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Deswegen ist Putins Bilanz eine Katastrophe


"Sie alle leben in Angst, dass Putin sie umbringt"

Von Marc von Lüpke

Aktualisiert am 23.01.2023Lesedauer: 8 Min.
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Wladimir Putin mit Dimitri Medwedew (hinten): Der Vorgänger des russischen Präsidenten fällt immer wieder durch markige Worte auf.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin mit Dimitri Medwedew: Putins Umfeld lebt in Angst vor ihm, sagt Historiker Stéphane Courtois. (Quelle: Mikhail Metzel/imago-images-bilder)

Eigentlich sollte die Ukraine längst bezwungen sein, stattdessen gehen die Kämpfe weiter. Warum? Weil Wladimir Putin die Dinge nicht mehr unter Kontrolle hat, urteilt der Historiker Stéphane Courtois.

Fast ein Jahr ist vergangen, seit russische Truppen in die Ukraine einfielen, Wladimir Putin ist seitdem gefürchteter als je zuvor. Ist die Angst aber berechtigt? Putins Erfolge seien mehr als überschaubar, urteilt der Historiker Stéphane Courtois. Im t-online-Interview erklärt der Experte, wie sich der frühere KGB-Mann Russland untertan machte, warum der Westen alle Warnungen ignorierte und welche Sprache Putin als einzige verstehen würde.

t-online: Professor Courtois, Wladimir Putin gilt als ziemlich gerissen, nun sind seine Pläne am Widerstand der Ukraine bislang gescheitert. Wie konnte sich der Kremlchef so verkalkulieren?

Stéphane Courtois: Eigentlich ist Wladimir Putin ziemlich inkompetent, dazu auch noch unfassbar arrogant.

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Nun beherrscht Putin Russland aber seit mehr als zwei Jahrzehnten. Das spricht dafür, dass er weiß, wie er seine Ziele langfristig erreichen kann.

Putin ist einfach nicht mehr der Alte. Ja, er hat sich Russland ohne Skrupel untertan gemacht. Aber wie lautet Putins Fazit der letzten zwölf Monate? Bei Kriegsbeginn wollte er Kiew im Handstreich einnehmen. Fehlanzeige! Dann dachte Putin, dass die Europäische Union stillhalten würde, während er die Ukraine überrollt. Fehlanzeige! Die Nato sei "hirntot", die Amerikaner würden sich aus Europa hinausdrängen und die ukrainische Regierung unter Wolodymyr Selenskyj als ein Haufen von "Nazis" hinstellen lassen. Fehlanzeige, Fehlanzeige und nochmals Fehlanzeige! Putins Bilanz ist eine einzige Katastrophe, er steuert Russland mit rasender Geschwindigkeit auf den Abgrund zu.

Sprechen wir zunächst aber über den Beginn von Putins Karriere. In Ihrem bald erscheinenden "Schwarzbuch Putin" schreiben Sie, dass sein Aufstieg "kometenhaft" gewesen sei. Wie war es möglich, dass ein rangniederer ehemaliger KGB-Offizier es bis in den Kreml schaffte?

Putin hat den KGB niemals verlassen. "Einmal Tschekist, immer Tschekist", heißt es in Russland.

Stéphane Courtois, Jahrgang 1947, ist Historiker und Forschungsleiter am Centre National de la Recherche Scientifique der Universität Paris Nanterre. Courtois ist Experte für die Geschichte des Kommunismus, 1998 gab er das viel diskutierte "Schwarzbuch des Kommunismus" in Deutschland heraus. Am 26. Januar 2023 erscheint nun das "Schwarzbuch Putin", das er mit Galia Ackerman publiziert.

Die 1917 gegründete und bald überaus gefürchtete Tscheka war ein Vorläufer des sowjetischen In- und Auslandsgeheimdienstes KGB.

