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Droht jetzt der Fluchtwinter?


Will Putin Europa mit Flüchtlingen erpressen?

Von Camilla Kohrs

Aktualisiert am 26.11.2022Lesedauer: 7 Min.
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Ukrainer warten in Cherson auf den Zug nach Kiew: Nach massiven russischen Raketenangriffen machen der Ukraine großflächige Stromausfälle zu schaffen. (Quelle: Bernat Armangue/AP/dpa)

Es wird vor einem "historischen Fluchtwinter" gewarnt und davor, dass Russland noch größere Fluchtbewegungen heraufbeschwören könnte. Wie wahrscheinlich ist das? Ein Überblick.

Schlangen vor Jobcentern, Ankunftszentren an Hauptbahnhöfen, volle Unterkünfte: Diese Bilder haben das Frühjahr 2022 geprägt, als Hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland kamen. Nun, so befürchten viele, könnte Russlands Raketenterror in der Ukraine abermals Tausende zur Flucht zwingen.

Und die Befürchtungen gehen noch weiter. Immer wieder kommt von deutschen Politikern und osteuropäischen Regierungen die Warnung, Russland könnte zusätzlich versuchen, die EU mit organisierten Fluchtwellen unter Druck zu setzen – so wie vor etwa einem Jahr Belarus. Der Staat hatte damals Menschen beispielsweise aus dem Irak oder Syrien einfliegen lassen und an die Grenze geschickt.

Das Resultat: Polen schickte die Armee an die Grenze, es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Leidtragenden waren die Menschen: Tagelang lagerten Migranten in den Wäldern vor der polnischen Grenze, teils im Schnee. Mehrere Menschen sollen gestorben sein – wie viele, ist nicht bekannt.

Bereits im vergangenen Jahr hat sich gezeigt: Die EU tut sich schwer, einen Umgang damit zu finden. Denn auf der einen Seite haben viele dieser Menschen auf europäischem Boden das Recht, dass ihr Anliegen geprüft wird – egal, über welche Route sie kommen. Auf der anderen Seite etwa argumentierte Polen, man könne sich nicht erpressen lassen.

Doch könnte Russland tatsächlich erheblichen Einfluss auf die Fluchtbewegungen nehmen? Die verschiedenen Theorien dazu im Überblick:

Angriffe auf Infrastruktur in der Ukraine

Es ist eine furchtbare Gemengelage für viele Ukrainer: Fast neun Monate Krieg liegen bereits hinter ihnen. Nun beginnt der Winter, an vielen Orten im Land sinken die Temperaturen nachts weit unter null Grad. Und Russland bombardiert gezielt die Energieversorgung im Land.

Das hat massive Auswirkungen: Vielerorts gibt es weder Strom noch Frischwasser noch funktionierende Heizungen. Hilfsorganisationen warnen, dass diese Angriffe viele Menschen in die Flucht zwingen werden. Schon jetzt ist die Situation dramatisch: Laut der Hilfsorganisation Care sind 17,7 Millionen Ukrainer auf humanitäre Hilfe angewiesen, es gibt sechs Millionen Binnenflüchtlinge. Sollte sich die Lage verschlimmern, könnten weitere fünf Millionen Menschen das Land verlassen.

Nun wird gewarnt, dass sich diese Angriffe nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen die EU-Staaten richten – mit dem Kalkül, die Länder mit einer weiteren Fluchtbewegung unter Druck zu setzen. Denn: Fliehen immer mehr Menschen aus dem Land, erhöht sich der Druck auf die Staaten vor allem in Ost- und Mitteleuropa weiter. Polen bereitet sich derzeit schon auf eine neue große Fluchtbewegung vor, rund 100.000 Betten stehen zur Verfügung.

Wie viel Kalkül steckt dahinter? Politikwissenschaftler Raphael Bossong von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sagt, er halte es nicht für das primäre Motiv der Angriffe, eine große Fluchtbewegung auszulösen. Allerdings käme eine große Fluchtbewegung der russischen Führung auch nicht ungelegen.

