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Deutschland im Krisenmodus: "Diese Gruppen sind brandgefährlich"


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Welt in der Krise
"Der Kollaps ist möglich"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 12.04.2023Lesedauer: 10 Min.
Christian Lindner und Olaf Scholz: Die Eindämmung der Klimakrise erfordert politische Entschiedenheit, sagt Claus Leggewie.Vergrößern des Bildes
Christian Lindner und Olaf Scholz: Die Eindämmung der Klimakrise erfordert politische Entschiedenheit, sagt Claus Leggewie. (Quelle: Chris Emil Janssen/imago-images-bilder)

Krise hier, Krise da: Politik und Gesellschaft stehen unter Dauerstress. Und mit der Klimakrise steht die größte Bewährungsprobe erst noch bevor. Wie halten wir das bloß aus? Der Politologe Claus Leggewie gibt Antworten.

Hört das denn nie mehr auf? Viele Menschen fühlen sich in einer Dauerschleife aus Krisen gefangen. Kaum ist Corona nicht mehr das dominierende Thema, überfällt Russland die Ukraine. Und wer glaubte, die Lehren aus der Finanzkrise vor 15 Jahren würden eine Wiederholung ein für alle Male verhindern, sieht sich angesichts des Kollapses von Banken ebenfalls mächtig getäuscht. Von der Klimakrise, der größten Bedrohung für die Menschheit, ganz zu schweigen.

Nur: Sind die Bürgerinnen und Bürger, ist die Regierung, ja, ist Deutschland insgesamt in der Lage, diese Dauerkrisen überhaupt durchzustehen? Ja, aber ... so lautet die Antwort von Claus Leggewie, einem der führenden deutschen Politikwissenschaftler. Er erklärt, welche Fehler in der Vergangenheit gemacht wurden – und was nun am besten zu tun ist.

t-online: Professor Leggewie, die Welt befindet sich in einem permanenten Krisenmodus. Der Weltfinanzkrise seit 2007 folgten die Eurokrise, die Corona-Krise und nun Russlands Krieg gegen die Ukraine – um nur einige zu nennen. Welche Folgen zeitigen die sich überlappenden und in kurzen Abständen auftretenden Krisen für Gesellschaft und Politik?

Claus Leggewie: Dass beide nervös werden, wo doch eher Ruhe und Besonnenheit angebracht wären. Der abgeklärte Soziologe Niklas Luhmann befand einmal, es gebe Aufregung – ablesbar an realen Schäden – und "Aufregungsschäden", also Zusatzmalheur durch vermeidbare Aufregung. Dafür ist die Massenkommunikation zuständig, jetzt mit der Häufung von Krisendiagnosen. Es gibt unbestreitbar Krisen – ablesbar an den erwähnten Schäden –, aber auch Krisengerede, das Schäden vergrößert.

Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze spricht von einer "Polykrise", in der wir uns befänden.

Die Rede von einer "Polykrise" umfasst ganz verschiedene Störungen aus diversen Funktionssystemen: vom Bankencrash 2008 – und seiner drohenden Wiederholung 2023/24 – über die Masseneinwanderung nach Westeuropa 2015, den erst mit Extremwetter und Hitzesommern in unseren Breiten bewusst gewordenen Klimawandel, den mit dem Bienensterben symbolisierten Verlust an Biodiversität bis hin zur Covid-19-Pandemie und zum Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine samt der damit verbundenen Energieverknappung und sprunghafter Teuerung. Anfügen kann man den Rückgang der Zahl und der Resilienz demokratischer Gesellschaften und die wachsende Anziehungskraft autoritärer und autokratischer Regime seit 2000.

Claus Leggewie, Jahrgang 1950, ist Professor für Politikwissenschaft und Leiter des Panel on Planetary Thinking an der Universität Gießen.

Verfügt eine "Polykrise" denn aber über das Potenzial, einen Systemzusammenbruch zu verursachen?

