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Erdoğan steht nach Türkei-Wahldebakel am Abgrund: Wie geht es weiter?


Nach Wahldebakel in der Türkei
Jetzt wird sich vieles ändern


02.04.2024Lesedauer: 6 Min.
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Dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan wird Prunksucht vorgeworfen.Vergrößern des Bildes
Recep Tayyip Erdoğan: Der türkische Präsident musste mit seiner AKP bei der Kommunalwahl eine krachende Niederlage einstecken. (Quelle: Alessandra Benedetti - Corbis)

Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP erleben bei der Kommunalwahl ein Debakel. Der türkische Präsident gibt sich demütig, spricht von einem Wendepunkt für sein Land. Was bedeutet das nun für die Türkei und für Europa?

Noch vor Bekanntgabe des Endergebnisses reiste er aus Istanbul ab. Eigentlich wollte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hier in der Metropole am Bosporus am Sonntagabend einen Wahlsieg feiern, doch daraus wurde nichts. Am späten Abend zeigte er sich dann mit seiner Frau auf dem Balkon der AKP-Parteizentrale in Ankara, gestand vor seinen Anhängern die Niederlage seiner Partei bei der Kommunalwahl ein. Keine Wut, kein Angriff auf die Opposition, Erdoğan wirkte demütig nach dieser historischen Niederlage.

Die Kommunalwahl in der Türkei brachte gleich mehrere faustdicke Überraschungen. Einerseits gewann die sozialdemokratische CHP in vielen türkischen Metropolen deutlicher gegen die AKP, als viele Expertinnen und Experten es vor der Wahl erwartet hatten. Andererseits hatte Erdoğan persönlich viel im Wahlkampf investiert, trat fast täglich auf großen Bühnen in vielen türkischen Städten auf. Nach diesem Wahldebakel steht fest: Der türkische Präsident hat den Nimbus verloren, der ihn lange umgeben hat. Er kann Wahlen in der Türkei verlieren.

Erdoğan steht am politischen Abgrund, er scheint mittlerweile den Zenit seiner Macht überschritten zu haben. Noch ist er an der Macht und hat weitere vier Jahre Zeit für eine Kurskorrektur. Doch wie könnte die aussehen?

Erdrutschsieg der CHP

Die Kommunalwahlen am 31. März waren vor allem ein wichtiger Stimmungstest für die türkische Regierung. Zwar wurden nur Bürgermeister und Kommunalparlamente gewählt, aber das Ergebnis dokumentiert die Unzufriedenheit vieler Türkinnen und Türken mit der aktuellen Politik der AKP.

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Landesweit gelang es der CHP, Erdoğans Partei als stärkste Kraft im Land abzulösen. Viele Wahlbezirke, die in der Vergangenheit auf den Karten der Wahlsendungen türkischer Fernsehsender orange gefärbt waren, wurden am Sonntag plötzlich rot. Für Erdoğan besonders schmerzhaft ist allerdings die erneute Niederlage in Istanbul. Hier begann seine politische Karriere, hier nutzte der das Amt des Bürgermeisters, um zum Ministerpräsidenten und dann zum Präsidenten aufzusteigen.

Der türkische Präsident hatte die Rückgewinnung der Metropole am Bosporus zum Wahlziel seiner AKP ausgerufen. Sein Scheitern am 31. März wiegt schwer. Während die Niederlage bei der Kommunalwahl 2019 noch eher knapp und ein Denkzettel für die AKP war, kommt die Deutlichkeit der Ergebnisse fünf Jahre später nun einer wütenden Ohrfeige gleich.

Gründe für Erdoğan-Pleite sind vielfältig

Die Gründe für die Schlappe von Erdoğan sind vielfältig: Erdoğan hatte im Präsidentschaftswahlkampf versprochen, die Wirtschaftskrise in der Türkei in den Griff bekommen zu wollen. Das klappte bisher nicht. Die Inflation lag im Februar bei 67 Prozent, der Verfall der Lira hält an, und ein Großteil der türkischen Bevölkerung spürt das im alltäglichen Leben, weil immer mehr Familien verarmen.

Schuld an der desolaten wirtschaftlichen Lage trägt auch Erdoğan, weil seine Fiskalpolitik vor allem auf niedrige Zinsen setzt, was die Inflation noch zusätzlich befeuerte.

Aber auch darüber hinaus sind einige Probleme der AKP hausgemacht, die nun zu einem Erdrutschsieg der Opposition führten. So möchte Erdoğan keine parteiinternen Konkurrenten aufbauen und trat bei der Kommunalwahl eher mit farblosen Kandidaten an, die teilweise unbekannt waren und kein Profil hatten. Es schien so, als wollte Erdoğan – etwa mit der Kandidatur von Murat Kurum in Istanbul – Strohmänner installieren, die seine Macht noch über das Jahr 2028 hinaus sichern. Dann sind die nächsten Präsidentschaftswahlen in der Türkei.

Zwar hatte der türkische Präsident angekündigt, dass die Kommunalwahl seine letzte Wahl sein werde. Aber Kritiker vermuten dahinter eher ein wahltaktisches Manöver, um seine Anhänger ein weiteres Mal zu überzeugen, Erdoğan und der AKP noch eine Chance zu geben. Diese Strategie ging nicht auf. Stattdessen nagen radikal-islamistische und nationalistische Parteien wie die Yeniden Refah am Wählerpotenzial der AKP. Yeniden Refah – und das ist die nächste Erkenntnis dieser Kommunalwahl – wird künftig sogar in zwei Regionen Bürgermeister stellen.

Für Erdoğan und die AKP ist das ein Warnschuss.

