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Rentner wütend: "Eher gehe ich ins Gefängnis, als diese Steuern zu zahlen"


Rentnerwut auf das Finanzamt
"Eher gehe ich ins Gefängnis, als diese Steuern zu zahlen"


Aktualisiert am 13.12.2021Lesedauer: 7 Min.
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Maritta Stender: Die Unterlagen zu ihrem Steuerfall füllen inzwischen einen ganzen Ordner.Vergrößern des Bildes
Maritta Stender: Die Unterlagen zu ihrem Steuerfall füllen inzwischen einen ganzen Ordner. (Quelle: Christine Holthoff)

Die Vorwürfe im Netz klingen gewaltig: "Hochburg der deutschen Steuermafia", "Steuerskandal der Superlative", "widerlicher Betrug". Der Ärger über das Finanzamt Neubrandenburg ist groß. Zockt der Staat tatsächlich deutsche Rentner im Ausland ab?

Als Maritta Stender im Februar 2019 nach Deutschland zurückkehrt, ahnt sie nicht, welche Odyssee ihr bevorsteht. Es geht um ihr Leben auf Lanzarote, genauer: um die Steuern, die sie während der Zeit im Ausland an den deutschen Staat hätte zahlen sollen.

Ein Umstand, von dem die Rentnerin nichts weiß – bis ihr das Finanzamt Neubrandenburg im September 2019 einen Brief schickt. Die Aufforderung: Nachzahlen, bitte! Und zwar gleich für drei Jahre auf einmal.

1.069 Euro auf einen Schlag, das ist bei einer Rente von knapp 850 Euro im Monat und einem Konto im Dispo gar nicht so einfach. Die 72-Jährige musste sich nach ihrer außerplanmäßigen Rückkehr gerade erst komplett neu einrichten.

Eigentlich ist Stender wegen ihres Rheumas in die Sonne gezogen, doch der Arzt, der ihr dort zugewiesen wird, behandelt sie falsch. Stender entscheidet sich, zurück an die Nordsee zu kehren – und hat dort mit der Steuerforderung gleich das nächste Ärgernis am Hals.

"Ich frage mich, wie das überhaupt sein kann – bei der kleinen Rente." Stender sitzt am Küchentisch ihrer Wohnung in Marienhafe, vor ihr ein dicker Stapel Unterlagen. "In Spanien brauchte ich doch auch keine Steuererklärung abzugeben."

Weitverbreiteter Irrtum unter Auslandsrentnern

Die 72-Jährige ist damit einem Irrtum aufgesessen, der unter Rentnern, die im Ausland leben, weitverbreitet ist: Die Höhe der Renteneinkünfte spielt für die Steuerpflicht in Deutschland keine Rolle. Wer seinen Wohnsitz im Ausland hat, muss den steuerpflichtigen Teil der Rente vom ersten Euro an versteuern. Egal, ob er 2.000 Euro oder 850 Euro pro Monat bezieht.

Der Fachterminus dafür nennt sich "Beschränkt steuerpflichtig". Klingt eigentlich gut, meint aber in der Praxis, dass Auslandsrentner höher besteuert werden, weil ihnen Vergünstigungen wie der steuerliche Grundfreibetrag (2021: 9.744 Euro) nicht zustehen. Der ist nämlich an den Wohnsitz gebunden. Die Folge: Schon bei einer kleinen Rente fallen Steuern an. Lesen Sie hier mehr zur Steuer auf Renten im Ausland.

Gesetzliche Grundlage: 2013 trat die sogenannte EU-Amtshilferichtlinie in Steuerangelegenheiten in Kraft, die seit 2015 angewendet wird. Seitdem können auch Senioren, die im EU-Ausland leben, von den deutschen Finanzbehörden überprüft werden. Hierzu wurde extra das Finanzamt in Neubrandenburg eingerichtet, das zentral für alle Ruheständler zuständig ist, die im Ausland leben und aus Deutschland nur Renten beziehen. Die Behörde weiß von den Renten, weil alle Rentenversicherungsträger, Versorgungswerke und Lebensversicherer Rentenzahlungen an die Finanzämter melden müssen.

