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Neue Ära in Israel – ein brisanter Pakt


Tagesanbruch
Brisanter Pakt

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 03.06.2021Lesedauer: 8 Min.
Meinung
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Der voraussichtlich nächste israelische Ministerpräsident Naftali Bennett und die Abgeordnete Ayelet Shaked vom rechten Bündnis Jamina.Vergrößern des Bildes
Der voraussichtlich nächste israelische Ministerpräsident Naftali Bennett und die Abgeordnete Ayelet Shaked vom rechten Bündnis Jamina. (Quelle: ap-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

heute geht es im Tagesanbruch um ein spektakuläres Bündnis und um Einheit, die nicht ohne Einfluss entsteht:

Alle gegen einen

Das Ende einer Ära kann von gepflegter Langeweile geprägt sein. Angela Merkel macht es vor: Nach 16 Jahren auf dem Chefsessel wird sie sich im Herbst aus Amt und Würden verabschieden, lange vorangekündigt, geplant, undramatisch. Ja, das kann man so machen. Muss man aber nicht. Warum zum Beispiel hat die Bundeskanzlerin sich nicht gesträubt und ihren Posten mit Klauen und Zähnen verteidigt? Gewiss, wir Politikjournalisten hätten ihr nahezu täglich vorgehalten, ihre Zeit sei abgelaufen und ihre Regierung verbraucht – das tun wir ja auch so schon oft genug. Die Opposition hätte gezetert und gespottet, der Koalitionspartner gegiftet. Na und? Kann man aushalten. Im Herbst hätte es an der Wahlurne für die anderen Parteien vielleicht nicht gereicht, um eine Regierung gegen Merkel und ihre CDU zu bilden – worauf sie geschäftsführend im Amt hätte bleiben können. Vielleicht hätte sich noch ein Juniorpartner für eine wackelige Minderheitsregierung gefunden. Proteststürme? Aussitzen. Keine Mehrheit? Egal. Neuwahlen, wieder ohne schlüssiges Ergebnis? Weitermachen.

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Vielleicht finden Sie ein solches Szenario jetzt schon absurd, dabei sind wir noch nicht einmal fertig. Stellen Sie sich vor, nach einer Serie von Neuwahlen, die keine Entscheidung gebracht haben, würde sich eine Koalition der SPD mit der AfD, den Grünen, der FDP und ja, auch noch der Linkspartei zähneknirschend zur Zusammenarbeit durchringen und endlich eine Mehrheit gegen die Kanzlerin zusammenbringen. Der Deal: Jeder bekommt ein Stück vom Kuchen. Alice Weidel hat durchgesetzt, als erste ins Kanzleramt zu ziehen, befristet auf zwei Jahre. Dann ist Annalena Baerbock dran.

Nein, machen Sie sich keine Sorgen, mir hat niemand etwas in den Kaffee getan. Wir müssen lediglich ein paar Namen austauschen, um wieder auf dem Boden der Tatsachen anzukommen, und uns schnell noch in ein anderes Land versetzen: nach Israel nämlich. Dort angekommen, fügen wir der Parade der Absurditäten erst mal ein paar weitere hinzu. Premierminister Benjamin "Bibi" Netanjahu, der fast genauso viele Jahre im Amt für sich verbuchen kann wie die Bundeskanzlerin, hangelt sich eifrig von Neuwahl zu Neuwahl, ohne eine stabile Regierungsmehrheit zustande zu bekommen. Seine Hingabe gilt jedoch nicht nur der politischen Verantwortung, sondern auch der Möglichkeit, in das Getriebe der Justiz zu greifen und den Staatsanwälten das Leben schwer zu machen. Denn der Herr Premier ist seit anderthalb Jahren der Korruption angeklagt, in einem komplizierten Prozess, der noch Jahre dauern dürfte. Eine Hexenjagd sei das, tönt der Bibi, ein Coup der Justiz gegen einen starken Premierminister. Die nationale Sicherheit sei in Gefahr. Denn ohne ihn falle Israel radikalen Palästinenser zum Opfer. Ohne ihn gehe es nicht.

