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Migration: Experte zu Dobrindts Politik – "Eine komplette Illusion"


Migrationsexperte
"Die Deutschen haben recht"

InterviewVon Malte Bollmeier

27.07.2025 - 16:43 UhrLesedauer: 9 Min.
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Polizisten suchen an der polnischen Grenze nach illegal eingewanderten Migranten (Archifoto): Laut dem Forscher Hein de Haas ist das großteils nur eine Show. (Quelle: Andy Buenning/imago-images-bilder)
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Wenn Politiker wie Dobrindt Migration begrenzen wollen, erreichen sie oft das Gegenteil, sagt der Soziologe Hein de Haas. Hier erklärt er, über welches zentrale Problem keiner reden will.

Bundesinnenminister Alexander Dobrindt ist derzeit viel unterwegs: Vor gut einer Woche traf er sich mit anderen europäischen Innenministern auf der Zugspitze, am Montag war er in Polen, und am Dienstag besprach er sich mit Amtskollegen in Kopenhagen. Das Ziel: abgelehnte Asylbewerber schneller abschieben und die Zahl von illegal Eingewanderten reduzieren, etwa durch die Stärkung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex.

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Hein de Haas, Professor für Migration, sieht das kritisch. In seinem Buch "Migration: 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt" hinterfragt er gängige Annahmen über Einwanderung und bezeichnet schärfere Grenzkontrollen als Heuchelei. Vielen Politikern gehe es gar nicht um eine echte Lösung, sondern um etwas ganz anderes.

t-online: Herr de Haas, was ist der größte Irrtum über Migration?

Hein de Haas: Viele Politiker und Medien übertreiben das Ausmaß von Migration und Flucht maßlos und sprechen schnell von einer "Invasion". Das dürfte der größte Irrtum sein, denn das ist eine falsche Darstellung der Realität. Gut 96 Prozent der Weltbevölkerung leben in ihrem Heimatland, nur dreieinhalb Prozent sind internationale Migranten und nur 0,35 Prozent sind Flüchtlinge. Von denen fliehen wiederum die meisten innerhalb ihres Landes oder in die unmittelbare Nähe, die Türkei etwa hat als Nachbar Syriens weltweit den meisten Flüchtlingen Asyl gewährt. Mit anderen Worten: Es gibt keinen Grund zur Panik.

Dennoch hat Deutschland 3,5 Millionen Flüchtlinge seit 2015 aufgenommen. Ist das keine Krise?

Was als Krise gilt, ist eine Frage der Wahrnehmung: Bei den Ukrainern war es anders als bei den Syrern und Afghanen. Trotzdem würde ich sagen: Die EU hat eine Flüchtlingskrise, aber es ist eine politische Krise, eine Krise der Solidarität. Und die Deutschen haben dabei recht.

(Quelle: Hein de Haas)

Zur Person

Hein de Haas ist Professor für Migration und Entwicklung an der Universität Maastricht, Professor für Soziologie an der Universität Amsterdam und Geograf. Zwischen 2006 und 2015 arbeitete er in Oxford am International Migration Institute, das er nun von Amsterdam aus leitet. Außerdem hat er lange in Marokko gelebt und geforscht.

Wie meinen Sie das?

Die EU hat 450 Millionen Einwohner; wenn wir die humanitäre Verantwortung, Flüchtlinge aufzunehmen, gerecht teilen würden, dann hätten wir ein kleineres Problem. Die Deutschen beklagen sich also zu Recht über eine unverhältnismäßig hohe Bürde. Aber die Probleme lassen sich nur auf europäischer Ebene durch eine faire Verantwortungsteilung lösen. Manche bewundern die strikte Asylpolitik von Ungarn oder Dänemark, aber deren unsolidarische Haltung wird die Probleme niemals lösen, denn ihre Politik verlagert die Verantwortung nur auf andere Länder.

Verstehen Sie, dass sich etliche Deutsche angesichts dieser Belastung gegen Migration aussprechen?

Dass manche Menschen sich belastet fühlen, verstehe ich durchaus, insbesondere an Orten, wo sich viele Migranten konzentrieren. Es ist allerdings Unsinn, für oder gegen Migration zu sein. Das ist wie für oder gegen die Wirtschaft oder das Wetter zu sein. Das würde eine grundlegende Dimension dessen leugnen, was wir als Menschen immer waren und immer sein werden. Sich aber zu fragen, wie wir Migration ändern können, ist vernünftig. Auch die Zahl der Einwanderer reduzieren zu wollen, ist legitim, solange man sich nicht auf Illusionspolitik oder Fremdenfeindlichkeit einlässt.

