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CDU, SPD, Grüne und AfD ringen mit sich selbst – wer füllt das Vakuum?


Was heute wichtig ist
Wer füllt das Vakuum?

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 25.11.2019Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Bundeskanzlerin Angela Merkel: Wer füllt das Machtvakuum, wenn die CDU-Politikerin die Bühne verlässt?Vergrößern des Bildes
Bundeskanzlerin Angela Merkel: Wer füllt das Machtvakuum, wenn die CDU-Politikerin die Bühne verlässt? (Quelle: Floran Gärtner)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Parteitage sind Hochämter der repräsentativen Demokratie, und in diesen Herbsttagen erleben wir ein Hochamt nach dem anderen. Vor einer Woche der Parteitag der Grünen: Beschwingt von Wahl- und Umfrageerfolgen, schlossen die Delegierten hinter ihrem Führungsduo Baerbock/Habeck die Reihen und träumten von der schönen neuen Welt der Zukunft. Das Klima wird dank Kohleausstieg und zahlreicher Verbote gerettet, die Bürger leben brav im Einklang mit der Umwelt, zwischen Staaten und Kulturen herrscht Frieden. Amen! So euphorisch war die honigsüße Stimmung, dass Preis und Tücken des gesellschaftlichen Radikalumbaus kaum ins Gewicht fielen. Kritiker monierten eine sozial-ökologische Luftschlosspolitik mit wenig Rücksicht auf Machbarkeit, Mittelstand und Moneten.

Am vergangenen Freitag dann der Parteitag der CDU: eine kollektive Sinnsuche, überschattet vom Machtkampf um die Kanzlerkandidatur. Annegret Kramp-Karrenbauer rettete mit einem geschickten Manöver ihren Chefposten. Nach einer weitschweifigen Rede bot sie ihren Kritikern den Rücktritt an – woraufhin die überrumpelte Mehrheit sich nicht anders zu helfen wusste, als ihr demonstrativ den Rücken zu stärken. Größer als der Mut zur Rebellion ist in der CDU die Angst, von den Bürgern als ebenso zerstrittener Haufen wie die SPD wahrgenommen und in den Umfragen durchgereicht zu werden. Also machte sogar Diabolus Friedrich Merz den Kotau.

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Dass der Hoffnungsträger der enttäuschten CDUler nun Ruhe gibt, ist trotz seines Treueschwurs nicht zu erwarten. Vielmehr dürfte er in den kommenden Monaten weiter aus der Deckung gegen die Bundesregierung sticheln. Damit trifft er nicht nur seine alte Rivalin Angela Merkel, deren Schweigen von Tag zu Tag lauter dröhnt. Er trifft auch Merkels Vertraute AKK. Die Schwäche der Verteidigungsministerin ist zugleich die Stärke des Gesundheitsministers: Jens Spahn steht über den Dingen und hakt fleißig seine politische To-do-Liste ab. Im Hintergrund lauert Armin Laschet, Chef des mächtigsten Landesverbands NRW. Das Nordlicht Daniel Günther wiederum zeigt bislang keine Ambitionen auf mehr bundespolitischen Einfluss; mancher findet, er stelle sein Licht unter den Scheffel. Überstrahlt werden alle CDU-Granden vom neuen Stern der Union: CSU-Chef Markus Söder hat die Delegierten der Schwesterpartei mit einer launig-mitreißenden Rede begeistert – und damit offengelegt, was der CDU-Chefin an Charisma und Schlagfertigkeit fehlt. Fazit: Der Machtkampf um die Kanzlerkandidatur der Union ist zwar aufgeschoben, aber nicht aufgehoben.


WAS STEHT AN?

Mit Machtkämpfen kennt sich auch die AfD aus, die sich am kommenden Wochenende ebenfalls zum Parteitag trifft. Verwöhnt von den Wahlerfolgen im Osten, glaubt sich die Führung schon auf dem Weg, die CDU als rechtskonservative Kraft abzulösen. Dabei übersieht sie erstens, wie viele Bürger von den rechtsradikalen Strömungen in der Partei und der keifenden Rhetorik mancher Funktionäre wie Alice Weidel und Björn Höcke abgeschreckt sind. Zweitens droht die mühsam erzwungene Disziplin Risse zu bekommen, weil sich wieder einmal die Führungsfrage stellt: Der alternde Parteichef Alexander Gauland will sein Amt abtreten – aber nur, wenn dafür sein Wunschkandidat Tino Chrupalla aus Sachsen nachrücken kann. Jörg Meuthen soll Co-Parteichef bleiben.

