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Tagesanbruch: Emmanuel Macron braucht Angela Merkel jetzt dringend


Was heute wichtig ist
Er braucht sie jetzt. Dringend.

Meinung
Aktualisiert am 29.05.2019Lesedauer: 6 Min.
Macron, Merkel auf dem EU-Gipfel in Brüssel.Vergrößern des BildesMacron, Merkel auf dem EU-Gipfel in Brüssel. (Quelle: Oliver Matthys Pool via REUTERS/Reuters-bilder)
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Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Tag drei nach dem Wahlbeben, und die Verlierer lecken immer noch ihre Wunden. Derer gibt es so viele, dass sie gar nicht wissen, wo sie zuerst lecken sollen – und täglich kommen neue hinzu. In der waidwunden SPD, in der sich "Geschlossenheit" auf "Seltenheit" reimt, bricht der nächste Machtkampf aus. Mancher meint dort mehrere widerstreitende Lager zu beobachten, aber das ist ein Trugbild. Bei den Spitzen-Sozialdemokraten kämpft längst jeder, der einen Teil des letzten Scherfleins Macht erhaschen möchte, für sich allein, und alle kämpfen gegen alle. Es ist einfach, Verlierer zu verlachen, also wollen wir es uns versagen. Aber beim Namen nennen wollen wir die Misere schon – zumal auch an dieser Stelle bereits Vorschläge notiert wurden, wie die SPD ihr Profil schärfen könnte.

Denn es braucht sie ja, eine starke und progressive sozialdemokratische Kraft. Ebenso, wie es eine moderne christdemokratische Kraft braucht – konservativ, aber eben nicht reaktionär. "Das konservative Anliegen, die bewährten Institutionen zu verbessern, zielt auf eine lebendige demokratische Öffentlichkeit, in der profilierte Parteien in offenen Debatten den Wettbewerb um politische Konzepte austragen", schreibt der Historiker Andreas Rödder in seiner Agenda "Konservativ 21.0". "So wird ein liberaler Konservatismus gegenüber allen Fatalisten, Populisten, Utopisten, Konformisten und Moralisten im frühen 21. Jahrhundert zum wahren Hüter der Aufklärung. Konservatismus 21.0 steht für eine offene Gesellschaft, die Grenzen zieht, ohne moralisierend auszugrenzen."

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Weder die SPD unter Andrea Nahles noch die CDU unter Annegret Kramp-Karrenbauer haben derzeit so ein fortschrittliches Profil, und der Unmut darüber wächst in beiden Parteien rasant. Das Willy-Brandt-Haus und das Konrad-Adenauer-Haus schlingern wie zwei leckgeschlagene Tanker auf den stürmischen Wellen der Zeitläufte. Kein Halt, kein Anker, kein Land in Sicht. Die wachsende Distanz zu den Bürgern, die programmatischen Leerstellen, die organisatorische Behäbigkeit und die ungeschickte Kommunikation von CDU und SPD sind in den vergangenen Tagen hinreichend analysiert worden. Angeblich soll nun auch Angela Merkel an AKKs Eignung fürs Kanzleramt zweifeln. Das dürfte die Stimmung auf der CDU-Klausurtagung am Sonntag kaum heben.

Zur akuten Misere der Volksparteien kommt aber etwas hinzu, das mir nicht mehr aus dem Kopf geht, seit ein Tagesanbruch-Leser mir davon berichtete. Der Mann ist Lokalpolitiker und sitzt im Gemeinderat einer nordrhein-westfälischen Stadt. Er schrieb mir:

"In 15 Jahren im Rat der Stadt habe ich gelernt, warum große Fraktionen und deren Mitglieder nicht die Politik machen können, die angebracht wäre. Kurz auf den Punkt gebracht: Fraktionszwang. Hinter vorgehaltener Hand wird immer wieder bestätigt, dass man persönlich anderer Meinung ist, aber mit der Fraktion stimmen muss. Der Weg wird von oben (Berlin) vorgegeben und zieht sich übers Land in die Kommunen. Wenn diese Politiker nicht mitziehen, sind sie weg vom Fenster. Da geht es um Machterhalt. Keiner der Kollegen möchte bei der Fraktionsspitze in Ungnade fallen. Das passiert aber ganz schnell. Also stimmt man immer fröhlich mit, wie von oben vorgegeben. Die gesamte Legislaturperiode. Man möchte ja bei der nächsten Wahl wieder dabei sein. Frei nach dem Motto: Was schert mich meine eigene Meinung! Heute stehe ich im Rampenlicht und möchte dort auch bleiben. Macht man das gut, wird man mit Posten belohnt. Und das ist in Berlin nicht anders."

Man muss diese Schilderung nicht für allgemeingültig halten, aber ich höre derlei nicht zum ersten Mal. Parteien und ihre Fraktionen bemühen sich aus gutem Grund, Geschlossenheit zu wahren; das Gegenteil führt eben auch nicht zum Ziel, wie uns die SPD gerade vorexerziert. Aber blinder Herdentrieb lässt Parteien programmatisch und personell verkümmern. Wer als Oberhirtin verlangt, dass die Schäfchen zu jeder Ansage Ja und Amen blöken, züchtet sich eine Herde homogener Mitläufer, die den Kontakt zur Umwelt verlieren. Und irgendwann wacht man morgens auf und stellt verwundert fest, dass man alle anderen, ihre Anliegen und ihre Sprache nicht mehr versteht. Zum Beispiel diese jungen Leute im Internet. Da hilft es dann auch nicht, denen das Blöken verbieten zu wollen – im Gegenteil: Man vergrößert seine eigene Einsamkeit.