Genau. Geheimdienstmitarbeiter im Ruhestand? So etwas gibt es nicht. Das gilt erst recht für Wladimir Putin. Der KGB war seine Schule, seine Universität, diese Organisation hat Putin geprägt wie keine andere. Blicken wir zurück: Am 20. August 1991 will Putin den KGB im Range eines Oberstleutnants verlassen haben, bereits 1998 übernahm er dann die Leitung des Nachfolgers FSB, schon 1999 wurde er Ministerpräsident. Wie konnte das geschehen? Putin war ein Nichts, ein Niemand – so schien es zumindest an der Oberfläche. Tatsächlich müssen Leute weit über Putin die Fäden gezogen haben.

Das müssen Sie erklären.

"Putin ist Oberstleutnant, aber über ihm gibt es Generäle", so drückte es einmal sinngemäß der Dissident Wladimir Bukowski aus. Meine Vermutung lautet, dass zum Ende der Sowjetunion hin eine Art "aktive Reserve" aus KGB-Leuten gebildet worden ist – deren Ziel in der Unterwanderung des neuen Staatsapparats bestand. "Ich möchte darauf hinweisen, dass die Gruppe der FSB-Offiziere, die zur Infiltration der Regierung entsandt wurde, zunächst ihre Aufgaben erfüllt", bemerkte Putin höchstselbst im Dezember 1999. Ausgerechnet am sogenannten Tag des Tschekisten.

Es soll sich um eine Art Scherz gehandelt haben.

Daran habe ich meine Zweifel. Putin ist ein waschechter Homo sovieticus, zudem auch noch vom KGB sozialisiert. Als er 1998 Direktor des FSB wurde, verglich er es mit der Rückkehr in sein Elternhaus. Der damalige russische Präsident Boris Jelzin hatte sicherlich zuvor einige Vereinbarungen mit den mächtigen Strippenziehern des KGB – beziehungsweise des FSB – bezüglich Putins Berufung getroffen.

Putins "Verbundenheit" zum Geheimdienst war also die eine Säule seines Aufstiegs, wie steht es aber um die Verbindungen zur russischen Unterwelt?

Putin unterhielt früh beste Beziehungen zur Mafia. Von 1991 bis 1996 leitete er in St. Petersburg für seinen alten Mentor Anatoli Sobtschak, der mittlerweile Bürgermeister der Stadt geworden war, ein Komitee, das mit den Handelsbeziehungen zum Ausland betraut gewesen ist.

Eine Position, die sich als sehr einträglich erweisen kann.

Besonders in St. Petersburg, die Stadt war damals wie Chicago während der Prohibition: Es wurde gestohlen und gemordet. Besonders wichtig war die Kontrolle des Hafens, denn über St. Petersburg liefen wichtige Warenströme. Und mit eben derjenigen Bande, die den Hafen kontrollierte, war Putin bestens vernetzt. Es ist sehr wichtig, dass wir diese Zeit in seiner Biografie verstehen – denn es erklärt viel von dem, was später passierte: Damals kam Putin zu Geld, verschaffte sich einen Clan aus Getreuen und fand Gefallen an der Macht.

Derer er allerdings verlustig ging, als Sobtschak 1996 das Rathaus in St. Petersburg nach einer Wahlniederlage räumen musste.

Sobtschak hatte es mit der Korruption zu weit getrieben. Putin zog aber eine entscheidende Lehre aus dem Debakel: Traue niemals einer Demokratie! Das verträgt sich auch mit der Mentalität der KGB-Leute, wie Putin einer ist – sie glauben nur an die Macht des Staates. Dieser Glaube an die Staatsmacht ist eine Konstante in der Geschichte Russlands im Allgemeinen und in der des Kommunismus im Speziellen.

Erklärt dies auch die weitgehend unterbliebene Entwicklung Russlands hin zu einer Zivilgesellschaft?

Absolut. Bereits der Revolutionsführer Lenin zeigte seit 1917, wie der Kommunismus in der Praxis aussehen sollte. Einer Gruppe von Berufsrevolutionären mit allen Mitteln die Macht zu verschaffen – und sie für alle Zeiten zu bewahren. Diesem Zweck diente die bereits erwähnte Tscheka, diesem Zwecke diente der KGB und heute auch der FSB. Der Kommunismus ist passé, aber Putin betreibt dessen Form der Staatsführung weiter. Mit einer Neuerung: Die Regierung wurde durch mafiöse Gruppen ergänzt, die ebenfalls für eine Stabilisierung des Systems sorgen.