Alexander Dobrindt behauptet, die Flüchtlingszahlen reduziert zu haben, weil er seit März die Kontrollen an der polnischen Grenze verstärkt hat und mehr Flüchtlinge zurückschicken lässt.

Um diese falsche Behauptung zu durchschauen, muss man kein Migrationsforscher sein. Die Zahl der Asylbewerber geht schon seit Dezember zurück – also vor den verstärkten Kontrollen. Die Hauptursache für Flüchtlingsmigration sind Konflikte in Nachbarländern. Und Syrien, dessen Bürgerkrieg sich deutlich entschärft hat, liegt in Europas Nachbarschaft.

Es ist also keine kluge Idee, Grenzen schärfer zu kontrollieren?

Angesichts der Geografie Europas ist es eine absolute Illusion, die Grenzen abriegeln zu können, auch wenn europäische Politiker das seit dem Ende des Kalten Krieges vergeblich versuchen. Mal abgesehen davon, dass Asyl zu verweigern gegen die Menschenrechte verstößt, wäre Abriegeln auch geopolitisch eine völlige Verleugnung der Realität. Es hieße, unsere Nachbarn komplett auszugrenzen und ein totalitärer Staat wie Nordkorea zu werden.

Wie Nordkorea? Ist das nicht etwas hart formuliert?

Ja, aber mit diesem Beispiel möchte ich zeigen, dass der Wunsch nach einer offenen, demokratischen Gesellschaft und einer liberalen Wirtschaft unvereinbar damit ist, die Einwanderung zu stoppen. Die Grenzen wirklich abzuriegeln, würde radikale wirtschaftliche und politische Reformen erfordern, zu denen wir wahrscheinlich nicht bereit sind. Politikern fehlt jedoch der Mut, das zuzugeben, da es ihre eigenen Narrative der vergangenen Jahrzehnte untergraben würde.

In der Bevölkerung gibt es das Gefühl, dass die Behörden teils gar nicht mehr wissen, wer eigentlich genau ins Land kommt. Da muss die Politik doch reagieren?

Dieses Gefühl ist größtenteils das Ergebnis der Rhetorik von Politikern, die Einwanderung als riesigen, immer größer werdenden Zustrom von Asylsuchenden und irregulären Migranten darstellen. In Wirklichkeit kommt die große Mehrheit der Einwanderer legal, neun von zehn Afrikanern zum Beispiel, die nach Europa migrieren, tun das legal. Und der Hauptgrund für die Einwanderung ist die europäische Nachfrage nach Arbeitskräften, und zwar nicht nur nach Fachkräften, sondern auch nach Geringqualifizierten. Der Fokus auf Asyl ist völlig unverhältnismäßig.

Ein weiteres Vorhaben von Dobrindt und anderen Innenministern besteht darin, abgelehnte Asylbewerber leichter in Drittländer abschieben zu können. Ist das sinnvoll?

Das ist vor allem eine Strategie, um Härte zu vermitteln. Regierungen versuchen dies seit Jahrzehnten, und es hat sich nicht nur als unmenschlich, sondern auch als sehr ineffektiv und extrem teuer erwiesen. Das ist vor allem Illusionspolitik.

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Wie erklären Sie sich, dass viele Politiker auf Maßnahmen setzen, die Ihrer Meinung nach wenig bringen?

Politiker wie Herr Dobrindt, die italienische Ministerpräsidentin Meloni oder auch US-Präsident Trump wollen vor allem wiedergewählt werden. Dafür inszenieren sie Stärke und nutzen die Flüchtlinge und generell Migranten als Sündenböcke für größere Probleme wie soziale Ungleichheit, Wohnungsmangel oder Kriminalität. Das hat mit einer echten Lösung der Probleme kaum etwas zu tun, bedroht aber die Demokratie.

Wie kommen Sie zu diesem Schluss?