Militärexperte Carlo Masala schätzt das Interesse Russlands größer ein. "Sie versuchen, die Ukraine ins Dunkel zum bomben", sagte er in einem Videointerview mit t-online. Die massiven Raketenangriffe richten sich nicht nur gegen Kiew, sondern gegen weite Teile der Ukraine, so Masala. Dadurch könnte die Möglichkeit zur Binnenflucht erheblich eingeschränkt werden – und weit mehr Menschen könnten gezwungen sein, außer Landes zu fliehen. "Es ist, glaube ich, Teil der Strategie, dadurch den Druck auf europäische Gesellschaften und europäische Politik zu erhöhen."

Doch es kann noch schlimmer kommen. Setzt Russland etwa Massenvernichtungswaffen ein, könnte das zu einem Exodus führen. Der Migrationsexperte Gerald Knaus etwa rechnet mit einem "historischen Fluchtwinter, sollte die Lage in der Ukraine sich weiter zuspitzen und im Winter die Versorgung mit Wärme und Strom nicht funktionieren, weil der russische Angriffskrieg etwa Kraftwerke zerstört oder Massenvernichtungswaffen einsetzt", so Knaus im Oktober zu Zeitungen der Funke Mediengruppe.

Die Route über Belarus ist noch immer aktiv

Nach der Eskalation an der polnisch-belarussischen Grenze im Herbst 2021 flauten die Zahlen wieder ab. Polen baute entlang des Grenzstreifens einen Zaun und die EU verhängte eine Reihe von Sanktionen – etwa gegen die Airlines, die die Menschen aus dem Irak oder Syrien nach Belarus brachten. Verebbt ist die Fluchtbewegung über diese Route damit allerdings nicht.

Noch immer gibt es eine stetige Zuwanderung – die zuletzt gar stieg. Dabei spielt auch Russland eine Rolle: Die Menschen fliegen oftmals nach Moskau, reisen von dort weiter nach Belarus, um an die polnische Grenze zu gelangen. Wie der "Spiegel" am Freitag berichtete, registriert die Bundespolizei in Deutschland immer mehr Einreisende mit russischen Visa oder Einreisestempeln in ihren Pässen.

Diese Zahl sei demnach seit September sprunghaft angestiegen: Lag sie im Mai noch bei knapp 320, waren es im Oktober 1.500. Über das ganze Jahr zählt die Bundespolizei 8.000 Menschen, die über Russland kamen, viele davon aus arabischen Staaten. Der "Spiegel" berichtet zudem aus einer vertraulichen Behördenanalyse vom Sommer, dass es sich nicht nur um frisch vergebene Visa handelt: Es würden immer wieder Menschen aufgegriffen, die sich schon länger in Russland aufgehalten haben.

Nicht bekannt ist, ob die russische Seite abseits der Visavergabe die Migration über diese Route aktiv fördert. Allerdings scheinen die Behörden es auch nicht zu verhindern.

In Belarus schienen die Behörden in den vergangenen Monaten auf eine passivere Rolle umgeschaltet zu haben. Migranten berichten, dass sie teils von belarussischen Grenzschützern aufgehalten und zurückgeschickt worden sind. Nach Angaben aus Polen und Litauen aber läuft auch die aktive Förderung weiter.

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Vor wenigen Tagen veröffentlichte der polnische Grenzschutz ein Video, das zeigen soll, wie eine Gruppe von mehr als 30 Menschen von belarussischen Kräften durch den Wald bis zur Grenze geleitet wird. "Die belarussischen Dienste hören nicht auf, das illegale Überschreiten der polnischen Grenze zu organisieren", schreibt dazu der Grenzschutz.

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Belarus nutze derzeit die Situation aus, dass der Zaun noch nicht überall mit Sensoren und Kameras ausgestattet sei, teilten die polnischen Behörden mit. Nach deren Angaben steigen zudem die Zahlen der registrierten Grenzübertritte wieder deutlich an. Das registrieren auch die Behörden in Deutschland: In Brandenburg wird an der polnischen Grenze eine deutlich steigende Tendenz registriert. Kamen im Januar nach Angaben der Bundespolizei in dem Bundesland noch 388 Menschen an, waren es im September 848.

Dabei spielen auf einmal auch für die illegale Einreise in die EU eher ungewöhnliche Nationalitäten eine Rolle. Erst kürzlich griff die polnische Grenzpolizei Menschen aus Sri Lanka, Indien und Pakistan auf. Für alle drei Nationen gelten in Russland laxe Visaregeln. Auf der Internetseite der Botschaft in Pakistan heißt es gar in großen roten Buchstaben: "Der Dienst für Touristenvisa ist wieder aufgenommen worden!"