"Die CDU hat ein Problem", analysiert unsere Videochefin Franziska von Kempis in ihrem pointierten Videokommentar. "Nicht nur mit ihrer Parteichefin, nicht nur im Digitalen, sondern auch analog. Sie darf so nicht weitermachen." Ob man das auch im Adenauer-Haus versteht?


ZITAT DES TAGES

!70 Jahre alt und doch wie für YouTube formuliert. Das Grundgesetz schützt unsere Meinungsfreiheit – in allen Medien."

WAS STEHT AN?

Uns Deutschen kann wirklich niemand vorwerfen, dass wir hyperventilieren und uns unnötig aufregen. Wir haben die Ruhe weg. Nebenan, in Frankreich, haben Marine Le Pen und ihr rechtsextremer Wahlverein gerade die meisten Stimmen abgeräumt und liegen knapp vor der Konkurrenz von Präsident Macron. Keine Sorge, das ist kein Erdrutsch, im Gegenteil: Die Rechten haben gegenüber der letzten Europawahl vor fünf Jahren sogar ein wenig verloren. Also alles wie immer. Die Lage ist stabil. Was soll schon sein.

Lassen wir uns von diesem beruhigenden Gefühl ruhig noch ein bisschen einlullen. Frankreich und Deutschland sind die Säulen Europas, da wollen wir an ein Schwanken bitte nicht denken. Ein leichter Schauer läuft uns zwar schon über den Rücken, wenn wir uns an die Präsidentschaftswahl vor zwei Jahren erinnern, als sich die etablierten Parteien Frankreichs zusammenfalteten und der rechte Rand die Hand zum Griff nach der Macht schon ausgestreckt hatte. Doch dann kam er, der weiße Ritter, mit dem keiner gerechnet hatte: Emmanuel Macron verkörperte die Hoffnung, den Neuanfang, den Beginn einer Erfolgsgeschichte, wie es nur auf einem unbeschriebenen Blatt möglich ist. Alle aufrechten Demokraten konnten sich hinter ihm und seiner aus dem Boden gestampften Bewegung versammeln. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, und der vertrieb den dunkelbraunen Schatten.

Inzwischen hat es sich ausgezaubert. Der gute Ruf ist dahin, die Gelbwesten sind auf der Straße, der Schatten ist zurück. Die Nationale Front hat sich ihres martialischen Namens entledigt und kommt inzwischen bürgerlich-konsensfähig als "Nationale Sammlungsbewegung" daher. Selbst den radikal antieuropäischen Kurs hat sich Marine Le Pens Rassemblement National inzwischen wegretuschiert. Denn mithilfe der Rechtsparteien aus ganz Europa erhofft man sich, das verhasste Gebilde geräuscharm von innen zu zerlegen. "Europa der Nationalstaaten" nennt sich die Idee, von der Europäischen Union nur noch den Namen übrig zu lassen. Hierzulande ist sie genauso von der AfD zu hören.

Aber es ist ja nichts passiert. Frankreich hat Macron und wir haben unseren Seelenfrieden. Bei den nächsten Präsidentschaftswahlen werden die Leute ihre tiefe Desillusionierung über den entzauberten Heilsbringer doch hoffentlich überwinden und Le Pen abermals scheitern lassen? Oder vielleicht erscheint ein anderer Messias? Zugegeben, eine Strategie ist das nicht. Eigentlich wäre es besser, die Bundesregierung würde deutsche Interessen oder was sie dafür hält, nicht ganz so hart durchsetzen und Macron mehr als üblich entgegenkommen, jedenfalls wenn es seine politischen Überlebenschancen verbessert. Zum Beispiel mit einer schnelleren europäischen Integration, aber auch bei der Kür des EU-Kommissionspräsidenten. Denn wenn der Élysée-Palast erst einmal von einem Feind der EU bewohnt wird, ist es mit dem europäischen Projekt vorbei. Ja: vorbei. Aus. Futsch. Wenn uns diese Aussicht schon nicht zum Hyperventilieren bringt, sollten wir wenigstens die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge hinter uns lassen. Und endlich aufwachen.

WAS LESEN?

Klimapolitik ist also auf einmal wichtig – aber was müsste Deutschland konkret anders machen, um die Klimakrise schnell einzudämmen? Meine Kollegen Tim Kummert und Rebekka Wiese haben einen gefragt, der es wissen muss.

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Apropos Klima: Beim Klimastreik von Schülern in Deutschland wird ja allenfalls über Fehlstunden gestritten. Für Howey Ou geht es um mehr: Sie demonstriert in China für den Klimaschutz – als bislang erste und einzige Schülerin. Und mein Kollege Lars Wienand wiederum ist der erste Journalist weltweit, dem sie in vielen Direktnachrichten ihre Geschichte erzählt hat. Sie bereitet sich schon auf eine Festnahme vor, und ein Amnesty-Experte hält diese für wahrscheinlich, sollten sich ihr weitere Schüler anschließen. Trotzdem sagt die Chinesin, die nur ein paar Wochen älter ist als Greta Thunberg: "Ich bin nicht sehr mutig."

WAS AMÜSIERT MICH?

Wie kommen AKK, Nahles und ihre Leute denn nun aus der Krise? Sie bräuchten halt jemanden, der Wunder vollbringen, der übers Wasser laufen kann. Ist doch gar nicht so schwer.

Ich wünsche Ihnen einen Wunder-vollen Tag. Morgen pausiert der Tagesanbruch. Am Freitagmorgen bin ich wieder für Sie da.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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