Außerdem dürfen Auslandsrentner weder Sonderausgaben noch außergewöhnliche Belastungen geltend machen. Handwerkerkosten oder haushaltsnahe Dienstleistungen wie etwa eine Putzhilfe dürfen sie ebenfalls nicht von der Steuer absetzen. Auch vom Ehegattensplitting profitieren sie nicht.

Vor allem aber gilt für die Ruheständler im Ausland: Sie sind grundsätzlich dazu verpflichtet, jedes Jahr eine Steuererklärung in Deutschland abzugeben. Eine besondere Aufforderung von der Finanzverwaltung bedarf es laut Bundesfinanzministerium nicht.

Rentner können Steuerforderungen aus Deutschland abwehren

Weil Maritta Stender dieser Pflicht nicht nachkommt, als sie noch auf Lanzarote lebt, meldet sich später das Finanzamt bei ihr. So weit, so gesetzeskonform. Das eigentliche Ärgernis sollte aber noch folgen.

Denn eigentlich können Rentner Steuerforderungen aus Deutschland mit einem Antrag auf unbeschränkte Steuerpflicht abwehren. In der Praxis jedoch muss das erst einmal gelingen. Für Stender ist es letztlich unmöglich – obwohl sie alle Voraussetzungen erfüllt.

Rentner können nur dann zwischen beschränkter und unbeschränkter Steuerpflicht wählen, wenn das Einkommen entweder zu mindestens 90 Prozent aus Deutschland stammt und sie daneben nur kleine Einkünfte aus dem Ausland haben. Oder wenn ihre Einkünfte aus dem Ausland, die nicht in Deutschland steuerpflichtig sind, nicht über dem Grundfreibetrag liegen.

Ersteres ist bei Stender zwar der Fall, doch um zu belegen, dass sie neben ihrer deutschen Rente keine weiteren oder nur geringe Einkünfte in Spanien erzielt hat, muss sie die sogenannte EU/EWR-Bescheinigung beim Finanzamt ihres früheren Wohnsitzes in Arrecife auf Lanzarote einreichen. Und die lässt auf sich warten. Wochen, Monate, Jahre.

Abkommen mit Spanien: Das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Deutschland und Spanien hat sich geändert. Ruheständler mit dauerhaftem Wohnsitz in Spanien, die ab 2015 erstmals Rente beziehen, müssen seitdem 5 Prozent Steuern an Deutschland auf ihre gesetzliche Rente zahlen und eine Steuererklärung abgeben. Für Neurentner ab 2030 beträgt der Steuersatz 10 Prozent. Die Regel gilt auch für Betriebs-, Riester- und Rürup-Renten, wenn sie mehr als zwölf Jahre bezuschusst wurden. Um eine Doppelbesteuerung zu vermeiden, muss Spanien die in Deutschland gezahlten Steuern anrechnen.

"Was die mit mir machen, ist reine Schikane", ärgert sich die 72-Jährige. "Warum kommt das Finanzamt erst jetzt damit an, wo ich nicht mehr vor Ort bin?"

Stender versucht herauszufinden, wie sie das Finanzamt in Arrecife von Deutschland aus erreichen kann. Als sie nicht weiterkommt, sucht sie Hilfe bei einer Beraterin auf Lanzarote, die sie schon zu Beginn ihrer Zeit in Spanien bei Behördengängen unterstützt hat. Doch von ihr heißt es nur, das Finanzamt in Arrecife werde keine Bestätigung abgeben, weil Stender in Spanien nicht steuerpflichtig sei.