Ein hochrangiger Politiker gestand mir einmal: Corona – das ist die Krise, die wir bewältigen werden. Man muss also unterscheiden: Was verdient den Begriff "Krise", und was sind lediglich Aufregungsschäden, die gestresste Funktionssysteme zusätzlich irritieren? Zeithistoriker kennen Bankenkrisen in Serie nicht erst seit dem unseligen Wirken eines von der Realwirtschaft entkoppelten Finanzkapitalismus und schwerere Depressionen als die von 2008 und der folgenden Jahre. Was man daraus gelernt hat, könnte helfen, die mögliche Depression von 2024 zu verhindern oder zu mildern.

Wie verhält es sich mit der sogenannten Flüchtlingskrise ab 2015? Die AfD machte massiv Stimmung gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung unter Angela Merkel.

Auch da ist Besonnenheit angebracht: Die Zahl der in das reiche Europa eingewanderten Flüchtlinge summierte sich auf ganze zwei Promille der Gesamtbevölkerung, andernorts, namentlich im armen Süden, werden zweistellige Anteile an der Gesamtbevölkerung erreicht – seit Jahrzehnten und immer wieder. Solche Relativierungen könnten helfen, die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine gelassener zu nehmen. Und was bitte ist eigentlich das Krisenphänomen? Doch wohl, dass Menschen aus dem Globalen Süden aus existenzieller Not vor Armut, Diktatur und Terror fliehen müssen, den die Wirtschafts- und Handelspolitik der G7-Länder wesentlich mitverursacht und dortige korrupte Staatsklassen verschärft haben.

Mit den Folgen in Form der Migrationsbewegungen in den Norden setzen sich die reicheren Staaten ungern auseinander.

Europa und die USA nehmen es seit Jahren hin, dass sich unter dem Druck rechtsradikaler Hetze an geschlossenen Grenzen humanitäre Katastrophen abspielen. Die Krise ist der Massentod auf dem Mittelmeer, und der Unwille, sie zu beenden. Daraus machen Rechtsradikale einen angeblich von den Regierungen inszenierten "Bevölkerungsaustausch".

Während die Flüchtlingsbewegung von 2015 aber zumindest absehbar gewesen ist, traf uns die Corona-Pandemie mehr oder weniger unvorbereitet. Wenn wir die generellen Warnungen von Experten vor der Häufung von Pandemien einmal außen vor lassen.

Auch da gilt: Die Pandemie haben wiederum die reichen Länder mit einer leichten Erhöhung der durchschnittlichen Todesrate überwunden, was dazu beitragen könnte, die aufgetretenen Fehler bei der nächsten Pandemie zu vermeiden. Denn sie wird kommen, weil ganz grundlegend das Verhältnis von Mensch und Tier aus der Balance geraten ist, weshalb Zoonosen sich häufen werden. Wir haben es in allen bisherigen Fällen, für sich betrachtet, mit "normalen" Krisen zu tun, die eine übertriebene Krisenrhetorik auslösten und dadurch zur Entsolidarisierung innerhalb der betroffenen Gesellschaften wie zwischen armen und reichen Ländern führten.

Also hat Niklas Luhmann mit den "Aufregungsschäden" in gewisser Weise recht?

Nein, eben nicht, und die Soziologie tut sich oft schwer damit, Zäsuren und Systembrüche als solche zu erkennen. Die Häufung der Probleme, messbar an den objektiven Zahlen der Arbeitsplatz- und Liquiditätsverluste, der Wohnungsknappheit in Großstädten und der Übersterblichkeit, fügen sich natürlich zu einem kumulativen Stressfaktor, der dadurch verschärft wird, dass den jeweiligen Bevölkerungen durch materielle Kompensation stets signalisiert wurde, es werde bald wieder "Normalität" einkehren.

"Normalität" ist ohnehin ein Begriff, der subjektiven Empfindungen entspringt. Ist eine "Die Rente ist sicher"-Mentalität der jeweiligen Bundesregierungen nicht eher schädlich bei dem Versuch, die Bevölkerung auf die Zukunft und ihre Herausforderungen einzustellen?

