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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Desinformation im Netz Angriff auf die Wahl: So sehen Russlands Lügen aus

Russlands Desinformations-Maschine läuft zur Bundestagswahl auf Hochtouren. Was dabei herauskommt, zeigt große Skrupellosigkeit, einige Kreativität – und so viel Ausdauer wie Unvermögen.
Friedrich Merz steht unter Verdacht in einem 20 Jahre alten Mordfall. Linken-Chef Jan van Aken soll hinter einem Überfall auf einen Atomphysiker stecken. Hubert Aiwanger ist in Anschlagspläne auf Journalisten der "Süddeutschen Zeitung" verwickelt. Robert Habeck hat womöglich 13 Millionen Euro Steuern hinterzogen, und Christian Lindner soll sich wohl bestechen lassen: Es sind absurde Behauptungen, die in den vergangenen vier Wochen in vermeintlichen Nachrichtenvideos erhoben wurden.
Nachdem bereits kurz nach Beginn von Russlands Einmarschs in die Ukraine in sozialen Netzwerken eine aufwendige russische Kampagne zur Beeinflussung des Westens begann, zeigen Analysen von t-online mit Spezialisten jetzt: Deutschland ist ins Zentrum der russischen Desinformation gerückt. Denn im größten EU-Staat steht die Bundestagswahl an.
Regierung gründete mehrere Taskforces
Deutsche Sicherheitsbehörden wissen, was das bedeutet, und bereiten sich seit Längerem darauf vor.
Bereits seit 2022 gibt es im Innenministerium eine Taskforce "Desinformation und hybride Bedrohungen". Im Juni 2024 nahm dort auch die Zentrale Stelle zur Erkennung ausländischer Informationsmanipulation (ZEAM) ihre Arbeit auf. Die vorgezogene Neuwahl kam ungelegen: Der Aufbau läuft noch, zwölf Mitarbeitende sind dort bislang tätig, um das Vorgehen besser zu verstehen und Strategien zu entwickeln. Im November rief zudem der Verfassungsschutz eine Taskforce mit Blick auf die Wahl ins Leben.
Die Experten haben viel Stoff. Ein Ministeriumssprecher zu t-online: "Wir beobachten vielfältige Versuche gezielter ausländischer Einflussnahme auf den demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess in Deutschland." Zur Bundestagswahl sei die Verstärkung solcher Aktivitäten zu verzeichnen, "wobei derzeit Russland der auffälligste Akteur ist". Russland nutze die Verbreitung von Falschinformationen etwa in den sozialen Medien, um emotional aufgeladene Diskussionen anzuheizen und gesellschaftliche Gruppen gezielt gegeneinander auszuspielen.
Es sickern sehr viele Beiträge jeden Tag nach Deutschland, und meist erreicht ein einzelner Beitrag mit Lüge und Stimmungsmache nur wenige Menschen. Leaks aus Moskau zeigen, dass die beauftragten Firmen sich ihren Erfolg quasi selbst bescheinigen. Der Kreml zahlt für wenig messbare Wirkung, aber immerhin für viel Einfallsreichtum. Das zeigt die Bandbreite an Beiträgen. t-online hat dazu Einblick in die Funde der US-amerikanischen Recherchegruppe "dTeam" und Hinweise von "Antibot4Navalny" erhalten, die jeweils das Netz nach russischer Desinformation durchforsten und die Masse an Beiträgen finden, die unter dem Radar bleiben.
Videos lügen mit manipulierten Wahlzetteln
Am Dienstag zeigte sich, dass manches jedoch auch große Resonanz findet. Da verbreiteten sich im Netz mehrere Videos von gefälschten Stimmzetteln und kamen zusammen auf millionenfache Abrufe. Es herrschte echte oder gespielte Empörung oder Verunsicherung über Bilder von angeblichen Briefwahlunterlagen aus Leipzig, auf denen der AfD-Bewerber und die AfD vermeintlich fehlten.