Das lässt sich am deutlichsten an den USA erklären: Trump nutzt den sogenannten Kampf gegen die illegale Einwanderung als Vorwand, um den Rechtsstaat und die Menschenrechte zu untergraben. Das ist einer der Gründe, warum die USA immer weniger eine funktionierende Demokratie sind. Außerdem will Trump Quasi-Konzentrationslager für Menschen bauen, die er als "illegal aliens" bezeichnet. Das ist eine faschistische Taktik, denn wie wir aus der Geschichte wissen, ist die Entmenschlichung von Minderheiten oft nur der erste Schritt zur allgemeinen Aushöhlung der Bürgerrechte. So entrechten, entmenschlichen und isolieren Politiker Minderheiten. Wenn Trump ein Flugzeug voller Flüchtlinge nach Panama schickt, geht es nicht um Massenabschiebung, sondern vor allem darum, ein Klima der Angst und des Terrors zu schaffen, denn die tatsächliche Zahl der Abgeschobenen ist klein.

Illegal Aliens

Der englische Ausdruck "illegal aliens" bedeutet wörtlich übersetzt "illegale Fremde", aber auch "illegale Außerirdische". Daher kann er als entmenschlichend interpretiert werden, wenn er für Migranten benutzt wird. Im US-amerikanischen Diskurs ist der Begriff deswegen umstritten.

Aber was ist auf der anderen Seite mit der Angst vor Terroranschlägen, die Flüchtlinge in den USA und Deutschland begangen haben?

Natürlich ist dies ein berechtigtes Anliegen, und alle Formen der Gewalt und des Extremismus müssen bekämpft werden. Ein Grund mehr für ein funktionierendes Asylsystem, das Asylanträge zeitnah und ordnungsgemäß prüft. Politiker spielen jedoch mit dem Feuer, wenn sie ungerechtfertigte Vorurteile gegen ganze Gruppen verbreiten.

Lassen Sie uns die Perspektive wechseln. Migration, etwa aus Afrika über das Mittelmeer, wirkt aus europäischer Sicht kaum bezahlbar und teils sogar lebensgefährlich. Warum kommen die Migranten trotzdem?

Zum einen verschleiern stereotype Bilder von Booten in den Medien die Tatsache, dass die große Mehrheit der Migranten und Flüchtlinge überlebt. Zum anderen ist Migration in der Tat teuer, weshalb die Ärmsten es sich gar nicht leisten können. Migration ist meistens eine wohlüberlegte Investition von Mittelstandsfamilien und keine Verzweiflungstat, die sich langfristig auszahlt, weil die europäischen Gehälter viel höher sind als die zu Hause. Deshalb sind viele Migranten bereit, schwere Ausbeutung am Arbeitsplatz zu ertragen. Sie wollen Geld für die Bildung ihrer Kinder verdienen oder zu Hause ein Unternehmen gründen. Das ist übrigens auch der Grund, warum Migranten Schlepper oft nicht als Kriminelle, sondern als Dienstleister betrachten, die ihnen helfen, über die Grenze zu kommen.

Gibt es denn in Europa überhaupt genug Arbeitsplätze für so viele Migranten?

Auf jeden Fall. Wie gesagt, der Arbeitskräftemangel in Westeuropa und Nordamerika ist die Hauptursache für die zunehmende Migration – viele westliche Länder wie Deutschland wollen das aber nicht wahrhaben. Zahlreiche Politiker fordern weniger Migration, sind jedoch nicht bereit, Unternehmen konsequent zu kontrollieren, ob sie illegale Einwanderer beschäftigen – weil die Wirtschaft diese braucht. Das ist der Elefant im Raum. Es ist Heuchelei, wenn etwa Trump keine Razzien mehr in bestimmten Unternehmen durchführen lässt, die illegale Einwanderer beschäftigen. Die Arbeitgeber hatten ihn unter Druck gesetzt. Es sind immer die Migranten, die bestraft werden und die Risiken tragen, nie die Arbeitgeber, die von ihrer Arbeit profitieren.

Diese wirtschaftlichen Zusammenhänge müssen Sie noch weiter ausführen.

Wir haben eine liberale Wirtschaft geschaffen, die chronisch von der Einfuhr ausländischer Arbeitskräfte abhängig ist. Diese Arbeitskräfte verdrängen also bis auf wenige Ausnahmen nicht die einheimischen, denn viele Deutsche würden diese Arbeit gar nicht machen wollen, etwa in Restaurants, auf dem Acker oder im Altenheim. Der beste Beweis dafür ist, dass die Zuwanderung steigt, wenn die Arbeitslosigkeit niedrig ist und es viele freie Stellen gibt. Und umgekehrt wird etwa die Migration in die Vereinigten Staaten wahrscheinlich sehr bald zurückgehen, wenn Trump die Wirtschaft tatsächlich ruiniert, wie viele sagen.