Also wendet sich die Rentnerin direkt an ihre Sachbearbeiterin beim Finanzamt Neubrandenburg, um einen Kontakt auf Lanzarote zu erfragen. Als Antwort kommt zurück, dass dieser nicht vorliege. Für Stender ein Unding: "Wie soll ich denn die Bescheinigung kriegen, wenn das Finanzamt nicht mal wen auf Lanzarote erreichen kann?"

Rentnerinitiative wirft Finanzamt Steuerbetrug vor

Weil auch mehrere Steuerberater nicht weiterhelfen können, sucht die Rentnerin im Internet nach Rat. Sie stößt auf das Portal "RIA Weltweit", das damit wirbt, als Rentnerschutzbund Rechtsberatung und -hilfe für Rentner im Ausland anzubieten. Der Gegner wird klar benannt: das Finanzamt Neubrandenburg, das für die Steuern von Auslandsrentnern zuständig ist – und dem die Initiative Steuerbetrug vorwirft. Von einer "Hochburg der deutschen Steuermafia" ist gar die Rede, die 370.000 Rentner im Ausland ausnutze, indem sie zu Unrecht Steuern kassiere.

Dem Finanzamt Neubrandenburg sind die Vorwürfe bekannt. Ein Sprecher des Finanzministeriums Mecklenburg-Vorpommern weist im Gespräch mit t-online darauf hin, dass der Initiator nicht mit Klarnamen operiere und man rechtlich gegen ihn vorgehe. Dem Vorwurf, bewusst zu hohe Steuern einzunehmen, entgegnet die Behörde, dass man sich an die Vorgaben des deutschen Steuerrechts halte.

"Bei Fällen mit Auslandsbezug gilt stets eine erhöhte Mitwirkungspflicht", heißt es in einer Antwort der zuständigen Abteilung. Und: "Nach den hier vorliegenden Erkenntnissen stellt die spanische Steuerbehörde die Bescheinigung EU/EWR grundsätzlich problemlos aus." Der Rest seien Einzelfälle.

"Unsinnige Gesetze ohne Bezug zur Realität"

Philipp Dyckerhoff hat andere Erfahrungen gemacht. Seit mehr als 15 Jahren hilft er Deutschen in Spanien dabei, ihr Leben im Ausland zu organisieren. Er sagt: "Die Fälle, bei denen es zu Problemen mit dem Finanzamt Neubrandenburg kommt, häufen sich in den letzten Jahren immer mehr." Er hält es für weltfremd, Auslandsrentnern die Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung aufzuerlegen.

Von "Abzocke", wie es bei "RIA Weltweit" heißt, möchte aber auch er nicht sprechen. Vielmehr gehe es um "unsinnig gestaltete Gesetze, die von Leuten gemacht werden, die keinen Bezug zur Realität der Betroffenen haben", sagt er t-online. "Die Finanzämter in Spanien funktionieren sehr schlecht. Die Probleme, die dadurch entstehen, werden den Bürgern überlassen." So wie Maritta Stender.

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Die ist mittlerweile so wütend, dass sie alles tun würde, um die Steuerforderungen zu umgehen. "Ich zahle nichts, zu dem ich nicht verpflichtet bin", schimpft sie. "Eher gehe ich ins Gefängnis, als diese Steuern zu zahlen."

Dass es so weit nicht kommt, dafür setzt sich ihr Anwalt ein. Im Oktober 2020 reicht er Einspruch gegen die Steuerbescheide aus Neubrandenburg ein, erwirkt, dass ihr Vollzug mehrmals ausgesetzt wird, beantragt einen Erlass der Steuerschuld, füllt mit Stender die EU/EWR-Bescheinigung aus, schickt sie nach Lanzarote. Und wartet. Und wartet.

Es könnte alles viel einfacher sein

Müssen Rentner wirklich so hartnäckig sein, um zu ihrem Recht zu kommen? Nein, sagt FDP-Finanzpolitiker Markus Herbrand – wenn die Behörden die Sache direkt unter sich regeln würden.