Doch solche Wahlzettel gibt es von der Stadt Leipzig nicht. In den Videos sind nicht einmal Briefwahlzettel zu sehen, wie sich an einigen Merkmalen festmachen lässt. Das LKA prüfte die Videos, und ein Sprecher der Stadtverwaltung Leipzig sprach von einem "Teil einer Kampagne zur Diffamierung der Wahl". Am Mittwoch ging es ähnlich weiter, da tauchte ein Video auf von einer Person, die sich selbst beim Öffnen und Vernichten angeblicher Wahlbriefe filmt. Auch da waren keine echten Unterlagen zu sehen.
Die Online-Recherchegruppe "Gnida Project", die auch mit "Antibot4Navalny" vernetzt ist, ordnet die Wahlzettel-Videos mutmaßlich der Kampagne "Storm-1516" zu. Sie steht für vergleichsweise wenige, aber aufwendig gemachte Fakes in deutscher Sprache. "Storm-1516" erklärte demnach schon Selenskyj zum Käufer der Goebbels-Villa bei Berlin, sie dichtete Annalena Baerbock einen bezahlten afrikanischen Liebhaber an und konstruierte gegen Robert Habeck schwere ehrverletzende Vorwürfe.
Zur US-Präsidentenwahl hatte es auch ein gefälschtes Beweisvideo für angeblich zerstörte Stimmzettel gegeben. Vor diesen Beiträgen haben Experten am ehesten Sorge. Sie werden auch in der Regel nicht nur von Bots verbreitet, sondern von größeren aktiven Accounts. Hier besteht Gefahr, dass sich eine Lügengeschichte tatsächlich schnell und weit verbreitet. Ein Video wurde auf TikTok 1,7 Millionen gesehen.
Bundeswahlleiterin reagiert schnell
Am Dienstag schaltete sich bald nach Auftauchen der Videos das Büro der Bundeswahlleiterin ein und suchte den Kontakt zu den für die Wahl Zuständigen in Sachsen. Am Mittwoch reagierte nach Abstimmung der Hamburger Landeswahlleiter sehr schnell. Das Statistische Bundesamt, die Behörde der Bundeswahlleiterin, agiert auch selbst als Feuerwehr im Netz, wenn irreführende oder falsche Behauptungen zur Wahl auftauchen. Eine Sprecherin zu t-online: "Wenn die Integrität der Wahlen angegriffen wird, geht es in erster Linie darum, die Menschen zu verunsichern. Hierfür beobachten wir die Medien – darunter auch die sozialen Medien – und die dort stattfindenden Diskussionen." Und: Die Bundeswahlleiterin stehe in regelmäßigem Austausch mit der Taskforce der Bundesregierung.
Vor dem Endspurt der Wahl hatte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) Vertreter der großen sozialen Netzwerke am 22. Januar noch mal zum Gespräch bestellt. Es sickerte wenig durch, nur dass die Ministerin die Netzwerke daran erinnerte, dass sie eine "wichtige Rolle bei Maßnahmen gegen die Verbreitung von falschen und irreführenden Informationen" hätten. Sie betonte, "dass sich alle an Recht und Gesetz halten" müssten.
Tatsächlich schießen auf der Plattform X weiterhin ständig neue Fake-Accounts aus dem Boden. Ihre Sichtbarkeit ist aber meist künstlich eingeschränkt, und zumindest in den letzten Tagen wurden auffällige Accounts schnell gelöscht. Das bedeutet, dass sich mit gleichem Aufwand mit der Bot-Armee weniger Effekt erzielen lässt: An der Stelle hat sich X gebessert.
Erfundene Anschlagsdrohungen sollen Angst verbreiten
Am Tag vor Faesers Gespräch war ein erstes Video stark verbreitet worden, das Angst vor den Wahlen machen sollte – mit einer frei erfundenen Statistik, die angeblich vom Institut für Demoskopie Allensbach stammen sollte, die es dort aber nie gegeben hatte: 68 Prozent der Deutschen würden demnach am Wahltag das Haus nicht verlassen wollen, aus Angst um ihre Sicherheit. Es war der Auftakt zu der Erzählung, Wählen zu gehen sei gefährlich. Es folgten weitere Videos.
