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Zur Klimakonferenz (COP26) in Glasgow: Wir sind voll auf Kamikazekurs


Tagesanbruch
Auf Kamikazekurs

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 02.11.2021Lesedauer: 6 Min.
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Klimaaktivisten um Greta Thunberg demonstrieren am Rande des Weltklimagipfels in Glasgow.Vergrößern des Bildes
Klimaaktivisten um Greta Thunberg demonstrieren am Rande des Weltklimagipfels in Glasgow. (Quelle: Andrew Milligan/PA Wire/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

Reden ist Silber, Handeln ist Gold: Auf diesen Satz lässt sich die Debatte um den Klimaschutz zusammenfassen, die derzeit unzählige Politikeransprachen, Zeitungsseiten und Fernsehminuten füllt. An schönen, auch an drastischen Worten herrscht kein Mangel. "Wir sind nicht da, wo wir hinmüssen", hat Bundeskanzlerin Angela Merkel gestern auf dem Klimagipfel in Glasgow eingestanden. "Dass die Auswirkungen des Klimawandels verheerend sind, wissen wir. Und wir müssen – und ich sage auch: wir können – das Pariser Abkommen umsetzen." Es brauche eine "umfassende Transformation" unseres Lebens, Arbeitens und Wirtschaftens.

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Das sieht auch der amerikanische Präsident Joe Biden so. "Wir stehen an einem Wendepunkt der Weltgeschichte", redete er gestern den anderen Staatschefs ins Gewissen. "Glasgow muss der Startschuss für ein Jahrzehnt des Ehrgeizes und der Entschlossenheit sein." Der Gastgeber der Konferenz sekundierte ihm: "Es ist eine Minute vor Mitternacht auf der Uhr des Weltuntergangs", raunte der britische Premierminister Boris Johnson. Und UN-Generalsekretär António Guterres setzte noch einen obendrauf: "Wir graben unser eigenes Grab." Die Klimaschutzversprechen sämtlicher Staaten reichten vorne und hinten nicht aus, um eine Katastrophe abzuwenden. Die Regierungen müssten endlich die Subventionen für fossile Brennstoffe einstellen, die Kohleförderung beenden und einen verbindlichen Preis für sämtliche Emissionen festlegen. "Es ist an der Zeit, zu sagen: Genug!", verlangte der Portugiese. "Genug brutale Angriffe auf die Artenvielfalt! Genug Selbstzerstörung durch Kohlenstoff! Genug davon, dass die Natur wie eine Toilette behandelt wird! Genug Brände, Bohrungen und Bergbau in immer tiefere Lagen!"

Genug, genug, genug – trotzdem bewegen sich die Regierungen von Peking über Moskau bis London und Washington weiterhin nur mit Trippelschrittchen: Klimaschutz? Ja sicher… aber bitte nicht zu schnell, bitte nicht zu ambitioniert, bitte nicht so, dass es zu sehr schmerzt. Entgegen den wohlklingenden Beteuerungen der Herren Xi, Putin, Johnson, Biden und wie sie alle heißen, ist abzusehen: Auch diese Klimakonferenz wird wieder als ein Monument des Scheiterns in die Menschheitsgeschichte eingehen. "Der letzte große Auftritt der Kanzlerin ist eine absolute Enttäuschung", schreibt unsere Reporterin Theresa Crysmann. Auch diesmal wird die Staatengemeinschaft wieder nicht genug tun, um die Natur und den Lebensraum von Millionen Menschen, Tieren und Pflanzen entschlossen zu schützen. Die Anführer schwingen wohlklingende Reden, aber mit ihren zögerlichen Taten strafen sie sich selbst Lügen. Das ist umso bemerkenswerter, als mittlerweile niemand mehr die Alarmzeichen übersehen kann. Dürren in Afrika, Waldbrände in Kalifornien, Buschfeuer in Australien, aufplatzende Frostböden in Sibirien, Orkane in Osteuropa, Überschwemmungen in Westdeutschland: Rund um den Globus zeigen sich die Vorboten der Katastrophe, die der UN-Generalsekretär beschwört.

Hierzulande sitzen wir in der Klimadebatte gern auf hohem Ross, weil wir vorgeblich mehr tun als andere Länder. Das ist gleichzeitig richtig und falsch. Ja, Deutschland gilt als Vorreiter beim Klimaschutz. Aber nur im Vergleich zu noch viel zögerlicheren Ländern. Auch Deutschland tut nach wie vor viel zu wenig – und sendet damit ein verheerendes Signal an weniger begüterte Staaten, die sich ein Beispiel an uns nehmen. In Indien, Südafrika und Brasilien lehnt man sich behaglich zurück, solange die Klimaschutzpolitik der reichen Staaten eher aus Appellen als aus Aktionen besteht.

Das Ergebnis der Bundestagswahl hat gezeigt, dass viele Bürger unzufrieden mit diesem Kamikazekurs sind. Von den künftigen Ampelkoalitionären aus SPD, Grünen und FDP wird erwartet, dass sie mehr tun – doch ihr Sondierungspapier blieb beim Klimaschutz blass, und auch aus den Koalitionsverhandlungen ist bislang wenig Ambitioniertes zu hören. Mehr noch: Unter dem Druck der steigenden Energiepreise beginnen deutsche Spitzenpolitiker nun, wirksame Klimaschutzvorhaben auszubremsen. FDP-Chef Christian Lindner klammert sich an die Pendlerpauschale, die das Autofahren subventioniert. Wissenschaftler und Steuerexperten halten sie seit Jahren für teuren Humbug. CSU-Chef Markus Söder, die gewichtigste Stimme im Bundesrat, verlangt einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Energie und Kraftstoffe. Damit würde eine weitere klimaschädliche Subvention geschaffen. Und Linken-Häuptling Dietmar Bartsch würde gern die geplante Erhöhung des CO2-Preises zum Jahreswechsel streichen, wenn er denn etwas zu sagen hätte (was glücklicherweise nicht der Fall ist).

