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Bundestag beschließt Bürgergeld: Lohnt sich Arbeiten dann noch?


Bürgergeld soll kommen
Lohnt sich Arbeiten dann überhaupt noch?


Aktualisiert am 10.11.2022Lesedauer: 6 Min.
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Arbeitssuchende in einem Jobcenter.Vergrößern des Bildes
Schlange in einem Jobcenter (Archiv): Die Union kritisiert, dass die Sozialreform die falschen Anreize setze. (Quelle: dpa)

Der Bundestag hat das Bürgergeld verabschiedet. Doch die Union geht auf die Barrikaden und sieht die falschen "Anreize". Ist die Sorge berechtigt?

Für die Ampel ist klar: Das Bürgergeld soll kommen und das bisherige Hartz IV ersetzen. Am Donnerstag hat sie mit ihren Stimmen den Gesetzentwurf durch den Bundestag gebracht – für die Koalition die "größte sozialpolitische Reform" seit vielen Jahren. Teil davon: mehr Geld für diejenigen, die nicht arbeiten und auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen sind.

Doch die Union läuft Sturm und will das Gesetz im Bundesrat, der Länderkammer, blockieren. Der Vorwurf: Das Bürgergeld setze die "falschen Anreize", die CSU rief gar eine Kampagne unter dem früheren FDP-Slogan "Leistung muss sich lohnen" ins Leben. Auf der dafür eingerichteten Website heißt es: "In seiner jetzigen Form ist das Bürgergeld ein Schlag ins Gesicht aller Arbeitnehmer in Deutschland, die jeden Morgen früh aufstehen und unser Land am Laufen halten."

Die offenkundige Befürchtung der größten Oppositionspartei, auf deren Zustimmung die Ampel nun im Bundesrat angewiesen ist: Wenn Menschen, die nicht arbeiten, mehr Geld bekämen und mehr von ihrem Ersparten behalten dürften, könnten sich Erwerbstätige entscheiden, ebenfalls Grundsicherung zu beziehen – und sich in die viel zitierte "soziale Hängematte" zu legen.

Regelsatz soll auf 502 Euro steigen

Ist das realistisch? Oder andersherum gefragt: "Lohnt" sich das Arbeiten dann überhaupt noch?

Eine Antwort darauf zu geben, ist komplizierter, als man zunächst denken würde – zudem kursieren dazu einige falsche Behauptungen. Zunächst einmal geht es bei der Reform um eine Anhebung des Regelsatzes für die Empfänger des neuen Bürgergelds: Dieser soll von aktuell 449 Euro auf 502 Euro steigen. Neben diesem Betrag übernimmt das Amt dabei auch die Bruttokaltmiete und die Heizkosten.

In den vergangenen Tagen und Wochen kursierten Rechenbeispiele in den sozialen Medien, die nahelegten, dass Menschen, die zu niedrigen Löhnen arbeiten, am Ende des Monats in absoluten Zahlen weniger Geld bleiben würde als Bürgergeld-Empfängern. Auch CDU und CSU verbreiteten solche Aussagen.

Das jedoch ist offenkundig falsch. "Sowohl Hartz IV als auch das neue Bürgergeld stellen sicher, dass derjenige, der arbeitet, stets mehr hat als derjenige, der nicht arbeitet", sagt der Wirtschaftswissenschaftler Holger Schäfer vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft in Köln.

Wer arbeitet, hat mehr als jemand, der nur von Transferleistungen lebt

Schäfer hat das Ganze selbst durchgerechnet am Beispiel einer alleinstehenden Person in Hamburg. Aus seiner Kalkulation, die er t-online zur Verfügung gestellt hat, wird deutlich: In jedem Szenario, in dem dieser Hamburger Single arbeiten geht – sei es Vollzeit, Teilzeit oder in einem Minijob –, hat er mehr Geld zur Verfügung, als wenn er ausschließlich Bürgergeld beziehen würde.

  • Die Rechnung im Detail: Durch das Bürgergeld erhält der Hamburger eine Summe von 1.002 Euro – statt wie bislang 949 Euro im Hartz-IV-System. Dieser Betrag ergibt sich aus dem Regelbedarf von 502 Euro und den 500 Euro für die Kosten der Unterkunft, die für diesen Fall angenommen werden. Jemand, der unter den gleichen Umständen zum Mindestlohn arbeitet, verdient rund 2.000 Euro brutto – von denen er dann 1.447 Euro zur Verfügung hat, ein Plus von 400 Euro gegenüber dem Bürgergeld-Bezug. Was hier zusätzlich beachtet werden muss: Weil 2023 mehr Menschen Anspruch auf Wohngeld haben sollen, könnte dieser Niedriglöhner noch zusätzlich Geld erhalten. Die Details der Rechnung können Sie in folgender Tabelle nachvollziehen:
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Arbeitet die Person nicht Vollzeit, sondern in einem Minijob oder in Teilzeit, gilt: Das Gehalt wird nicht voll auf das Bürgergeld angerechnet. Deshalb wird auch nach der Reform der, der arbeitet, mehr haben als jemand, der nur von Transferleistungen lebt.

Oft werden zusätzliche Leistungen unterschlagen

Komplizierter werden die Berechnungen derweil, wenn unterschiedliche Familienkonstellationen berücksichtigt werden. Denn: Beim Bürgergeld schwankt der Regelbedarf je nachdem, ob es sich um eine Single, ein Paar oder eine Alleinerziehende handelt. Auch die Anzahl und das Alter der Kinder haben einen Einfluss.