Plant Russland ein Belarus-Szenario über Kaliningrad?

Verläuft die neue Migrationsroute über die russische Exklave Kaliningrad? Diesen Vorwurf stellte die polnische Regierung vor Kurzem in den Raum. Demnach soll Russland planen, wie schon 2021 nach Belarus gezielt Menschen einzufliegen und in die EU zu schicken.

Angestoßen wurde der Verdacht dadurch, dass der Flughafen in Kaliningrad Anfang Oktober das Open-Skies-Regime einführte, was heißt: Auch ausländische Fluglinien können dort nun landen. Als Reaktion baut Polen seit Anfang November einen Zaun an der Grenze.

Anzeichen für ein Kaliningrad-Szenario gibt es allerdings keine: Gerade einmal elf illegale Grenzübertritte hat es in diesem Jahr bislang gegeben, sagte die Sprecherin der Grenzpolizei Reportern von "Balkan Insight" im November. Sie berichtet von einem etwas außergewöhnlicheren Fall im November: Drei Tadschiken hätten versucht, die Grenze zu überwinden, um in die EU zu gelangen. Tatsächlich aber alarmierten die russischen Grenzbeamten die polnischen Kollegen und die Männer wurden zurückgebracht.

Verstärkte Migration über Serbien – mit Kalkül?

Während der Corona-Pandemie hatten nur vergleichsweise wenige Menschen versucht, über die Balkanroute in die EU zu gelangen. Doch ihre Zahl nimmt wieder kräftig zu. Alleine in diesem September registrierte die EU-Grenzschutzagentur fast 20.000 Einreisen über den Westbalkan in die EU – doppelt so viele wie im Vorjahresmonat.

Im Zentrum steht derzeit das Nicht-EU-Land Serbien. Über serbische Grenzen gelangen derzeit besonders viele Menschen in die EU – und das sorgt für Ärger mit Brüssel. Einige Politiker deuteten an, dass dahinter Kalkül stecken könnte. So verglich etwa Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) in einer Talksendung im rbb Serbien mit Belarus. Die Menschen kämen per Charterflügen in der Hauptstadt Belgrad an, ähnlich wie im vergangenen Jahr in Minsk, sagte er bei "Wieprecht".

Stübgens Vorwurf scheint zu dem Bild zu passen, das die prorussische Regierung in Belgrad seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine vermittelt: So lehnte der serbische Präsident Alexandar Vučić etwa Sanktionen gegen Russland lange ab, empfing zudem hochrangige russische Politiker in Belgrad. Und in staatsnahen Zeitungen wird russische Propaganda teils eins zu eins übernommen. Mehr dazu lesen Sie hier.

Dass Serbien im Falle der Einreisen allerdings im Auftrag Russlands handle, sehen Experten nicht. "Das sind nicht belegbare Gerüchte", sagt etwa Politikwissenschaftler Bossong. Er sieht einen Grund für die höhere Zahl an Einreisen über Serbien in der Visapolitik des Landes. Denn der Staat lässt bereits seit einigen Jahren Bürger aus solchen Staaten visafrei einreisen, die den Kosovo nicht als unabhängig anerkennen – etwa aus Tunesien, Indien oder Burundi. Gerade Staatsangehörige der letzteren beiden Staaten sind auf der Balkanroute bislang eher ungewöhnlich. Auf Druck der EU allerdings hat das Land in den vergangenen Tagen die Regelung für Tunesien und Burundi wieder aufgehoben.

Ein weiterer Grund könnte die Korruption sein. Die Hauptrouten über den Balkan ändern sich immer mal wieder. Laut Recherchen des "Balkan Investigative Reporting Network" haben Schmuggler gute Beziehungen zu serbischen Behörden und der Polizei. Es ist also gut möglich, dass derzeit die Einreise über Serbien zu den einfacheren gehört und deshalb vermehrt genutzt wird.

Politikwissenschaftler Bossong warnt davor, voreilig die aktuelle Migration auf der Balkanroute mit einer möglichen hybriden Kriegstaktik Russlands zu vermischen. Derzeit deute nicht viel darauf hin.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Gespräch mit Raphael Bossong
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