Bleiben wir kurz bei Putins Werdegang: Nach dem Abschied aus St. Petersburg 1996 begann sein Aufstieg erst richtig, er avancierte 1998 zum Chef des FSB, wurde schließlich Ministerpräsident und gar Staatsoberhaupt Russlands.

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Putin war diskret, loyal und zu allem bereit. So jemanden wie ihn konnte man in Moskau gut gebrauchen. Er kann sich gut verstellen, das muss man ihm lassen.

Auch der Westen war mit der Machtübernahme Putins in Russland höchst zufrieden, im Bundestag wurde er nach seiner Rede 2001 gefeiert. War das alles Schauspiel?

Putin ist ein Geschöpf des KGB – und der KGB dachte langfristig. Wie der Kommunismus insgesamt, der sich durch eine strategische Vision auszeichnet. Schauen wir auf die Fakten: Als Putin 2000 Präsident geworden ist, war das gesamte zukünftige Programm bereits da: Eine geradezu paranoide Vorstellung, dass Russland von allen Seiten bedroht sei, die Vorstellung, dass nur autoritäre Maßnahmen die Lage bessern könnten und sogenannte Gegner ausgeschaltet werden müssten. Da Russland zu dieser Zeit aber schwach gewesen ist, spielte Putin erst einmal den lieben Kerl.

Der ihm auch lange Zeit abgekauft worden ist. Trotz des brutalen Krieges gegen Tschetschenien zu dieser Zeit.

Der Westen wollte nicht allzu genau hinsehen, Putins schauspielerische Leistung war aber auch perfekt. Wissen Sie, was die Spezialität des KGB war? Manipulation. 2008 schien Putin die russische Verfassung zu achten, indem er nicht zum dritten Mal in Folge als Präsident antrat. Stattdessen zog Dimitri Medwedew in den Kreml, er war nichts als Putins Schoßhündchen. Der dem Westen erzählte, was dieser hören wollte. Märchen von Demokratie, Menschenrechten und so weiter.

Heute droht derselbe Medwedew dem Westen mit nuklearer Vernichtung.

Der Westen ließ Putin mehr als zwanzig Jahre fast freie Hand. Was heute geschieht, ist die Konsequenz. Putin versteht nur Härte, Härte, Härte – so einfach ist das. Putin führte ab 1999 Krieg gegen Tschetschenien, 2008 gegen Georgien, im syrischen Bürgerkrieg griff das Regime 2015 ein. Von der Annexion der ukrainischen Krim 2014 und dem Krieg in der Ostukraine noch ganz abgesehen. Wozu raffte sich der Westen als Reaktion angesichts der Übergriffe auf die Ukraine auf? Ein paar Sanktionen. So etwas tat Putin überhaupt nicht weh, im Gegenteil: propagandistisch ließ es sich bestens ausschlachten.

Die schwache Reaktion des Westens ermutigte Putin dann entsprechend.

Die Ukraine ist Putins Obsession. Am liebsten will er sie Russland wieder einverleiben. Er betrachtet sie als Teil der "Russischen Welt", andererseits ist die Ukraine eigentlich ein reiches Land – sie verfügt über Industrie und Bodenschätze, aber vor allem ihre Landwirtschaft ist von großer Bedeutung. Putin ist genau genommen ein Gangster, der sich seine Beute holen will. Während er historischen Vorbildern wie Peter dem Großen nacheifert und Russlands Grenzen erweitert.

"Ohne die Ukraine hört Russland auf, ein eurasisches Imperium zu sein", sagte der polnisch-amerikanische Politologe Zbigniew Brzeziński einmal.

So sieht es Putin, so sah es auch Josef Stalin. Stalin war allerdings viel schlauer als Putin, denn Erstgenannter lernte aus seinen Fehlern. Und nahm in den richtigen Momenten wieder Kontakt mit der Realität auf. Putin hingegen hat sich mittlerweile völlig verrannt. Er dachte, dass seine Armee nahezu die stärkste der Welt sei. Was davon zu halten ist, haben die ukrainischen Streitkräfte hinlänglich bewiesen. Putin nahm auch an, dass die russischsprachigen Ukrainer seine Truppen willkommen heißen würden. So kam es aber nicht.