Wie sähe eine bessere Migrationspolitik aus, welche die wirtschaftlichen Zusammenhänge berücksichtigt?

Zunächst einmal wäre es ein großer Schritt, kontraproduktive Politik zu vermeiden, wie etwa das, was im Zuge des Brexit passiert ist.

Was hat der Brexit mit dem Thema zu tun?

Ich habe von 2006 bis 2015 in Großbritannien gelebt. Das wohl wichtigste Argument für den Brexit war, die Grenzen besser zu kontrollieren. Weniger wegen einwandernder Muslime und Nichteuropäer, sondern vielmehr wegen der Idee, dass es eine "Invasion" von Osteuropäern gab, insbesondere Polen. Da die aber als EU-Bürger frei nach Großbritannien ziehen durften, erklärte das Pro-Brexit-Lager den Austritt aus der EU als zwingend nötig, was vielen Wählern als logisch erschien. Nach dem Brexit jedoch stieg die Nettomigration, also die Zahl der Einwanderer minus die Zahl der Auswanderer, auf fast das Vierfache an.

Das klingt paradox. Wie kam es dazu?

Zum einen besteht weiterhin Bedarf an ausländischen Arbeitskräften. Zum anderen funktioniert Migration bei offenen Grenzen zirkulär, wie eine Drehtür: Viele Migranten bleiben für eine Weile im Land, gehen aber wieder. Wenn Politiker die Einreise allerdings erschweren, kommt es häufig zu Torschlusspanik. Wer bereits im Land ist, bleibt aus Angst, nicht noch einmal hereinzukommen. Wer noch nicht im Land ist, denkt sich, "jetzt oder nie" und wandert ein, bevor die schärferen Grenzkontrollen beginnen. Und weil sich die Migranten nun dauerhaft niederlassen, holen sie ihre Familien nach. All das steigert die Zahlen massiv. So war es auch in Deutschland mit den Gastarbeitern in den 60ern und 70ern.

Das führte zu langfristigen Problemen, etwa bei der Integration. Wie lässt sich so etwas vermeiden?

Durch realistische Politik. Regierungen sollten die aufgenommenen Migranten und Flüchtlinge zur Arbeit und Teilhabe motivieren. Das bedeutet aber, dass sie die Tatsache, dass sie bleiben werden, voll und ganz akzeptieren müssen. Der Hauptgrund für Integrationsprobleme und Segregation lag in der Vergangenheit darin, dass Regierungen zu lange an Gastarbeiterillusionen festhielten und Schwierigkeiten ignorierten. Wir riskieren, bei den neuen Wanderarbeitern wieder die langfristige Integration außer Acht zu lassen. Etliche Politiker scheinen sie nur als billige Arbeitskräfte zu betrachten und können oder wollen nicht anerkennen, dass viele Migranten bleiben werden.

Trotz dieser Fehlschläge profitieren vor allem rechte Parteien vom Migrationsthema, die immer mehr Härte fordern. Sind die Linken nicht lernfähig?

Die Mitte und die Linke übernehmen aus Angst, in der Einwanderungsfrage als "weich" zu gelten, immer mehr Argumente der extremen Rechten. Studien zeigen jedoch, dass Wähler lieber für das "Original" stimmen. Daher sollten linke und gemäßigte Parteien die Heuchelei rechter Parteien entlarven. Schon in den 60er- und 70er-Jahren waren vor allem konservative und rechte Parteien dafür, Gastarbeiter anzuwerben, weil die Wirtschaft Druck gemacht hatte. Und auch heute sind rechte Parteien nicht restriktiver als linke. So lässt die italienische Premierministerin Meloni eine Rekordzahl an Migranten ins Land. Die Linke scheint sich dessen jedoch nicht bewusst zu sein und hat es den Rechten erlaubt, sie für die Integrationsprobleme verantwortlich zu machen.

Wie sähe eine konstruktive Politik aus, welche Einwanderung begrenzt?

Einwanderung ist die unvermeidliche Folge dessen, in einer wohlhabenden, alternden und liberalisierten Wirtschaft und Gesellschaft zu leben. Wer wirklich weniger Einwanderung will, muss über unseren Arbeitsmarkt diskutieren und ihn stärker kontrollieren. In den letzten 30 Jahren haben die unterschiedlichen Regierungen die Kontrollen aber immer weiter reduziert. Daher ist Politik, die nicht direkt die Zuwanderung betrifft, in gewisser Weise viel wichtiger.

Herr de Haas, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen

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