Doch, geht es wohl, schallt es aus dem Lager der anderen Parteien herüber. Beim Blick auf das Anti-Bibi-Bündnis, das sich gestern Abend in einem spektakulären Schritt gebildet hat, sollte man allerdings Vorsicht walten lassen, damit einem vor Überraschung nicht die Kaffeetasse aus der Hand fällt: In vorderster Reihe entdecken wir einen Mann namens Naftali Bennett, Chef einer Zwergpartei vom rechten Rand, der einst als Netanjahus Büroleiter dessen Aufstieg organisierte. Über läppische sieben Sitze verfügt sein Verein im Parlament. Doch das Zünglein an der Waage kann kraftvoll sprechen. So hat Herr Bennett seinen künftigen Partnern das Recht abgerungen, als erster den Posten des Premierministers übernehmen zu dürfen, bis er nach zwei Jahren dem Boss der viel größeren liberalen Partei Jesch Atid weichen soll. In der Gemischtwarenkoalition finden sich außerdem die traditionelle Linke, die politische Mitte und eine moderat-islamistische Partei, die von israelischen Arabern ins Parlament gewählt worden ist und deren ideologische Wurzeln nicht so weit entfernt von denen der Hamas-Bewegung sind. Ja, die Islamisten unterstützen tatsächlich ein Bündnis, in dem ein rechter Hardliner den Ton angibt: Man muss das zweimal sagen, so weit hergeholt ist es.

Alles egal, bloß weg mit Bibi: Nur diese simple Maxime hat in der zersplitterten israelischen Parteienlandschaft eine hauchdünne Mehrheit zusammengebracht, deren Schicksal an einer einzigen Stimme hängt und die letzte Ausfahrt vor der Unregierbarkeit des Landes sein soll. Die wackelige Koalition will sich fürderhin auf die Wirtschaft und den Erholungsprozess nach Corona fokussieren – vor allem deshalb, weil sich der politische Sprengstoff in anderen Fragen nicht entschärfen lässt: Der designierte Premier hält überhaupt nichts von einem Staat für die Palästinenser, macht sich für die radikalen Siedler stark und würde den Großteil des Westjordanlands am liebsten ganz annektieren. Um die Position anderer Koalitionsteilnehmer zu beschreiben, kehren wir die Ansichten des Premiers einfach ins Gegenteil um. Diese eigentlich vollkommen unüberbrückbaren Differenzen wollen die Damen und Herren nun gemeinsam auflösen, indem sie angestrengt in eine andere Richtung schauen. Wie patent! Jetzt müssen nur noch die Hamas, die frustrierte palästinensische Jugend, die im Alltag oft ausgegrenzten israelischen Araber und die radikale jüdische Siedlerbewegung für ein paar Jahre die Hände in den Schoß legen, und schon klappt das Regierungsprojekt. Sonst wohl nicht. Die erwartete Lebensdauer der Koalition dürfte eher in Tagen als in Monaten zu zählen sein.

Und was bedeutet das für Bibi Netanjahu? Er wird wohl noch lange nicht von der politischen Bühne verschwinden – während Israels Politik so kippelig bleibt wie eine Kaffeetasse in einer zitternden Hand. Aber nach vier Wahlen in den vergangenen zwei Jahren haben die Bürger das Ankreuzen inzwischen fleißig trainiert. Die Chance auf eine Befriedung des Dauerkonflikts zwischen Israelis und Palästinensern ist angesichts dieser instabilen Lage wohl illusorisch – aber die war zuvor auch nicht besser. Sie merken schon: Viel Positives lässt sich der jüngsten Umwälzung im Nahen Osten nicht abgewinnen. Nur die gepflegte Langeweile bei uns zu Hause, die wissen wir nun vielleicht ein wenig mehr zu schätzen.