Nun mögen Sie sagen: Politiker halt, die hängen ihr Fähnchen in den Wind. Manche von Ihnen mögen auch sagen: Bei galoppierenden Energiepreisen und in einer Jahrhundertkrise wie Corona ist es nicht verkehrt, den Bürgern entgegenzukommen und ihren Geldbeutel zu schonen. Dabei aber ausgerechnet auf das Instrument schmutziger Subventionspolitik zu setzen, ist ebenso aberwitzig wie verantwortungslos. Klimaschutz muss an der richtigen Stelle wehtun. Jeder Bürger muss spüren: Mehr Benzin, Öl und Gas zu verbrauchen, wird richtig teuer. Weil es allen schadet, weil es unsere Welt zerstört. Nur wenn wir spüren, dass wir so nicht weiterwursteln können, werden wir unser Verhalten ändern. Statt Subventionen für Autofahrer, Diesel und Flugbenzin braucht es ein günstiges General-Abo für sämtliche Bahnen und Busse in ganz Deutschland, einen schnellen Ausbau des öffentlichen Regionalverkehrs mitsamt Rund-um-die-Uhr-Betrieb, zusätzliche Expresszüge, die ohne Halt zwischen Metropolen hin und her flitzen, Fahrrad-Schnellwege und eine City-Maut für Autos in jeder Stadt, mehr Güterzüge und hohe Gebühren für Lkw – und das sind nur einige der Ideen für den Verkehrssektor. Ebenso einschneidende Veränderungen braucht es bei der Strom- und Wärmeversorgung, in der Industrie, beim Gebäudebau, in der Landwirtschaft und in der Entwicklungshilfe für ärmere Staaten, die sich den Umstieg nicht leisten können.

Nur China, die USA, Indien, Russland und Japan stoßen noch mehr Treibhausgas aus als Deutschland. In der Europäischen Union ist Deutschlands der größte Emittent. Zusammen sind China, die USA und die EU für mehr als die Hälfte aller Emissionen weltweit verantwortlich. Solange diese drei Mächte beim Klimaschutz nicht wirklich Ernst machen, rückt die ganze Welt jeden Tag einen Schritt weiter auf das apokalyptische Szenario zu, das der UN-Generalsekretär beschworen hat. Es liegt jetzt an jedem Einzelnen, ob wir es so weit kommen lassen.

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Reformator gesucht

Wer soll Armin Laschet ablösen und die CDU wiederaufbauen? Und wie soll der künftige Chef gekürt werden? Zumindest in letzterer Frage gibt es eine Vorentscheidung, seit sich die Kreisvorsitzenden der Krisenpartei am Wochenende mit großer Mehrheit für eine Mitgliederbefragung ausgesprochen haben. Heute wollen Präsidium und Bundesvorstand das Prozedere verbindlich festlegen, und bei aller neu entdeckten Liebe zu Basisdemokratie und Transparenz wird natürlich trotzdem eifrig hinter den Kulissen gekungelt. Der bereits zweimal gescheiterte Politikveteran Friedrich Merz aus Nordrhein-Westfalen, der smarte Außenexperte Norbert Röttgen, ebenfalls aus NRW, der machthungrige Gesundheitsminister Jens Spahn, dito aus NRW, der Bundestags-Fraktionschef Ralph Brinkhaus aus, genau, NRW und der Vorsitzende des Wirtschaftsflügels, Carsten Linnemann, aus, Sie ahnen es, NRW loten ihre Chancen aus und schmieden Allianzen. Ob der Nicht-NRW-Teil der CDU dazu einfach Ja und Amen sagt? Und hat die CDU nach Angela Merkel wirklich keine starken Frauen mehr?


Richtungswahlen in den USA

Bei der Bürgermeisterwahl in New York dürfte die Sache klar sein: In der liberalen Hochburg gilt der demokratische Bewerber, Brooklyns Stadtteil-Präsident Eric Adams, als hoher Favorit vor seinem republikanischen Kontrahenten Curtis Sliwa. Bei der ebenfalls heute stattfindenden Gouverneurswahl in Virginia sagen die Umfragen dagegen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem Demokraten Terry McAuliffe und dem Republikaner Glenn Youngkin voraus. Ein Jahr vor den Kongresswahlen gilt der Ausgang als wichtiger Stimmungsindikator: Drängt die republikanische Partei zurück an die Macht?


Was lesen?

Als junger Journalist kann man von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen viel lernen. So ging es mir einst als Praktikant bei der „tageszeitung“, als ich Bettina Gaus zuhören durfte, wie sie in den Redaktionskonferenzen mit klaren Sätzen die Bundespolitik analysierte: fachkundig, mutig, gewitzt. Nun ist sie viel zu früh gestorben. Die Kollegen haben ihr einen Nachruf gewidmet.


Eine Mitarbeiterin der Berliner Justiz soll dem Verschwörungsideologen Attila Hildmann geholfen haben. Wie groß ist die Gefahr von Corona-Leugnern im Staatsdienst? Meine Kollegen Annika Leister und Lars Wienand berichten.



Noch immer verweigern Millionen Menschen die Impfung gegen Corona, viele unter Berufung auf abstruse Theorien. Meine Kollegin Sandra Simonsen entlarvt die drei größten Impfmythen.


Was amüsiert mich?

Ohne Worte.

Lassen Sie sich nicht verdrießen, steter Tropfen höhlt den Stein. Ich wünsche Ihnen einen engagierten Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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