Das Manöver ist riskant, da Meuthen umstritten ist und Chrupalla vielen als blass gilt. Der rechtsradikale "Flügel" trommelt für Andreas Kalbitz aus Brandenburg und Frank Pasemann aus Sachsen-Anhalt. Die Gemäßigten unterstützen Dana Guth aus Niedersachsen, Uwe Junge aus Rheinland-Pfalz, Gerd Pazderski aus Berlin und Kay Gottschalk aus NRW. Viele Namen, viel Unruhe. Am Ende könnte es ein Hauen und Stechen geben, wodurch das Bild einer zwischen Chaos und Extremen schwankenden Partei einmal mehr bestätigt würde.

Mit Chaos kennt sich auch die SPD aus, deren Delegierte sich eine Woche später zum Parteitag versammeln. Bis dahin steht fest, welches Duo die Mitglieder als neue Vorsitzende küren. Derzeit scheinen Olaf Scholz und Klara Geywitz die Nase vor Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zu haben. Bestätigt sich dieser Trend, stehen die Zeichen in der SPD auf "Weiter so": weiter regieren, weiter verwalten – aber mit dem kühlen Blick des Finanzprofis Scholz und mit Hilfe seines umtriebigen Staatssekretärs Wolfgang Schmidt. Kaum jemand im politischen Berlin ist so gut vernetzt wie er.

Der neue starke Mann in der SPD wird allerdings weder Scholz noch Schmidt heißen, sondern Kevin Kühnert. Beflügelt vom besten Wahlergebnis eines Juso-Chefs seit 50 Jahren, wird der 30-Jährige einen der Vizeparteichef-Posten beanspruchen und die neuen Chefs dann mit seiner rhetorischen Brillanz und womöglich auch seinen Sozialismusflausen vor sich hertreiben – egal, wie sie heißen.

Das ist die Lage in den deutschen Parteien in diesem Herbst (die Linke und die FDP spielen bundespolitisch kaum eine Rolle). Unterm Strich bleibt der Eindruck: Überall stehen die Zeichen auf Wandel – neue Gesichter, neue Profile, hier und da manch neue Idee. Eine kraftvolle Vision, wie Deutschland in Zeiten von Globalisierung, Digitalisierung, Klimakrise, Populismus, Migrationsströmen und Handelskonflikten eine prosperierende, wehrhafte und zugleich tolerante Demokratie bleiben kann, ist aber noch nirgendwo zu sehen.

Dieses programmatische Vakuum wird von Tag zu Tag größer. Noch ist es nicht gefährlich, aber das kann sich ändern. Verläuft sich der Wandel der Parteien im Sande, erstarren sie in ihren Ritualen, Machtkämpfen und Mutlosigkeit, könnte irgendwann der Tag kommen, an dem ein charismatischer Revolutionär wie Emmanuel Macron in Frankreich das deutsche Parteiensystem zertrümmert. Das muss nicht schlecht sein. Ein neuer Kopf aus dem Bürgertum, unbelastet von den zermürbenden Mühlen der Parteiendemokratie, könnte dem Land neuen Schwung verleihen. Das Bedürfnis ist groß, wie etwa die geplante Bürgerversammlung 20/6/2020 zeigt.

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Gefährlich würde es hingegen, käme so ein Revolutionär aus den Ecken der Antidemokraten. Donald Trump in den USA und Boris Johnson in Großbritannien haben gezeigt, wie mächtig ein rücksichtsloser Egomane werden kann, indem er Ängste schürt und Feindbilder kreiert. Amerika ist anders als Deutschland, und das Vereinigte Königreich ist es auch. Aber kein Land ist gegen das Virus des Populismus gefeit. Die Führungsleute in den deutschen Parteien mögen also gerne kontrovers über neue Konzepte, Köpfe und Kommunikationswege debattieren. Aber dann sollten sie ein klares Leitbild entwerfen, wohin sie dieses Land entwickeln wollen. Bevor das Vakuum zu groß wird.


