"Deutschland muss eine bittere Lektion lernen"
Der GesprΓ€chspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. AnschlieΓend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Russland bedroht Europa, aber die Welt ist insgesamt unsicherer geworden. Wie kann Deutschland alte Fehler vermeiden und sich gegen neue Gefahren wappnen? Das erklΓ€rt Experte Ulrich Schlie.
SpΓ€testens seit dem russischen Γberfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 ist die deutsche Russland-Politik endgΓΌltig gescheitert, Deutschland muss sich der Bedrohung stellen. Aber nicht nur dieser, warnt mit Ulrich Schlie einer der fΓΌhrenden Sicherheitsexperten. Wenn die RivalitΓ€ten auf dem Globus zunehmen, sei vorausschauendes Handeln angesagt. Was er dafΓΌr fΓΌr nΓΆtig hΓ€lt, erklΓ€rt der Historiker im GesprΓ€ch.
t-online: Professor Schlie, vor rund einem Jahr verkΓΌndete Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Rede im Bundestag die "Zeitenwende". Welche Bilanz ziehen Sie heute?
Ulrich Schlie: Die Rede von Olaf Scholz war ein Paukenschlag β ohne jeden Zweifel. Der Bundeskanzler kΓΌndigte einen Gezeitenwechsel in der deutschen Sicherheitspolitik an, brachte das SondervermΓΆgen fΓΌr die Bundeswehr auf den Weg und hat insgesamt in vielerlei Hinsicht einen sicherheitspolitischen Kursschwenk vorgenommen. Auf einem anderen Blatt steht: Wie viel von den AnkΓΌndigungen ist in der Wirklichkeit schon umgesetzt?
Der Zustand der Bundeswehr ist jedenfalls immer noch desolat, die StreitkrΓ€fte kaum in der Lage, ihren Verteidigungsauftrag zu erfΓΌllen.
Die "Zeitenwende" muss im Kopf beginnen, wie auch die inzwischen zurΓΌckgetretene Verteidigungsministerin Christine Lambrecht einmal bemerkt hat. Und in dieser Hinsicht ist tatsΓ€chlich etwas passiert. Die Welt, in der wir leben, ist nicht nur eine ΓΌberaus gefΓ€hrliche, sondern sie weist in Gestalt von Russland auch einen Akteur innerhalb der Staatengemeinschaft auf, der bereit ist, gegen sΓ€mtliche Regeln des VΓΆlkerrechts zu verstoΓen und souverΓ€ne Staaten zu ΓΌberfallen. Diese Tatsache haben wir in Deutschland auf eine sehr schmerzvolle Weise lernen mΓΌssen.
Ulrich Schlie, Jahrgang 1965, ist Inhaber der Henry-Kissinger-Professur fΓΌr Sicherheits- und Strategieforschung am Institut fΓΌr Politische Wissenschaft und Soziologie der UniversitΓ€t Bonn. Zuvor leitete der Historiker unter anderem von 2005 bis 2012 den Planungsstab des Bundesministeriums fΓΌr Verteidigung und war anschlieΓend dort selbst Politischer Direktor.
Ist diese Sichtweise aber tatsΓ€chlich Allgemeingut geworden? Die WiderstΓ€nde gegen allzu groΓe VerΓ€nderungen scheinen teils immens.
Es stellt sich tatsΓ€chlich die Frage, wie nachhaltig dieser Wandel ist. Dass unsere sich mehr und mehr verΓ€ndernde Welt von strategischen Unsicherheiten geprΓ€gt ist, dΓΌrfte heute weithin verstanden sein. Die Frage indes, wie wir, auf dieser EinschΓ€tzung basierend, unsere nationalen Interessen formulieren und durchsetzen wollen, ist eine Aufgabe, die uns noch auf absehbare Zeit beschΓ€ftigen wird.
WΓ€re nicht auch eine tiefgehende Analyse der politischen Entscheidungen angebracht, die uns in diese missliche Lage gebracht haben? Deutschland war am Tag des russischen Γberfalls auf die Ukraine am 24. Februar 2022 militΓ€risch nahezu wehrlos, hing in Sachen Gas am russischen Tropf.
Jede der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien hat ihre eigene Geschichte in Verbindung mit diesem Themenbereich. Das EingestΓ€ndnis, Fehler in der Vergangenheit gemacht zu haben, gehΓΆrt in der Politik wohl zum Schwierigsten. Das bezieht sich nicht nur auf die gerade regierende SPD, sondern auch auf die mittlerweile oppositionellen Unionsparteien. Es wΓ€re durchaus angebracht, eine Enquete-Kommission einzusetzen, die die Fehler der Russlandpolitik der letzten Jahre ΓΌberparteilich mit Einbeziehung internationaler Expertise aufarbeitet.