Solche Ansagen erhöhen nicht gerade die Krisenfestigkeit, aber das ist kompliziert, weil Krisen immer eine objektive und eine subjektive Seite haben. Würden Regierende in einer Bankenkrise sich hinstellen und sagen: Leute, mal ehrlich, euer Geld seid ihr wohl los, würden alle zum Automaten rennen – und wären ihr Geld wirklich los. Das Finanzsystem ist angeschlagen, aber damit es nicht völlig einbricht, muss man Vertrauen haben in das Krisenmanagement. Wenn objektive Krisenfaktoren subjektiv wahrgenommen und kommunikativ dramatisiert werden, ist der Tatbestand einer "echten" Krise erfüllt.

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Kommen wir auf eine andere Krise zu sprechen. Vor mehr als einem Jahr überfiel Russland die Ukraine. Warum schleppt sich die "Zeitenwende" in Deutschland trotz der so dramatisch verschärften Sicherheitslage so langsam voran?

So versteht man historische Zäsuren falsch, als ob man sie ansagen und dann umsetzen kann! Wir werden erst in Jahrzehnten beurteilen können, ob eine solche Wende stattgefunden hat. Das Jahr 1979 war in vieler Hinsicht ein tieferer Einschnitt als 1989 oder 2001. Bundeskanzler Scholz wollte uns mit seiner "Zeitenwende"-Rede mitteilen: Die Regierung stellt sich auf eine neue Lage ein, die der ungeheuerliche Angriffskrieg mit unkalkulierbaren Folgen haben kann. Das richtete sich an die eigene Fraktion und den gesamten Bundestag, der Putins Absichten seit Jahrzehnten verkannt hat, und an die Bevölkerung, die verstehen muss, dass Putin uns neue Prioritäten aufgezwungen hat.

Stellt sich die Frage, wie "krisenfest" die Deutschen eigentlich sind?

Im Großen und Ganzen sehr, wenn man unter die Oberfläche schaut. Die Bundesrepublik ist im Kalten Krieg in einer Dauerkrise aufgewachsen und hat sich zu einer der stabilsten Demokratien der freien Welt entwickelt. Schauen Sie in die Vereinigten Staaten, wo eine wild gewordene Rechte mit dem Staatsstreich droht, oder nach Frankreich, wo ein Präsident eine überfällige Reform mit Notstandsverordnungen durchpauken zu müssen meint, oder auf den Niedergang Großbritanniens im Brexit! Eine Lebensversicherung für uns ist das aber nicht.

Wie machen sich Unterschiede zwischen West und Ost in Deutschland bemerkbar? Sie haben gerade nur die Bundesrepublik erwähnt.

Im Osten ist mit der AfD eine Antisystempartei angetreten, deren radikaler Flügel die Demokratie abschaffen will. Sollte sich die Union – oder auch die SPD – jemals überlegen, mit dieser Partei zu koalieren, wäre die schiefe Ebene betreten.

Aber noch einmal grundsätzlich zur "Zeitenwende" und Russlands Krieg gegen die Ukraine gefragt: Welches Zeugnis stellen Sie der Bundesregierung aus?

Sie tut, was sie kann und gerät dabei in zahllose Dilemmata, wie derzeit vor allem die Grünen zu spüren bekommen. Objektiv betrachtet sind sie die einzigen, die Vernunft walten lassen. Und die mit ihrer Abkehr vom alten Pazifismus die Zeichen der Zeit erkannt haben. Was die "Bild"-Zeitung und soziale Medien gerade gegen sie inszenieren, ist eine an die Weimarer Republik erinnernde Hexenjagd. Darin artikuliert sich der nicht so krisenfeste Teil der Gesellschaft, der die Irritationen ausschlachtet, koste es, was es wolle.

Mit Sahra Wagenknecht, Alice Schwarzer und anderen existiert eine Art "Friedensbewegung", die ihre ganz eigene Art der Russlandbegeisterung pflegt. Wie ist dieses "Phänomen" erklärbar? Wie lange wird es existieren?

Ach, Wagenknecht … Man muss klar sagen, was sich in dieser Querfront abzeichnet: die geistige Kollaboration mit einer Diktatur, getrieben von Talkshowgrößen, deren Zeit abgelaufen ist. Sie missbrauchen die Friedenssehnsucht "besorgter Bürger" und bedienen politische Unternehmer, die aus der Krise Kapital schlagen wollen. In den eben genannten Ländern sieht man, wohin das führt.