"Der deutschen Finanzverwaltung liegen im Rahmen des Automatischen Informations-Austausches (AIA) Vermögenswerte aus mittlerweile über 100 Ländern weltweit vor", sagt Herbrand t-online. "Wenn Einnahmen und Vermögen automatisch gemeldet und anschließend zur Steuerberechnung ausgewertet werden können, sollte das zumindest für die AIA-Mitgliedsländer auch für Nichteinkünfte möglich sein. Dadurch würde unmittelbar klar sein, ob Rentner Steuern zahlen müssen oder nicht."

FDP-Finanzexperte sieht Reformbedarf

Der Austausch zwischen deutschen und anderen Steuerbehörden müsse vereinfacht und digitalisiert werden, um "sinnlose Bürokratie" abzubauen. "Ein persönlicher Behördengang, um diese digital verfügbaren Zahlen auf einem Schriftstück zum Beispiel der spanischen Finanzverwaltung nachweisen zu können, erinnert eher an ein Relikt der analogen Vergangenheit der Finanzverwaltung", sagt Herbrand.

Dass Rentner angesichts des Aufwands vermuten, das Finanzamt Neubrandenburg lege ihnen bewusst Steine in den Weg, kann er nachvollziehen. "Ähnlich wie beim komplexen Thema der Renten-Doppelbesteuerung täte die Finanzverwaltung sehr gut daran, vor allem die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler im höheren Alter stärker zu unterstützen und Sie nicht allein auf sich gestellt zu lassen."

Corona-Pandemie erschwert Behördengang zusätzlich

In Stenders Fall blickt jedoch selbst so mancher Fachmann nicht sofort durch. Während die Rentnerin weiter auf Antwort aus Arrecife wartet, meldet sich im Spätsommer 2021 die spanische Beraterin noch einmal bei ihr. An eine Bestätigung des spanischen Finanzamts sei nun doch zu kommen. Nur wenige Wochen zuvor hieß es von ihr noch, das sei aussichtslos. Nun solle Stender einige Nachweise einreichen:

  • ihre Renten-Jahresauszüge für die betreffenden Steuerjahre,
  • amtlich übersetzt ins Spanische,
  • eine spanische Krankenversicherungskarte mit Nachweis, dass sie im spanischen Krankenversicherungssystem gemeldet war,
  • lückenlose spanische Kontoauszüge, die ihre dauerhafte Anwesenheit belegen,
  • Strom-, Wasser- und Telefonrechnungen auf ihren Namen,
  • spanische Autopapiere,
  • ihre spanische Meldebescheinigung

"Sofern Sie diese Dokumente vorlegen können, würde das Finanzamt die Anfrage überprüfen", heißt es in einer Mail von August dieses Jahres. Aber alles ohne Garantie auf Erfolg. Die EU/EWR-Formulare würden im Übrigen seit Beginn der Corona-Pandemie nicht mehr erteilt, sondern durch "Certificados de residencia fiscal" ersetzt. Nur auf Antrag, versteht sich.

All das braucht Stender letztlich nicht mehr zu kümmern. Im Oktober 2021, mehr als zwei Jahre nach ihrem ersten Kontakt mit dem Finanzamt Neubrandenburg, hat die Sachbearbeiterin ein Einsehen.

Sie bittet Stender um eine Versicherung an Eides statt, dass sie während ihres Aufenthalts in Spanien keine weiteren Einnahmen neben den deutschen Rentenbezügen erzielt hat. "Ausnahmsweise und nach pflichtgemäßen Ermessen" werde dies ausreichen, um in Deutschland als unbeschränkt steuerpflichtig zu gelten – und damit keine Steuern zahlen zu müssen.

"Ich weiß auch, dass ich mir das Leben hätte leichter machen können, wenn ich die 1.069 Euro einfach gezahlt hätte", sagt Stender. "Aber mir geht es um diese Ungerechtigkeit. Es gibt so viele Rentner, die noch älter sind als ich und zahlen, weil sie es nicht besser wissen."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Gespräch mit Maritta Stender
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