Was waren zentrale Fehlentscheidungen?
Deutschland hatte sich in eine extreme EnergieabhΓ€ngigkeit von Russland begeben. Wir waren aber auch deswegen strategisch so wenig auf den Ernstfall vorbereitet, weil die Bundesregierung zu lange auf das Prinzip "Wandel durch Handel" mit Moskau gesetzt hatte. Das war der zentrale Fehler. Wie auch die hier und da vorhandene Illusion, dass Deutschland gar eine eigenstΓ€ndige Russland- und Chinapolitik betreiben kΓΆnne, die sich deutlich von derjenigen der Vereinigten Staaten von Amerika absetzen wΓΌrde.
Im Krieg Russlands gegen die Ukraine zeigt sich deutlich, wie abhΓ€ngig Europa von den USA ist.
Europa kann gerade mit Blick auf seine VerteidigungsmΓΆglichkeiten zu wenig in die Waagschale werfen β auch weil die EuropΓ€ische Union zu lange uneinig in der Frage gewesen ist, was sie eigentlich politisch will.
Das hat sich auch als verhΓ€ngnisvoll erwiesen. Erfreulich ist es hingegen, dass die EuropΓ€ische Union in der Sanktionspolitik gegen Russland nach dem 24. Februar 2022 mit einer Stimme gesprochen hat. Es ist gut, dass Polen, das sich neben dem Baltikum von allen europΓ€ischen Nato-Staaten gegenwΓ€rtig in der exponiertesten Lage befindet, mutig und vorbildlich handelt und damit in der allgemeinen Wahrnehmung wieder enger ins europΓ€ische Zentrum gerΓΌckt ist.
Was muss aber passieren, damit sowohl Russland als auch die verbΓΌndeten USA Europa als sicherheitspolitischen Akteur ernst nehmen?
Die EU-KommissionsprΓ€sidentin Ursula von der Leyen hat eine geopolitisch orientierte EuropΓ€ische Union angekΓΌndigt und diese nimmt allmΓ€hlich Konturen an. Der Teufel steckt allerdings im Detail, es muss noch einiges geschehen, bis wir EuropΓ€er den USA der gewΓΌnschte Partner in der Sicherheitspolitik sein kΓΆnnen, der wir werden mΓΌssen, um die heutige QualitΓ€t der Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten auch in Zukunft zu erhalten.
Vor allem wollen uns die Amerikaner keine Sicherheit mehr zum sogenannten Nulltarif bieten, darin sind sich Demokraten und Republikaner in den Vereinigten Staaten einig.
Die Zeit der Bequemlichkeit ist endgΓΌltig vorbei. Deutschland muss eine bittere Lektion lernen: Unsere Sicherheit und die Wahrnehmung unserer Interessen haben ihren Preis. Im Verbund mit den anderen EuropΓ€ern mΓΌssen wir nun den Vereinigten Staaten beweisen, dass wir in Zukunft der Partner sein kΓΆnnen, mit denen die Amerikaner in der Nato, aber auch darΓΌber hinaus, weiterhin aufs Engste zusammenarbeiten wollen.
Dazu zΓ€hlen vor allem gut ausgebildete und einsatzfΓ€hige StreitkrΓ€fte.
Das ist richtig. Die Bundeswehr muss einen immer komplexeren Auftrag erfΓΌllen, da muss noch viel geschehen. Als ersten Schritt mΓΌssten die Instrumente der Sicherheitspolitik auf den PrΓΌfstand kommen. In dieser Hinsicht hat Deutschland in den vergangenen 20 bis 30 Jahren reichlich versΓ€umt. Ob hier eine Korrektur gelingt, ist der eigentliche Test fΓΌr die politische Handlungsbereitschaft der Bundesregierung in der Sicherheitspolitik.
Von der "Zeitenwende" ist allerdings nicht nur die Bundeswehr betroffen. Wo gibt es noch dringenden Handlungsbedarf?
Dieser Handlungsbedarf β genauer gesagt sollten wir von einem ΓberprΓΌfungsbedarf sprechen β bezieht sich grundsΓ€tzlich auf alle Instrumente der Sicherheitspolitik wie den Bundesnachrichtendienst und das AuswΓ€rtige Amt. Wir mΓΌssten begreifen, dass wir insgesamt wesentlich mehr fΓΌr unsere Sicherheit tun mΓΌssen.
FΓΌr diese Aufgabe wird es Expertise brauchen. Bis zum russischen Γberfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 lagen zahlreiche Expertinnen und Experten allerdings falsch bei der Beurteilung des russischen Bedrohungspotenzials.