Eine Niedriglohn-Familie auf der anderen Seite hat in vielen Fällen Anspruch auf Hilfen, etwa in der Form von Wohngeld, Kindergeld und Kinderzuschlag. Bei Alleinerziehenden kommt oftmals noch ein Unterhaltsvorschuss hinzu. Und: Liegt der Lohn unter dem Bürgergeld, kann dieser "aufgestockt" werden. Deshalb ist es irreführend, allein den Nettolohn mit dem Bürgergeld zu vergleichen.

CDU-Vize: "Ist Arbeit in Deutschland eigentlich gar nichts mehr wert?"

Das ist jedoch, was in vielen Fällen passiert: Diejenigen, die die Erzählung von der sich nicht lohnenden Arbeit verbreiten, tun das oftmals mit nicht korrekten Vergleichen – weil sie diese zusätzlichen Leistungen nicht vollständig oder gar nicht berücksichtigen.

Darauf fallen selbst etablierte Institutionen herein: Eine Studie des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel wurde nach heftiger Kritik an den dort präsentierten Szenarien vorübergehend von der Website genommen.

Doch da war der Schaden schon groß: Der stellvertretende CDU-Vorsitzenden Carsten Linnemann etwa hatte die Rechnung aufgegriffen, um in der ZDF-Talkshow "maybrit illner", gegen das Bürgergeld zu argumentieren. "Ist Arbeit in Deutschland eigentlich gar nichts mehr wert?", fragt er, um gleich hinterherzuschieben: Man müsse "ein Denkmal bauen" für die Menschen, die in Deutschland arbeiten gingen.

Wie groß muss der Abstand zum Lohn sein?

Auch wenn inzwischen klar ist, dass die Berechnungen auf diese Art nicht haltbar sind, ist eine zentrale Frage trotzdem noch nicht geklärt: Wie groß muss der Abstand sein zwischen dem, was ein Bürgergeld-Empfänger bekommt, und dem Geld, das ein Geringverdiener zur Verfügung hat – dass sich Arbeit wirklich "lohnt"?

Grundsätzlich gilt dabei: Arbeit muss sich nicht nur aufgrund finanzieller Anreize "lohnen" – sondern ist für uns Menschen auch deshalb wichtig, "weil sie jenseits des Lohnes einen ganz wichtigen eigenen Wert hat und soziale Kontakte, Wertschätzung sowie einen strukturierten Tagesablauf bedeutet", sagt der Sprecher des Bundesnetzwerks der Jobcenter, Stefan Graaf, t-online. Mehr dazu lesen Sie hier.

Schaut man aber auf das Geld, gibt es auch hier unterschiedliche Betrachtungen: Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), welches an die Bundesagentur für Arbeit angegliedert ist, geht im Fall des Bürgergelds nicht von einem "negativen Effekt auf das Arbeitsangebot" aus, weil sich gleichzeitig auch für Erwerbstätige einiges verbessere. Es verweist dabei unter anderem auf den erst kürzlich eingeführten höheren Mindestlohn von 12 Euro und darauf, dass auch im kommenden Jahr voraussichtlich die Löhne steigen werden. Auch die geplanten Erhöhungen von Wohngeld und Kindergeld seien in dem Zusammenhang wichtig.

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Ist das Bürgergeld zu hoch, oder die Gehälter zu niedrig?

Auch die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, sagt, dass ein gewisser Abstand gehalten werden müsse. "In Branchen, wo dies nicht gegeben ist, muss dringend nachgebessert werden", fordert sie. Die eigentliche Frage wäre demnach, ob das Bürgergeld zu hoch ist oder die Gehälter zu niedrig.

Dabei ist wichtig zu wissen: Ursache für die Erhöhung des Regelsatzes ist ein neuer Mechanismus in der Berechnung, der die aktuellen Preisentwicklungen besser berücksichtigen soll – die Erhöhung hängt also mit der derzeit hohen Inflation zusammen. "Die Erhöhung des Regelsatzes um rund 50 Euro wirkt dabei auf den ersten Blick zwar sehr kräftig, die derzeitige Inflation relativiert das aber deutlich", sagt Wirtschaftswissenschaftler Ulrich Walwei vom IAB.

Fronten sind verhärtet

Inzwischen hat sich die Union von ihrer ursprünglichen Kritik an den höheren Regelsätzen wegbewegt – auch wenn beispielsweise auf der Website der CSU die irreführenden Rechnungen nach wie vor zu sehen sind. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Friedrich Merz, allerdings hat die Ampel-Parteien vor der Abstimmung dazu aufgefordert, die Erhöhung der Regelsätze zu beschließen, dafür aber andere Teile der Reform – zumindest erst einmal – außen vor zulassen. Das hat die Ampel allerdings abgelehnt.

Die Union sieht auch bei einigen der anderen weitreichenden Änderungen durch das Bürgergeld Anlass zur Kritik. Sie bemängelt, dass es laut dem Gesetzentwurf in den ersten sechs Monaten nur in Ausnahmefällen Sanktionen geben soll. Auch, dass in den ersten beiden Jahren höhere Schonvermögen gelten und kein Umzug in eine kleinere Wohnung nötig sein soll, stößt auf Kritik. Hier sieht die Union ebenfalls Anreize für Menschen, eher Bürgergeld zu beziehen.

Die Fronten zwischen Regierung und Opposition sind verhärtet. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Union die Reform im Bundesrat blockiert und das Bürgergeld im Vermittlungsausschuss landen wird.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Anfrage an Holger Schäfer, Institut der deutschen Wirtschaft
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