- Am 24. Januar wurde in einem gefälschten Video einer tatsächlich existierenden französischen Nachrichtenseite behauptet, nach Informationen des französischen Geheimdienstes seien in deutschen Wahllokalen bereits Bomben deponiert worden. Völlig frei erfunden, ebenso wie weitere Kurzfilme Ende Januar: Darin hieß es, Geheimdienste wie der israelische Mossad, der britische MI-6 und die amerikanischen Dienste CIA und FBI hätten ihre jeweiligen Staatsbürger gewarnt, rund um den Wahltermin des 23. Februar herum sei in Deutschland mit Anschlägen zu rechnen. Die Methode mit gefälschten Videos ist als Matryoshka-Kampagne bekannt.
- Verbreitet wurde sogar ein erfundener "Bild"-Bericht mit einer angeblichen Warnung von Ex-Innenminister Horst Seehofer (CSU) vor dem Ausschank von Freibier in Wahllokalen. Duisburg hatte tatsächlich die Idee, Freibier zur Wahl auszuschenken. Das Bier könne leicht vergiftet werden, hieß es in dem Beitrag, "das könnte der erste Fall von Massenvergiftung bei einer deutschen Wahl sein". Ein anderes Video behauptete, Umschläge mit Wahlbriefen könnten Gift enthalten.
- Am 17. Februar, einem Montag, zeigten Fotos Graffiti von Bomben mit dem Wahltermin auf einer Zeitzünderanzeige – es sind KI-Bilder, die Graffiti gibt es nicht. Eingebunden sind sie in gefälschte Screenshots angeblicher Beiträge großer Medien über Ermittlungen in Offenbach wegen alarmierender Bomben-Graffiti: Die Berichte existieren nicht.
- In einem angeblichen "Wired"-Video wurde am 7. Februar behauptet, mit einem von Wahlbehörden zur Briefwahl verschickten QR-Code könnten Microsoft zufolge persönliche Daten des Nutzers gestohlen werden. Hier gilt: Die Behörden in Deutschland haben sich zur Wahl auch auf verstärkte Cyberangriffe eingestellt, beim Wahlprozess sehen sie aber keine besondere Gefahr, weil auf Papier gewählt wird.
Lügenmärchen zu Untergrund-Druckerei
Vereinzelte Beiträge sollen auch suggerieren, dass bei der Wahl betrogen werde. Dafür gibt es keinerlei Anzeichen. Zum Problem könnte allerdings werden, dass viele Auslandsdeutsche ihre Stimme nicht abgeben können, weil sie Unterlagen nicht oder nicht rechtzeitig erhalten haben. Das hat allerdings nichts mit Beiträgen zur Desinformation zu tun, die Zweifel schüren sollen, wie den folgenden:
- Ein 42-Sekunden-Film behauptet, in München sei eine unterirdische Druckerei mit über 10.000 gefälschten Stimmzetteln entdeckt worden, alle mit Stimmen für die Grünen.
- In einem Video vorgeblich einer US-Universität wird dem Uni-Präsidenten ein völlig abwegiger Satz untergeschoben: "Die ganze Welt wird diese Wahlimitation als die schmutzigste und betrügerischste Manipulation in der Geschichte der Menschheit betrachten."
