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Streik: Forscher erklärt, warum derzeit so viel gestreikt wird


Streiks in Deutschland
"Das könnte auf eine Trendumkehr hindeuten"

InterviewVon Camilla Kohrs

24.03.2024Lesedauer: 5 Min.
Interview
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Ein Gewerkschafter trägt die Fahnen vom Gelände: Es ist derzeit ein günstiger Zeitpunkt für die Gewerkschaften, sagt Streikforscher Alexander Gallas. (Quelle: Bernd Thissen/dpa)

Wieso wird derzeit so viel gestreikt? Streikforscher Alexander Gallas sieht dafür vor allem drei Gründe. Im Interview mit t-online erklärt er, welche.

So reich an Streiks beginnt ein Jahr selten: Wenn die Deutsche Bahn nicht gerade streikt, ist es der öffentliche Nahverkehr. Oder das Bodenpersonal am Flughafen. Oder das Pflegepersonal in Kliniken.

Woran liegt das? Und wird sich das fortsetzen? Ja, meint Alexander Gallas. Der Streikforscher sieht vor allem drei Gründe, weshalb sich genau jetzt die Streiks intensivieren.

t-online: Herr Gallas, fast wöchentlich erlebt Deutschland derzeit große Streiks, die das Land lahmlegen. Oft kommt der Vergleich zu Frankreich auf, wo es immer wieder große Proteste gibt. Drohen in Deutschland französische Verhältnisse?

Alexander Gallas: Jein. Grundsätzlich wird in Frankreich vier- bis fünfmal so viel gestreikt wie bei uns. Die endgültigen Zahlen für 2023 und die ersten Monate von 2024 liegen zwar noch nicht vor. Es zeichnet sich allerdings ab, dass sich das Streikgeschehen in Deutschland intensiviert hat. Wir hatten bereits 2015 ein intensives Jahr, 2023 wahrscheinlich wieder. Gleichzeitig ist es aber auch so, dass anders gestreikt wird: Wir haben vor allem Streiks im Dienstleistungsbereich und in der öffentlichen Infrastruktur, die die Menschen in ihrem Alltag viel stärker beeinflussen.

Warum häufen sich die Streiks derzeit?

Drei Gründe sind entscheidend: Wir haben einerseits einen Arbeitskräftemangel – gerade in den Branchen, in denen nun viel gestreikt wird. Die Angestellten sind also bereit, ins Risiko zu gehen und Forderungen an ihre Chefs zu stellen. In Zeiten mit hoher Arbeitslosigkeit ist das anders. Das zweite Problem ist die Überlastung. Gerade bei der Bahn bleiben viele Stellen unbesetzt, es gibt einen hohen Krankenstand. Der Personalstand ist weniger als halb so hoch wie zu den Wendezeiten 1989/90. Das ist eine wirklich dramatisch große Lücke. Das heißt für die Angestellten, dass sie sehr viele Überstunden machen und Frust aufbauen.

Und der dritte Grund?

Die schwache Reallohnentwicklung. Durch die Inflation 2022 sind die Reallöhne in Deutschland um vier Prozent gesunken. Gerade die Menschen, die nicht so viel verdienen, spüren das sehr deutlich im Geldbeutel. Das alles zusammen macht es zu einem günstigen Zeitpunkt für die Gewerkschaften, etwas zu erreichen.

(Quelle: privat)

Zur Person

Dr. Alexander Gallas ist Politikwissenschaftler und forscht an der Universität Kassel zu Streiks. Mitte des Jahres erscheint sein Buch "Exiting the Factory: Strike and Class Formation Beyond the Industrial Sector", zu Deutsch: "Der Ausstieg aus der Fabrik: Streik und Klassenbildung jenseits des industriellen Sektors".

Besonders der Fachkräftemangel wird uns wohl noch einige Jahre begleiten. Müssen wir uns auf streikintensive Jahre vorbereiten?

Ja. Die Deutschen werden immer älter, der Arbeitskräftemangel wird sich also nicht in Luft auflösen. Allerdings könnte die sogenannte sektorale Verlagerung den Arbeitsmarkt entlasten. Dass also einige Branchen im Zuge der ökologischen Transformation unter Druck geraten und dort im spürbaren Ausmaß Stellen abgebaut werden, Beispiel Automobilzulieferindustrie oder Stahlindustrie. Diese Arbeitskraft könnte also, sehr verkürzt gesprochen, woanders eingesetzt werden.

Es wird auch oft angeführt, dass die Gewerkschaften mit Streiks um Mitglieder werben und dass das auch ein Faktor sein kann, warum die Streiks derzeit so groß ausfallen und teilweise auch so schnell ausgerufen werden.

Streiks machen die Gewerkschaften attraktiver, das ist ein Fakt. Dafür gibt es ganz simple Gründe, wie etwa das Streikgeld, dass man nur ausgezahlt bekommt, wenn man in der Gewerkschaft ist. Erfolgreiche Streiks zeigen zudem potenziellen Neumitgliedern, dass die Gewerkschaft für sie kämpft und spürbare Verbesserungen schafft. Es ist auch überlebenswichtig für Gewerkschaften, neue Mitglieder zu gewinnen. Seit 1990 sind die immer kleiner geworden. Nun zeichnet sich aber eine gewisse Trendumkehr ab.

Sie meinen, dass die Gewerkschaften im vergangenen Jahr relativ viele neue Mitglieder verzeichnet haben. Kann man an der Stelle tatsächlich schon von einer Trendumkehr sprechen?