Auf den Osten kommt es an

Einigkeit und Recht und Freiheit heißt die Losung unseres Landes, doch mit der Einheit ist es so eine Sache. Betrachtet man 31 Jahre nach der Wiedervereinigung und knapp vier Monate vor der Bundestagswahl den Zustand Deutschlands mit dem nüchternen Blick eines Unparteiischen, bietet sich ein Bild gravierender Unterschiede. Formal mögen die Teilung überwunden, Gesetze egalisiert und viele Milliarden Euro geflossen sein, um die Lebensbedingungen anzugleichen. Doch in den politischen Präferenzen vieler Bürger scheint es den Osten und den Westen immer noch zu geben.

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Vor der Landtagswahl am Sonntag in Sachsen-Anhalt verdeutlicht eine Erhebung der Sender RTL und ntv, wie unterschiedlich die Sympathien für die Parteien links und rechts der ehemaligen innerdeutschen Grenze verteilt sind: Im Westen liegen die Grünen mit 26 Prozent einen Punkt vor der Union, die AfD rangiert mit 7 Prozent nur unter ferner liefen. Im Osten dagegen liegt die AfD mit 21 Prozent nur knapp hinter der CDU, die dort 23 Prozent bekommt, die Grünen müssen sich mit 12 Prozent begnügen. SPD und FDP erreichen in Westdeutschland jeweils 15 Prozent, im Osten sind es 3 beziehungsweise 5 Prozent weniger. Die Linkspartei würden 13 Prozent der Ostdeutschen wählen, im Westen schafft sie es nicht einmal über die Fünf-Prozent-Hürde. Eine weitere Umfrage ergänzt das ungleiche Bild: Demnach fühlt sich die Mehrheit der Ostdeutschen von keinem der drei Kanzlerkandidaten repräsentiert, mehr als 80 Prozent glauben, dass weder Armin Laschet (CDU) noch Annalena Baerbock (Grüne) noch Olaf Scholz (SPD) die wirtschaftliche und soziale Lage im Osten verstehen.

Wie eigentlich immer vor Landtagswahlen im Osten hat es auch in den vergangenen Tagen eine viel zu kurze Diskussion über Gründe für die Unterschiede und den eklatanten Misstrauensbeweis gegen die dominierenden Parteien gegeben. Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), wähnt bei Ostdeutschen eine stärkere Neigung, rechtsradikale Parteien zu wählen; die Menschen seien "teilweise in einer Form diktatursozialisiert, dass sie auch nach dreißig Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind", sprach er ins "FAZ"-Mikrofon und erntete dafür neben Kritik auch Beschimpfungen. Die Regierungschefs der Ostländer wiederum suchten bei ihrem gestrigen Stelldichein die Gründe eher in zu geringer Wirtschaftsförderung. Deshalb solle nun bitte mehr Steuergeld in "Zukunftstechnologien" gesteckt werden: E-Mobilität, Wasserstoff, künstliche Intelligenz, so was. Ein Begabtenförderwerk solle Ostdeutsche für Führungspositionen in Verwaltung, Justiz und Hochschulen fit machen, wo sie unterrepräsentiert sind. Auch sollten mehr Bundesbehörden in den neuen Ländern angesiedelt werden.

