elan allenfalls halbherzig daher. Finanzinstitute wie die Commerzbank und die Deutsche Bank wiederum verzockten sich, rasselten in die Finanzkrise, betrogen und täuschten – Geldwäsche, Zinsmanipulation, Handel mit Schrottpapieren: alles dabei. Zur Belohnung dürfen sie nun auf Geheiß von Finanzminister Olaf Scholz über eine Fusion verhandeln, an deren Ende die Investmentbanker die einzigen Gewinner sein könnten. Verkehrte Welt? Reale Welt.

Digitalfirmen, Autokonzerne, Banken und andere Riesenfirmen betrügen, weil sie es können. Und weil die Bundesregierung vor ihrer Macht kuscht. Eine harte Regulierung von Facebook, Google, Amazon? Ein Zwang, endlich angemessene Steuern auf hierzulande verdiente Gewinne zu zahlen? Fehlanzeige. Ein wirklich konsequentes Durchgreifen gegen die Machenschaften der Banken und Autokonzerne? Dito.

Wer sich darüber erregt, erhält allenfalls schwachen Trost: Anderswo ist es auch nicht besser. Der Umgang der Politik mit der Finanzkrise spielte – neben gekränktem Nationalstolz, der sprunghaft gestiegenen Migration und Propagandakampagnen in der Boulevardpresse – eine entscheidende Rolle beim Brexit.

Und damit sind wir zurück in Großbritannien. “Immense Summen flossen in die Rettung des Finanzsystems, das Land schlitterte in eine Rezession, aus Unzufriedenheit wurde massiver Unmut“, schreibt der britische Historiker Ian Kershaw in einem Gastbeitrag in der “Zeit“. ”Die Wut darüber, dass große britische Banken mit den Ersparnissen kleiner Bürger riskante Wettgeschäfte getätigt hatten und nun durch Steuergelder gerettet werden mussten, war enorm – zumal die Verantwortlichen ungestraft, ja sogar mit riesigen Abfindungen davonkamen. Die Sparmaßnahmen, um das durch die Bankenrettung erzeugte Haushaltsloch zu stopfen und die steil gestiegene Staatsverschuldung zu reduzieren, empfanden viele erst recht als empörend. Gewöhnliche Bürger sollten den Preis für das Versagen der Eliten zahlen? Die Regierung, von wohlhabenden, in den teuersten Eliteschulen ausgebildeten Ministern geleitet, schien kein Gespür zu haben für den Alltag in der Provinz, wo die weniger Privilegierten lebten – Männer und Frauen, die jahrelang auf Lohnerhöhungen verzichtet hatten, unsichere Arbeitsverhältnisse ertragen und tiefe Einschnitte bei den öffentlichen Dienstleistungen hinnehmen mussten.“

Die Fehler der Eliten sind ein wesentlicher Grund, warum es überhaupt zum Brexit gekommen und warum der Prozess so aus dem Ruder gelaufen ist. Der Brexit ist auch eine Revolte der ländlichen Bevölkerung gegen die Elite in den Städten, aus der sich die Spitzen von Politik und Wirtschaft rekrutieren. “Nach über 40 Jahren Missachtung durch sie hatten die geringer qualifizierten und in der Provinz lebenden Menschen endlich die Chance, ihre Wut auszudrücken“, erklärt der Ökonom Paul Collier. “Das Gleiche gilt für die Wahl von Donald Trump oder aktuell die Proteste der Gelbwesten in Frankreich. Wir erleben eine Meuterei gegen die Elite in den Städten.“ Das Problem der Elite, so der Professor, sei “ihre Arroganz und ihre Unfähigkeit zu Empathie.“ Auch dort liegen die Wurzeln der Wut. Und sie sind dick geworden, sehr dick. Selbst falls es wider Erwarten doch noch ein zweites Referendum geben sollte: “Die Brexiteers werden wohl niemals nachgeben“, resümiert mein Kollege Stefan Rook in seinem Report.

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Alles dunkel also, keine Hoffnung nirgendwo? Doch. Wo Schatten ist, da ist immer auch Licht, und in diesem Fall scheint es dort, wo wir oft den Gipfel der Abgehobenheit wähnen: In Brüssel gibt es sie ja, die unerschrockenen Kämpfer für die Rechte der Bürger, und in Straßburg gibt es sie auch. Die dänische EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager ist so eine Kämpferin, sie legt sich eiskalt mit Facebook und Google an. Auch Autokonzerne weist die EU-Kommission in die Schranken, gerade erst drohte sie ihnen wegen des Abgasskandals eine Milliardenstrafe an. Auch Großbanken nimmt die EU-Kommission ins Visier – wegen eines möglichen Kartells beim Handel mit Staatsanleihen. Das Europaparlament in Brüssel wiederum macht Druck auf die Deutsche Bank, den Geldwäscheskandal aufzuklären. Vor knapp einem Jahr zitierte das Parlament Facebook-Chef Zuckerberg herbei und löcherte ihn zu seinem dubiosen Geschäftsmodell.

Merke: Wem daran gelegen ist, dass in unserer oft ungerechten Welt die Dinge ein bisschen gerade gerückt und die Riesen in ihrer Macht beschränkt werden, der sollte am 26. Mai wählen gehen. Starke, selbstbewusste europäische Institutionen mögen nicht die Lösung aller unserer Probleme sein – aber sie können dazu beitragen, die Probleme kleiner zu machen und den nationalen Regierungen Beine zu machen. An ihrer Kommunikation allerdings, an der müssen sie noch feilen.

Was das alles mit dem Brexit zu tun hat? So wie es derzeit aussieht, könnte eine Einigung zwischen EU und Großbritannien auf dem Gipfel heute Abend dazu führen, dass die Briten doch noch an der Europawahl teilnehmen müssen. Ein Irrsinn – auf den ersten Gedanken. Auf den zweiten vielleicht aber eine Chance: Womöglich stellt ja mancher Insulaner an der Wahlurne fest, welch großen Schatz er da gerade zu verlieren droht. Das wäre doch was.


Wie Sie sehen, sehen Sie nichts. Na ja, fast nichts. Irgendwas wird da schon sein: Forscher wollen heute zeitgleich auf sechs Pressekonferenzen vorstellen, was sie mit dem weltumspannenden Teleskopnetzwerk “Event Horizon“ fotografiert haben. Sie kündigen eine “bahnbrechende Entdeckung“ an. Gemunkelt wird, dass sie es tatsächlich geschafft haben, erstmals ein Bild eines Schwarzen Loches zu machen. Schauen Sie um 15 Uhr auf t-online.de, dann sehen Sie was.


WAS LESEN?

42 Jahre sind eine lange Zeit. In 42 Jahren werden unzählige Menschen geboren, 42 deutsche Fußballmeister gekürt, Regierungen kommen und gehen, Städte verändern ihr Antlitz, erst recht die weltpolitische Lage. Da ist es schon beeindruckend, wenn über all diese Jahrzehnte das Schicksal eines kleinen Mädchens in einem winzigen bayerischen Ort nicht vergessen wird. Monika Frischholz heißt das Mädchen, das am 26. Mai 1976 nahezu spurlos verschwand. 42 Jahre lang haben Polizisten nicht aufgehört zu ermitteln – und nun sieht es so aus, als könnten sie den Fall womöglich lösen. Mein Kollege Jonas Mueller-Töwe hat die Details.


WAS AMÜSIERT MICH?

Nun habe ich heute einen ganzen Roman über den Brexit geschrieben – aber was denkt eigentlich die Queen darüber? Jetzt wissen wir es endlich.

Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tag.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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