Putin begründet seine angeblichen Ansprüche auf die Ukraine mit einer pseudohistorischen Argumentation. Glaubt er tatsächlich daran?

Ich befürchte es. Tatsächlich ist Putin ein mieser Historiker, unfähig, die richtigen Schlüsse aus der Geschichte zu ziehen. Der frühere französische Präsident Charles de Gaulle war durch und durch Nationalist, aber er kam zu der Einsicht, dass der Krieg gegen die Aufständischen im damals von Frankreich beherrschten Algerien beendet werden musste. So herrschte seit 1962 Frieden. Polen, Tschechien oder die Staaten des Baltikums zum Beispiel, sie alle haben mit dem Kommunismus und seiner Herrschaftsform abgeschlossen. Russland hingegen hat niemals herausgefunden.

Seit Putins Amtsantritt wurden Regimekritiker ermordet, gingen ins Exil oder ins Straflager, wie zuletzt Alexei Nawalny. Könnten nun die eigenen Gefolgsleute Putin gefährlich werden angesichts der Niederlagen in der Ukraine?

Sie alle leben in Angst, dass Putin sie umbringt. Deswegen überbieten sie sich in radikalen Äußerungen, die ihre Loyalität demonstrieren sollen.

Die schrillen Töne aus Moskau flankieren den sich immer weiter hinziehenden Krieg in der Ukraine. Sollte der Westen nicht lieber früher als später massiv schwere Waffen wie Kampfpanzer an die ukrainische Armee liefern, damit die Kämpfe ein Ende finden?

Ein schnelles Ende des Krieges wäre mehr als wünschenswert. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass alle Autokraten genau beobachten, wie der Westen reagiert. Kim Jong-un aus Nordkorea zum Beispiel, aber wir müssen gar nicht so weit in die Ferne blicken. Recep Tayyip Erdoğan wartet in der Türkei genau wie andere Diktatoren auf den Tag, an dem das liberale und demokratische System des Westens am Ende sein wird. Ob diese Dramatik in Regierungszentralen wie Paris und Berlin angekommen ist? Ich bezweifle es. In Europa herrschte lange Zeit Frieden, es gibt kein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass man seine Freiheit im Zweifelsfall mit der Waffe in der Hand verteidigen muss.

Wird Deutschland diese Lektion schnell genug lernen? Insbesondere bei Teilen der regierenden Sozialdemokraten von Bundeskanzler Olaf Scholz sind die Vorbehalte gegen die Lieferung von Kampfpanzern groß.

Wir werden sehen. Im Augenblick sollten wir den Amerikanern sehr, sehr dankbar sein. Ohne sie stünden Putins Truppen an der polnischen Grenze. Und selbstverständlich gebührt den ukrainischen Streitkräften höchste Anerkennung. Nicht zuletzt sollten wir uns auch bei der allgegenwärtigen Korruption rund um die russische Armee bedanken: Auch deswegen erleidet Putin Niederlage um Niederlage.

Wenn sich der Krieg derart schlecht für Russland weiterentwickelt: Würde es das Ende Putins bedeuten?

Wir wissen es schlichtweg nicht. Aber eines ist gewiss: In Russland ist alles möglich. Im Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution 1917 kämpfte die Rote Armee, also die Bolschewiki, gegen die Weiße Armee, die wiederum Antikommunisten waren, dann gab es die sogenannte Grüne Armee, ferner Streitkräfte verschiedener Ethnien. Um es verknappt auszudrücken. Es war ein großes Chaos.

Wie lange kann denn überhaupt die gegenwärtige russische Armee den Krieg fortsetzen?

Ab einem bestimmten Punkt könnte die Stimmung bei den russischen Streitkräften kippen. Dann würde die Armee den Aufstand proben. Alles ist denkbar. Denn viele russische Generäle halten diesen Krieg für ausgesprochen dumm.

Professor Courtois, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Stéphane Courtois via Videokonferenz
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