Querdenker, "Reichsbürger" und "Friedensbewegte", ohne Krisen werden diese Gruppen wenig wahrgenommen, dann treten sie stark in Erscheinung. Wie gefährlich sind diese Gruppen?

Brandgefährlich. "Reichsbürger" sind potenzielle Putschisten, Querdenker politische Nihilisten, die keinerlei positive Zukunftsvision haben. Überwiegend alte gekränkte Männer übrigens.

Haben Gesellschaft und Politik die richtigen Antworten auf diese Herausforderung?

Sie schwanken zwischen Verachtung und Verständnis. Wir haben nur das Mittel der rationalen Aufklärung, das bei Verschwörungstheoretikern bekanntlich kaum verfängt. Parteiverbote sind auch kein geeignetes Mittel, öffentliche Debatten enden meist in Schreierei. Ich stimme übrigens nicht mit der geläufigen Zeitdiagnose überein, unsere Gesellschaften seien "polarisiert", wenn damit gemeint ist: Beide Seiten wären gleich verantwortlich und sollten aufeinander zugehen. Wer das behauptet, hat die Spaltungsstrategie der Rechten nicht verstanden. Und auch nicht, wo der Hauptfeind der Demokratie steht.

Sie haben gerade die Weimarer Republik erwähnt, die von rechter und linker Seite bekämpft worden ist. Wie stabil ist die "Mitte der Gesellschaft" in unserer heutigen Bundesrepublik?

Die Mitte ist nach allen vorliegenden Studien relativ stabil, aber die autoritären Ränder erstarken. In der Weimarer Republik war das anders, es fehlte an Demokraten. In manchen Regionen nicht nur Ostdeutschlands steigt jedoch die Demokratieverdrossenheit. Damit ist keine berechtigte Kritik gemeint, sondern eine regelrechte Verachtung der demokratischen Lebensform.

Wie lassen sich aber Populisten und Demagogen "bändigen", die die Krisen für ihre Zwecke nutzen wollen?

Es hilft nur, wenn überhaupt, dass die große Mehrheit der Demokratinnen und Demokraten eine lebendige Alternative bietet, die die Defizite der real existierenden Demokratie bei uns zur Kenntnis nimmt, sie zu überwinden versucht und so auch Skeptiker anzieht. Höcke-Anhänger und Sarrazin-Leser wohl kaum. Krisen steigern die Neigung zur Resignation und zum Rückzug in die Privatsphäre. Die dann oft mit TikTok, Facebook und dergleichen gar keine ist.

Braucht Deutschland einen anderen Politikstil, um seine Demokratie attraktiv zu halten?

Krisen erfordern Krisenmanagement, also Reaktion. Dass man die Zukunft in Ruhe planen und Pläne umsetzen kann, war eine sozialdemokratische Illusion der 1970er Jahre, gegen die die neuen sozialen Bewegungen mehr Bürgerpartizipation gesetzt haben. Eine vernünftige Energie- und Klimapolitik muss derzeit auf kluge Planung und verständige Mitwirkung setzen. Die Großkrisen Krieg und Klimakrise beziehungsweise Artensterben zusammengenommen, würde der Weltgeist heute sagen: Was wir in der Energiewende freiwillig nicht geschafft haben, nämlich den Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas, dazu hat uns der Krieg nun gezwungen. Jeder weiß das, es gibt dazu in Deutschland eine breite Mehrheit, aber eine kleinkarierte Fünf-Prozent-Partei stellt sich kurzsichtig dagegen, was ihr wohl übrigens nichts nutzen wird.

Über den gegenwärtigen Krisen steht der Klimawandel, den auch die gerade von Ihnen erwähnte FDP nicht völlig negieren kann: Halten Sie es für realistisch, dass die Menschheit mit einem blauen Auge davonkommt?

Endlich kommen wir zu der echten Krise, die wir nach Lage der Dinge nicht in den Griff bekommen haben!

Warum gelingt es nicht, das Problem in aller gebotenen Ernsthaftigkeit anzugehen?