Erdoğan kündigt Kurskorrektur an

Nach 21 Jahren der Erdoğan-Herrschaft hofft die Opposition nun auf einen Machtwechsel in der Türkei. Vor allem die CHP ist in Feierlaune, möchte auf der Welle des Erfolges dieser Wahl reiten. Die Wähler hätten "die Tür zu einer neuen Zukunft geöffnet", rief etwa Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu mit schwindender Stimme seinen jubelnden Anhängern am Sonntag zu. "Ab morgen wird die Türkei eine andere sein." Mehr zu İmamoğlu als möglichem Kandidat für das Amt des Präsidenten lesen Sie hier.

Doch so weit ist es noch nicht. Die AKP steht trotz aller wirtschaftlichen Probleme des Landes noch bei 35 Prozent, und sie hat sich die Kontrolle über Medien und Justiz gesichert. Erdoğan hat die Gewaltenteilung in seinem Land zertrümmert, er ist noch immer Präsident, und es sind noch über drei Jahre bis zur nächsten Wahl. Zeit, die er nutzen möchte, für eine Kehrtwende.

Aufgeben möchte der Präsident offenbar nicht. "Wenn wir einen Fehler gemacht haben, werden wir ihn beheben", sagte Erdoğan am Montag in der Parteizentrale in Ankara. Welche Änderungen er innerhalb seiner Partei oder in der Politik vornehmen wolle, ließ er allerdings offen. "Dies ist nicht das Ende für uns, sondern ein Wendepunkt."

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Durchaus bemerkenswert ist, dass die türkische Führung das Wahlergebnis respektiert. Es war eine faire Wahl, wie auch die Europäische Union in einer ersten Reaktion auf das Ergebnis betonte. Es war ein Sieg für die Demokratie, aber ist somit auch Erdoğan demokratischer geworden?

Politische Beobachter wie der Analyst Berk Esen bezweifeln das. Aus seiner Sicht ist die Türkei auch weiterhin ein wettbewerbsorientiertes, autoritäres Regime, in dem die Wahlen weder frei noch fair sind. Zugleich schrieb er auf der Plattform X: "Wenn die CHP die Chance nutzt, wird es einen großen politischen Bruch geben."

Opposition schöpft Hoffnung auf einen Machtwechsel

Das erfordert allerdings, dass die Opposition mit Blick auf kommende Präsidentschaftswahlen Kandidaten aufbaut. Hoffnungsträger ist neben İmamoğlu auch Ankaras Bürgermeister Mansur Yavaş, der am Sonntag ebenfalls deutlich gewinnen konnte. In der Bevölkerung sind sie beliebt, weil sich beide auch als gläubige Muslime inszenieren. In der CHP ist das aufgrund der säkularen Tradition der Partei aber umstritten.

Aber möchte sie auch auf nationaler Ebene eine Chance gegen Erdoğan haben, müssten die internen Grabenkämpfe aufhören, die CHP müsste sich hinter einen dieser Politiker mit Strahlkraft stellen. In der Vergangenheit ging das oft schief – und davon profitierte die AKP.

Doch was wird Erdoğan nun tun? In jedem Fall wird er nach dem Wahldebakel jetzt umso mehr die Notwendigkeit sehen, die wirtschaftliche Situation des Landes zu verbessern. Er hat am Wochenende von der Bevölkerung aufgezeigt bekommen, dass seine politischen Rücklagen – der Vertrauensvorschuss, den ihm viele Türkinnen und Türken lange Zeit entgegenbrachten – mittlerweile aufgebraucht ist. Deswegen steht der Türkei auf jeden Fall ein Kurswechsel bevor.

Weg aus der Wirtschaftskrise

Erdoğan könnte natürlich seine eigene Wirtschafts-, vor allem auch seine Fiskalpolitik hinterfragen. Aber die wirtschaftlichen Probleme der Türkei sind auch eine Chance für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen dem Land und er EU. Erdoğans Konfrontationskurs gegenüber seinen europäischen Partnern hat dazu geführt, dass westliche Unternehmen ihre Investitionen zurückfuhren – und die Türkei ist wirtschaftlich auf gute Beziehungen zu EU-Staaten angewiesen.

Die türkische Führung scheint das zumindest teilweise erkannt zu haben. Deswegen hat Erdoğan auch daran gearbeitet, dass sich etwa die Beziehungen zu Griechenland verbessern. Denn die Türkei erhofft sich dadurch, dass beide Länder gemeinsam die Rohstoffförderung im Mittelmeer vorantreiben können. Zwar möchte Erdoğan sein Land als Regionalmacht irgendwo zwischen dem Westen, der arabischen Welt und Ländern wie Russland positionieren, aber zumindest wirtschaftlich geht diese Strategie nicht auf.

Das bringt den Präsidenten in eine Zwickmühle. Er weiß genau, dass sein Umgang mit der Demokratie in der Türkei, seine Beziehungen zu Russland und Israel auch darüber entscheiden werden, wie sich seine Beziehungen zum Westen entwickeln. Deswegen wird er kurzfristig wahrscheinlich Deeskalation betreiben und auf weniger Streit mit Nato-Partnern setzen, sich aber mittelfristig auch um die Aufnahme der Türkei in die Brics-Gemeinschaft bemühen.

Erdoğan sagte in der Vergangenheit: Wer Istanbul regiert, kann die Türkei regieren. Doch der Rückschluss dieser Kommunalwahl ist vielmehr, dass die Partei das Land regieren kann, die der Bevölkerung wieder wirtschaftlichen Aufschwung sichern kann. Daran ist die aktuelle türkische Regierung viele Jahre gescheitert, auch weil Erdoğan seine eigenen wirtschaftspolitischen Fehler nicht korrigierte.

Verwendete Quellen
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