Da muss man natürlich vorsichtig sein: Ist es ein klarer Trend oder ein einmaliges Ereignis? Interessant ist aber, dass unter den vielen neuen Mitgliedern – allein Verdi spricht von 200.000 – viele junge Menschen sind. Das könnte auf eine Trendumkehr hindeuten. Und auch in anderen Ländern beobachten wir eine ähnliche Entwicklung.

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Wo zum Beispiel?

In den USA zeigt sich das sehr deutlich. Dort haben jahrzehntelang die Gewerkschaften eine sehr marginale Rolle gespielt. Jetzt aber sehen wir große gewerkschaftliche Bewegungen, wie etwa den großen Automobilarbeiterstreik im vergangenen Herbst, als 50.000 Arbeiter bei den großen Automobilwerken von Ford, General Motors und Stellantis die Arbeit niedergelegt haben. Und sie hatten Erfolg und haben eine Lohnerhöhung von bis zu 30 Prozent durchgesetzt. Der Fall USA spricht dafür, dass die Gewerkschaften wieder an Bedeutung gewinnen und stärker werden.

Dabei wurden Gewerkschaften in den USA lange Zeit in die Nähe des Kommunismus gerückt oder galten als von der Mafia unterwandert.

Die Gewerkschaften wurden von weiten Teilen der US-Politik mit wirklich harten Bandagen bekämpft. Diese neue Entwicklung hat auch damit zu tun, dass die sozialen und ökonomischen Probleme sich in den letzten Jahren erheblich verschärft haben. In den USA ist die Erzählung, dass man mit harter Arbeit ganz nach vorne kommt, viel stärker verankert als hier. Das ist aber mit der Lebensrealität sehr vieler Bürger mittlerweile kaum noch in Einklang zu bringen. Die Gewerkschaften sind in der vergangenen Jahren ganz konkret auf die Menschen zugegangen und haben es geschafft, viele zu mobilisieren.

Schauen wir noch mal nach Deutschland: Es gab mehrere Gewerkschaften, die direkt nach der ersten Verhandlungsrunde einen Streik ausgerufen haben. Oder die GDL, die ihren Streik nicht einmal 24 Stunden vorher angekündigt hat. Eskalieren die Arbeitskämpfe derzeit schneller als eigentlich üblich?

Zumindest von der GDL ist das nichts Neues. Erinnern Sie sich etwa an 2014/15: Damals gab es auch eine sehr harte Auseinandersetzung zwischen der GDL und der Bahn, die länger gedauert hat als die derzeitige. Insgesamt aber kann man sagen, dass die Gewerkschaften schon einen Strategiewechsel vollzogen haben.

Inwiefern?

Über Jahre waren die Gewerkschaften sehr zurückhaltend und es wurde versucht, viel über den Verhandlungsweg zu lösen. Das war meist sehr vorteilhaft für die Arbeitgeber, die Gewerkschaften haben eher versucht, das Schlimmste zu verhindern. Nichtsdestotrotz haben sich in den Jahren – ich spreche vor allem von der Zeit bis 2015 – prekäre Arbeitsverhältnisse massiv verbreitet. Mittlerweile treten die Gewerkschaften viel selbstbewusster auf und können, wie sich zeigt, deutlich mehr für die Beschäftigten herausschlagen.

Geht das aber nicht auch auf Kosten der Akzeptanz der Bevölkerung? Immerhin reagieren viele Menschen zunehmend genervt auf die langen Streikphasen.

Die Menschen sollten sich immer vor Augen führen: Die Leute streiken nicht zum Spaß. Sie riskieren einen Verdienstausfall, wenn sie nicht selbst in der Gewerkschaft sind, und exponieren sich gegenüber ihren Vorgesetzten. Das macht man nur, wenn es wirklich handfeste Probleme gibt. Dass die Gesellschaft naturgemäß gespalten ist, was Streiks angeht, ist nichts Neues. Es gibt allerdings sehr viele Leute, die allein deswegen Verständnis haben, weil sie selber von schwierigen Arbeitsbedingungen betroffen sind. Andere verlieren nach und nach an Verständnis, je länger sich ein Streik hinauszieht.

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So wie derzeit bei der GDL.

Für die GDL ist die Unterstützung aus der Bevölkerung allerdings nicht so zentral. Sie verlässt sich viel mehr auf ihre eigene Stärke, versucht mit hoher Disziplin und geschlossenen Reihen ihre Forderungen durchzusetzen. Damit fährt sie bislang gut. Ein ganz anderes Vorgehen sehen wir derzeit bei den Verdi-Streiks im öffentlichen Nahverkehr. Verdi setzt klar auf eine breite Akzeptanz, hat sich etwa mit Fridays for Future zusammengeschlossen.

Und was ist die erfolgversprechendere Strategie?

Beide Strategien können gut funktionieren, wenn sie richtig gemacht werden. Ich nenne Ihnen ein Beispiel, das ich besonders gelungen fand: In den vergangenen Jahren hat das Pflegepersonal des Berliner Universitätskliniksystems Charité unter dem Motto "Mehr von uns ist besser für uns alle" gestreikt. Sie haben bessere Personalschlüssel gefordert, also nicht nur Verbesserungen für sich selbst, die Angestellten, sondern auch für die Patienten. Das hatte zur Folge, dass sich die Organisationen von Patientinnen und Patienten dem Streik angeschlossen haben. Der Vorwurf, die Pfleger würden auf Kosten der Patienten streiken, zog damit nicht mehr.

Herr Gallas, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefoninterview mit Alexander Gallas
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