Es hat eine Reihe von FehleinschΓ€tzungen gegeben, gerade auch in der sogenannten Welt der Experten. Vorhersagen ΓΌber den angeblich ΓΌberaus kampfstarken Zustand der russischen StreitkrΓ€fte erwiesen sich beispielsweise als falsch β und mussten korrigiert werden. Genau wie die pessimistische EinschΓ€tzung, dass die ukrainische Armee schnell besiegt werden wΓΌrde. Insbesondere die WiderstandsfΓ€higkeit der ukrainischen StreitkrΓ€fte und des ukrainischen Volkes wurden unterschΓ€tzt. Andere Experten, die mit ihren EinschΓ€tzungen richtig lagen, wurden lange nicht gehΓΆrt.
Woran liegt das?
In Deutschland spielt externer Rat traditionell keine groΓe Rolle. Wir haben es uns zu lange zu einfach gemacht und uns selbst immer wieder fabelhaft gute Zeugnisse ausgestellt. Kritische Stimmen aus dem In- und Ausland fanden zu wenig GehΓΆr. Hinzu kommt der Faktor, dass der Deutsche Bundestag bei der AuΓenpolitik eine eher nachgeordnete Rolle spielt. Der amerikanische Kongress verfΓΌgt in diesen Fragen ΓΌber ganz anderes Gewicht und Mitsprache-MΓΆglichkeiten, etwa durch das Instrument der AnhΓΆrung bei der Berufung von Botschaftern. Es liegt schon eine ganze Weile zurΓΌck, dass im Deutschen Bundestag eine groΓe auΓenpolitische Debatte von nationaler Bedeutung stattgefunden hat.
1999 diskutierte der Bundestag immerhin ΓΌber die deutsche Beteiligung am Kosovokrieg.
Was nun auch schon fast ein Vierteljahrhundert her ist. Aber um auf die ursprΓΌngliche Frage zurΓΌckzukommen: Die auΓenpolitische Community war in Deutschland β mit Ausnahmen β der Ansicht, dass wir es in der Person Wladimir Putin mit einem rational handelnden Politiker zu tun hΓ€tten.
Aus seiner Warte handelte Putin sicherlich rational.
Er lebt in einer abgeschlossenen Welt, wo ihm von seiner Umgebung nur seine eigenen Auffassungen bestΓ€tigt werden. Im RΓΌckblick bildet der Nato-Gipfel in Bukarest 2008 eine Wegscheide.
β¦ Georgien und der Ukraine wurde damals die begehrte Nato-Mitgliedschaft zumindest nicht abgeschlagen.
Beide Staaten wurden nicht Mitglieder der Allianz, sondern in einem fragwΓΌrdigen diplomatischen Kompromiss auf eine ferne Zukunft vertrΓΆstet. Kurz darauf erfolgte Russlands Krieg gegen Georgien wegen Abchasien und SΓΌdossetien. Vieles war damals schon absehbar. Aber es hat dann sehr lange gedauert, bis sich die Erkenntnis verfestigte, dass wir von der so lange gepflegten Russlandpolitik ganz Abschied nehmen mΓΌssen. Bei manchen in der politischen Klasse ist diese Erkenntnis erst im Februar letzten Jahres gereift.
Was kann und muss Deutschland nun aber konkret tun, um die eigenen Fehler der Vergangenheit zu korrigieren?
Wir mΓΌssen die Defizite innerhalb der deutschen AuΓen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik fortwΓ€hrend analysieren und die richtigen Folgerungen in der Praxis umsetzen. WΓΌnschenswert wΓ€re etwa auch, dass der Deutsche Bundestag eine grΓΆΓere Rolle in der AuΓen- und Sicherheitspolitik spielt. Es geht dabei sowohl um parlamentarische Kontrolle als auch um ΓΆffentliche Meinungsbildung. Als StaatsbΓΌrger haben wir ein Interesse daran, dass die Instrumente unserer Sicherheitspolitik funktionsfΓ€hig sind. Der gegenwΓ€rtige Zustand der Bundeswehr ist da nur ein Beispiel, wo Handlungsbedarf besteht.
Eine "Nationale Sicherheitsstrategie" soll laut Bundesregierung helfen. Bundeskanzleramt und AuΓenministerium finden allerdings wenig Einigkeit in dieser Angelegenheit.