So flogen die Forderungen hin und her, und wenn man ehrlich ist, unterschieden sie sich kaum von denen vor vier, acht oder zwölf Jahren. Und damit sind wir beim Punkt, denn es ist leider immer dasselbe Lied: Da, wo in unserem wiedervereinigten Land die Musik spielt, spielen Ostdeutsche meistens nur die dritte Geige – und die Bundesregierung ist das beste Beispiel dafür: Ausgenommen die Kanzlerin, die seit bald 16 Jahren penibel darauf achtet, nicht in den Ruch zu kommen, Ostdeutsche zu bevorzugen, findet sich kein einziger Entscheidungsträger aus dem Osten im Kabinett, Frau Giffey ist ja nun auch weg vom Fenster. Stattdessen sitzen dort drei Minister aus dem kleinen Saarland. Auch von den 123 Abteilungsleitern in den Bundesministerien stammten Anfang des Jahres nur vier aus Ostdeutschland. In den großen Parteien sieht es kaum besser aus, auch dort geben Westdeutsche den Ton an: In der Union haben Herr Laschet aus NRW und Herr Söder aus Bayern um den Thron gerangelt, und den meisten Staub im Osten wirbelt der Westimport Hans-Georg Maaßen auf. Die Grünen werden von einer Hannoveranerin und einem Lübecker angeführt und haben im Osten keine stabile Basis; viele Ostdeutsche fremdeln mit ihrem akademischen Großstadtbürger-Habitus. Die SPD-Chefs stammen aus Stuttgart und Krefeld, ihr Kanzlerkandidat ist Wahl-Hamburger aus Osnabrück. Dass Herr Scholz ebenso wie Frau Baerbock im Wahlkreis Potsdam antritt, erklärt sich eher mit der netten Wohnlage nahe der Hauptstadt als mit der Sozialisation.

Man muss es leider so hart sagen: Die Interessen Ostdeutschlands werden in der Bundespolitik nur am Katzentisch verhandelt. Das hat Folgen bei der Verteilung von Geld und Ämtern, und das wird solange so bleiben, bis die regierenden Parteien sich dazu aufraffen, den jüngeren Teil der Republik angemessen in ihre Machtstrukturen einzubinden. Nur gut ein Sechstel aller Wahlberechtigten lebt in Ostdeutschland, doch bei Bundestagswahlen waren sie schon öfter das Zünglein an der Waage. Falls es am 26. September zwischen CDU/CSU und Grünen also wirklich auf Spitz und Knopf steht, könnten ostdeutsche Wähler den Ausschlag geben, wer ins Kanzleramt ziehen darf. Dafür müssten sie sich allerdings in den Parteien wiederfinden. Was spricht also dagegen, dass Herr Laschet, Frau Baerbock oder Herr Scholz ein simples Wahlversprechen abgeben: mindestens drei Minister im künftigen Bundeskabinett müssen aus Ostdeutschland stammen. Dann klappt es vielleicht auch irgendwann mit der Einheit.


Ende April verurteilte das Bundesverfassungsgericht die Regierung zu effektiverem Klimaschutz, Ende Mai verpflichtete ein holländisches Gericht den Ölkonzern Shell, seinen Kohlendioxid-Ausstoß fast zu halbieren – heute könnte das nächste wegweisende Klimaschutzurteil hinzukommen: In Luxemburg wird die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Überschreitung der deutschen Stickstoffdioxid-Grenzwerte erwartet. Deutschland und weitere Staaten wurden verklagt, weil sie "systematisch und fortdauernd" gegen die EU-Luftqualitätsrichtlinie verstoßen. Seither hat sich allerdings einiges zum Besseren gewendet, nicht nur wegen des Corona-Stillstands werden die Grenzwerte nur noch in wenigen Städten überschritten. Deshalb bekommt die Bundesregierung womöglich statt einer Strafe eine Frist, bis wann sie weitere Regeln für saubere Luft erlassen muss.


Was lesen?

Obwohl Donald Trump nicht mehr Präsident ist, zieht er in seiner Partei immer noch die Fäden. Seine Gegner versuchen sich mit riskanten Manövern zu wehren, berichtet mein Kollege Bastian Brauns.


"Und so jemand schwingt heute im Parlament laute Reden": Die Recherchen meines Kollegen Jonas Mueller-Töwe zu den Seilschaften eines führenden AfD-Manns in Sachsen-Anhalt sorgen für Schlagzeilen.


Was ist eigentlich mit Curevac – warum hängt der Corona-Impfstoff des Tübinger Unternehmens seit Monaten im EU-Prüfverfahren fest? Meine Kollegin Melanie Weiner kennt die Hintergründe.


Was amüsiert mich?

Der Vorteil von Vorurteilen ist ja, dass man sie vorführen kann.

Ich wünsche Ihnen einen ausgeglichenen Tag.

Herzliche Grüße und bis morgen,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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