Das Phänomen des menschengemachten Klimawandels ist seit seiner Entdeckung durch Svante Arrhenius Ende des 19. Jahrhunderts und war auch unter Naturwissenschaftlern ein umstrittenes Randphänomen. 1979 hat die Welt-Meteorologie-Organisation schon alle Ursachen und Folgen des Klimawandels beschrieben, Studien der großen Energiekonzerne haben das bestätigt, der Weltklimarat brachte Gewissheit. Doch das geballte Wissen landete in der Schublade, die Konzerne setzten eine ganze Armee von "Zweifelshändlern" ein, das Thema geriet in die Finger wissenschaftsfeindlicher Populisten. Sie haben die moralische Schuld auf sich geladen, der nächsten Generation ein Problem aufzuladen, das bei entschlossenem Handeln seit den 1970er-Jahren wohl nicht mehr zu vermeiden, aber wesentlich zu mildern gewesen wäre.

Also war und ist es eine Mischung aus Desinformation und Wirklichkeitsverleugnung?

Die Entscheidungseliten haben Weltflucht betrieben. Die objektive Krise schlug sich nicht subjektiv nieder und tut es erst, seit auch Brandenburg vertrocknet und das Ahrtal überschwemmt wurde. Es war aber nicht allein menschliche Trägheit, sondern die politische Entscheidung, nicht umzusteuern. Die Bereitschaft zur Veränderung der Lebensstile, die Technologien und Investitionskapital waren vorhanden, es fehlten Mehrheiten in der Politik, die ganz den Konflikten der fossilen Industriegesellschaft verhaftet blieb. Auch die Konsumenten möchten einen Klimaschutz, der nichts kostet, dessen Belastungen durch den Staat kompensiert werden und der keine großen Änderungen der Mobilität, der Energieversorgung und der Freizeitbeschäftigungen nach sich zieht. Das ist Klimaschutz in der Komfortzone.

Gesetzt den Fall, dass die Klimakrise ungebremst weitergeht: Wie wird die Gesellschaft der Zukunft aussehen? Wie kann sie stabil bleiben angesichts von Wirtschaftskrisen, Flüchtenden und möglichen neuen Pandemien, um nur einige Probleme zu nennen?

Regierungen und Bevölkerungen können immer noch auf die Bremse treten, wonach es derzeit allerdings nicht aussieht. Und richtig: Hier kreuzen sich die Krisen – Artensterben und Klimawandel beschleunigen sich gegenseitig, weitere Pandemien drohen, Fluchtbewegungen sind die zwangsläufige Folge. Davor kann man den Kopf in den Sand stecken oder eine xenophobe und nationalistische Mobilisierung anstacheln, wie wir sie gerade überall beobachten. Das ist die typische Reaktion, subjektive Angst vor einer Gefahr auf Sündenböcke und Außenseiter zu lenken. Aber die Physik der Atmosphäre ist unerbittlich. Sie erfordert den Übergang von individualistischer Gesinnungsethik in kollektive Verantwortungsbereitschaft, ein hohes Anpassungsvermögen der Regierten und einen demokratisch legitimierten Dezisionismus der Regierenden.

Sie verbreiten wenig Hoffnung.

Ich habe eingangs vor Aufregungsschäden gewarnt, will aber auch keine Gesundbeterei betreiben. Der Kollaps ist nach den versäumten Jahrzehnten ebenso möglich wie der Einstieg in eine bessere Welt, die nachhaltiger ist, demütiger gegenüber "der Natur" – deren Teil wir sind – und die notwendigen Beschränkungen nicht als "sozialistischen" Verzicht geißelt, sondern als Weg aus der Krise anerkennt und die Vorteile einer Entschleunigung erkennt. Dazu bedürfte es aber klarer politischer Ansagen, warum das sein muss und wie man das schaffen kann. Schon deswegen muss man auf Protestbewegungen wie Fridays for Future und die "Letzte Generation" setzen und sie gleichzeitig vor Gewaltanwendung und einer anderen Art von Weltflucht warnen.

Professor Leggewie, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Schriftliches Interview mit Claus Leggewie
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