Die Nationale Sicherheitsstrategie geht in der Tat alle Ressorts der Bundesregierung an. Auch fΓΌr das Bundesumweltministerium und das Landwirtschaftsministerium stellen sich sicherheitsrelevante Fragen. Eine Nationale Sicherheitsstrategie lΓ€sst sich deshalb nur auf breiter Basis und unter Einbindung aller Beteiligten entwickeln. Entscheidend ist, dass es am Ende nicht nur bei bedrucktem Papier bleibt. Eine Nationale Sicherheitsstrategie hat nur dann Sinn, wenn sie zu konkreten operationellen VerΓ€nderungen in der Politik fΓΌhrt. Ob dies gelingt, hΓ€ngt auch entscheidend davon ab, dass die strukturellen Voraussetzungen in der Organisation der Bundesregierung zur Umsetzung dieser Strategie getroffen werden.
Nun scheint so manches Ressort der Bundesregierung eher seine eigenen Interessen zu verfolgen, weniger das groΓe Ganze.
Ressortdenken ist in der bundesdeutschen Politik stark ausgeprΓ€gt, auch Ressortegoismus keine Seltenheit. Dies hat in der Sicherheitspolitik dazu gefΓΌhrt hat, dass sinnvolle VorschlΓ€ge lange Zeit nicht durchkamen. Erinnern wir uns an die Hochwasser-Katastrophe an der Ahr und in der Voreifel 2021: Das war ein groΓes Versagen der Politik auf mehreren Ebenen, von strategischer Vorausschau konnte keine Rede sein. Das Problem besteht darin, dass sich Politik in Deutschland besonders sehr schwer damit tut, Konsequenzen aus Fehlern zu ziehen. Einige wenige personelle Rochaden sind da nicht ausreichend. Die Wurzeln der Probleme gehen tiefer.
Falls man uns zur Tagesordnung ΓΌbergehen lΓ€sst: Die Geduld der Amerikaner mit Deutschland ist sicher endlich, Putin wird wiederum jede SchwΓ€che ausnutzen.
Es wΓ€re gut, wenn Deutschland vorausschauend handelt. Russland ist nicht der einzige Akteur, der uns gegenwΓ€rtig Sorgen macht. Denken wir an Nordkorea, Irans Atomprogramm oder China, das neben einer technologischen Bedrohung heute auch eine wirtschaftliche und sicherheitspolitische darstellt. Wir leben in einer zunehmend gefΓ€hrlicheren Welt, in der die RivalitΓ€ten zwischen den GroΓmΓ€chten zunehmen. Damit ist unweigerlich auch eine hΓΆhere GefΓ€hrdung fΓΌr Deutschland verbunden.
Diesen globalen GefΓ€hrdungen kΓΆnnen wir nur in Zusammenarbeit mit den USA begegnen.
Richtig. Die Nato ist das einzige BΓΌndnis, das Europa und Amerika auf einer rechtlichen Grundlage in Form eines Vertrages in der Sicherheitspolitik miteinander verbindet. Wir mΓΌssen deshalb konsequent auch weiterhin das atlantische BΓΌndnis stΓ€rken und fortlaufend anpassen. Dies bezieht sich beispielsweise auf Fragen der kooperativen Sicherheit, also auf die Nato-Partnerschaftspolitik. Konkret heiΓt dies: Wie soll die Allianz kΓΌnftig ihre Beziehungen zu LΓ€ndern wie SΓΌdafrika und Indien gestalten?
Immerhin sitzt Joe Biden als eingefleischter Transatlantiker noch eine Zeit lang im WeiΓen Haus.
Wir kΓΆnnen uns nicht darauf verlassen, dass die Vereinigten Staaten auf immer ΓΌberzeugte Transatlantiker bleiben. Viel wird deshalb davon abhΓ€ngen, dass wir EuropΓ€er unseren Beitrag zum atlantischen BΓΌndnis auch kΓΌnftig leisten und dabei noch mehr in die Waagschale werfen.
Hat sich das Ansehen der StreitkrΓ€fte erhΓΆht, seit Putins Angriff auf die Ukraine ihre Bedeutung unterstrichen hat?
Ich denke, ja. Es bleibt auch weiterhin eine wesentliche Aufgabe der StaatsfΓΌhrung und der Gesellschaft insgesamt, die Besonderheiten soldatischen Dienens zu wΓΌrdigen, deutlich zu machen, was diesen Dienst von anderen Aufgaben unterscheidet und was er fΓΌr die Nation als Ganzes leistet.
Diese Aussage hΓ€tte vor der "Zeitenwende" reichlich Kritik auf sich gezogen.
Eine Demokratie muss wehrhaft sein, sowohl im Inneren als auch im ΓuΓeren. Das ist kein Widerspruch, sondern Voraussetzung der Friedenssicherung.
Professor Schlie, vielen Dank fΓΌr das GesprΓ€ch.
- PersΓΆnliches GesprΓ€ch mit Ulrich Schlie via Telefon