Jetzt wird das Rennen ums Weiße Haus spannend: Michael Bloomberg, Ex-Bürgermeister von New York, Milliardär und Pragmatiker, hat seine Kandidatur angekündigt. Setzt er sich bei den Demokraten durch, könnte er der Opposition geben, was die anderen Bewerber vermissen lassen. Joe Biden und Bernie Sanders gelten vielen als verbraucht, Elizabeth Warren als zu links, Piet Buttigieg als unerfahren. Bloomberg könnte die Kompromisslösung sein: ein politischer Profi mit internationalen Kontakten, aber frisch genug, um interessant zu wirken, flexibel, ohne beliebig zu wirken, und vor allem: mit genug Geld auf dem Konto, um den teuersten Wahlkampf aller Zeiten zu bestreiten.

Bloombergs Makel: Er zählt zur Ostküsten-Oberschicht, die vielen Bewohnern der gebeutelten Bundesstaaten im Mittleren Westen verhasst ist. Das eint ihn mit dem Amtsinhaber – allerdings hat Donald Trump es geschafft, durch seinen radikalpopulistischen Kurs den Anschein zu erzeugen, er bekämpfe, wozu er selbst zählt: die elitäre Schicht der Superreichen. Bloomberg dürfte das schwerlich gelingen.


Das Internet zählt zu den großartigsten Errungenschaften. Es erschließt uns Wissen, verknüpft Kontakte, kurbelt Wirtschaft und Wissenschaft an. Zugleich ist das Internet eine Bedrohung: Es verbreitet Hass, Lügen und Propaganda, hetzt Menschen gegeneinander auf. Tim Berners-Lee hatte sich das ganz anders vorgestellt, als er vor 30 Jahren das World Wide Web und die Programmiersprache HTML erfand. Deshalb stellt er heute in Berlin einen Plan zur Rettung des Netzes vor.


Gewalt gegen Frauen ist ein globales Problem – daran erinnert heute ein Aktionstag. In Berlin stellt Familienministerin Franziska Giffey (SPD) die Initiative "Stärker als Gewalt" vor, aber das reicht vielen nicht; Bündnisse verlangen deutlich mehr Engagement von Bundestag und Bundesregierung. In Deutschland fehlen 15.000 Plätze in Frauenhäusern, im Schnitt versucht jeden Tag ein Mann, seine Partnerin oder Ex-Partnerin zu töten. Eine bundesweite Debatte über das Problem, wie etwa in Frankreich, gibt es hierzulande noch nicht. Das sollte sich ändern. Denn häusliche Gewalt geht durch alle gesellschaftlichen Schichten.


WAS LESEN?

Wenn wir uns über politische Entwicklungen ärgern, vergessen wir schnell, wie gut wir es eigentlich haben. Die Mehrheit der Europäer lebt heutzutage friedlich und zufrieden in einer florierenden Weltregion. Vor 75 Jahren war das anders – und noch immer sind die Schicksale vieler Weltkriegsopfer ungeklärt. Deutsche und russische Forscher haben ein gemeinsames Forschungsprojekt aufgesetzt, um die Schicksale Hunderttausender Kriegsgefangener auf beiden Seiten zu klären. Rudi Schürer war einer von ihnen. Erst nach zehnjähriger Lagerhaft kam er frei. Was macht so etwas mit einem Menschen, wie denkt er heute darüber? Meinen Kollegen Marc von Lüpke, Jerome Baldowski und Axel Krüger hat der Rheinländer von der schwersten Zeit seines Lebens berichtet – und warum er den Menschen in der Sowjetunion trotzdem bis heute dankbar ist.


Die neuen Enthüllungen über das perfide Unterdrückungssystem der chinesischen Regierung gegen die Uiguren sind erschütternd. Die Kollegen der "Süddeutschen Zeitung" haben die Details.


Die Klimaschutzdebatte ist abgeflaut – dabei ist die Lage unverändert kritisch. Die Erderhitzung ist eine Gefahr, die sich von allen anderen unterscheidet, schreibt mein Kollege Jonas Schaible in einem fulminanten Essay. Sie erfordert neues Denken und neue Antworten – aber keine Ökodiktatur.


WAS AMÜSIERT MICH?

Manchmal können sogar Schatten schmerzen.

Ich wünsche Ihnen einen kraftvollen Wochenbeginn. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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