Viele Beiträge machen gezielt Werbung für die AfD. Das war auch ein vorgegebenes Ziel des Kremls an die russischen Firmen, die Fake-Inhalte produzieren. Im Zuge von US-Ermittlungen wurde ein Leak aus dem Kreml mit Protokollen von Treffen zu Desinformationskampagnen bekannt. "Wir unterstützen die Partei mit allen Mitteln", heißt es in der Beschreibung zu dem Projekt. Geschaffen werden solle "das Bild von Märtyrern, die für die Demokratie und Deutschlands nationale Interessen" litten. Das spiegelt sich auch in Beiträgen deutlich wider:
- In den vergangenen Tagen wurden reihenweise Bildpaare verbreitet: Auf der einen Hälfte sind Feuer und Horden bärtiger Männer zu sehen, auf der anderen in freundlichen Farben und mit Sonnenschein-Idylle glückliche Menschen in Parks. Auf den bedrohlichen Motiven prangt jeweils das Logo einer Partei aus dem demokratischen Spektrum – auf den positiven Motiven das Logo der AfD. Bedrohung durch Migranten ist häufiges Thema von Beiträgen.
- Videos zu aktuellen Deutschland-Themen enden mit dem Hinweis auf den Wahltermin am 23. Februar und der falschen Behauptung, die Experten würden die AfD als Wahlsieger erwarten. In allen Einschätzungen liegt die Union aber deutlich vor der AfD.
- Am Dienstag wurde in einem Video behauptet, alle Parteien bis auf die AfD hätten seit der kontroversen Rede von US-Vizepräsident J. D. Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz deutlich verloren. Hier können die Macher aber offenbar nicht einmal rechnen: Ihre Grafik zeigt, dass die AfD 3 Prozentpunkte dazugewonnen habe, während die anderen Parteien zusammen 22 verloren hätten.
Die anderen Parteien werden dagegen gezielt attackiert.
- Seit Januar gibt es fortlaufend kurze gefälschte Nachrichtenvideos mit erfundenen Geschichten über diverse Politiker: Merz ist darin Thema, Habeck, Baerbock, es geht auch um die Linken-Spitze, sogar um die Frau des FDP-Politikers Wolfgang Kubicki und um den ehemaligen CSU-Politiker Karl-Theodor zu Guttenberg. Negative Videos zu AfD- oder auch BSW-Politikern gibt es dagegen keine. Betroffene können diese Videos dennoch gelassen nehmen: Die Zahl, wie oft die kruden Behauptungen über sie angesehen wurden, ist selten fünfstellig.
- Friedrich Merz war seit Januar mehrfach Thema in gefälschten Artikeln nachgebauter Medienmarken. In den vergangenen Tagen wurden in großem Stil zudem Fotos mit negativen Botschaften über ihn von Bots verbreitet. Die Gruppe "Antibot4Navalny" sagt dazu: "Man merkt sicher, dass nächstes Wochenende Wahl ist, wenn Bots verrückte Mengen an KI-erzeugter Propaganda gegen CDU und Merz posten."
Doch mit dem Wahltermin werden die Aktivitäten nicht enden. "Der Kreml denkt langfristig", sagt Florian Töpfl, Professor für Politische Kommunikation mit Schwerpunkt Osteuropa und die postsowjetische Region an der Universität Passau. Er leitet ein mehrjähriges, EU-gefördertes Forschungsprojekt zu Auswirkungen der Digitalisierung auf Russlands Einfluss im Ausland.
Dem Kreml gehe es nicht darum, diese Wahl zu gewinnen. "Es geht darum, hier in den nächsten 10 bis 20 Jahren an Einfluss zu gewinnen, in Europa loyale Marionettenregierungen zu installieren und den Westen zu spalten." Das sei das große Bild: "Ein hoch repressives autoritäres Regime will liberale Demokratien untergraben. Für die Wahl in Deutschland heißt das, dass die Menschen sich genau anschauen sollten, welche Parteien das kleinreden und verharmlosen."
Um sein Ziel zu erreichen, arbeite Russland mit vielen kleinen Nadelstichen – und die Desinformationskampagnen im Netz seien dabei auch nur eines unter vielen Werkzeugen, sagt Töpfl. Belegt sei dabei auch: "Je öfter Menschen eine Botschaft wahrnehmen, desto stärker ist die Wirkung."
- Eigene Recherchen
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