"Das ist Staatsversagen auf allen Ebenen"
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In Deutschland schwelt ein neuer, alter Finanzskandal: Jahrelang konnten Investoren und Banken den Staat um Milliarden betrรผgen, ohne dass die Finanzbehรถrden eingegriffen haben. Was steckt dahinter?
150 Milliarden Euro: Um diese Summe sollen Steuerbetrรผger Deutschland und weitere Staaten weltweit gebracht haben, wie neue Recherchen von "Correctiv", dem ARD-Magazin "Panorama" und anderen Medien zeigen. Konkret geht es dabei um sogenannte Cum-Cum/Cum-Ex-Geschรคfte, bei denen Banken versuchten, den Fiskus zu tรคuschen.
Eigentlich sollten solche Geschรคfte seit 2016 nicht mehr mรถglich sein. Der Bund verabschiedete damals ein entsprechendes Gesetz dazu. Aber: Nach Aussage des Rechercheverbundes halten sie weiter an. Wie konnte es dazu kommen? Und wie funktionieren diese Geschรคfte eigentlich? t-online erklรคrt es Ihnen.
Was sind Cum-Cum-Geschรคfte?
Sowohl bei Cum-Ex als auch bei Cum-Cum-Geschรคften sprechen Fachleute vom sogenannten Dividendenstripping. Denn hier geht es um Tricksereien rund um Aktien, bei denen eine Dividende, also ein Teil des Gewinns, an die Aktionรคre ausgeschรผttet wird.
Bei Cum-Ex-Geschรคften inszenierten Aktienhรคndler gegenรผber dem Fiskus ein Verwirrspiel mit Aktien mit ("cum") und ohne ("ex") Dividendenansprรผche. Anleger lieรen sich eine einmal gezahlte Kapitalertragsteuer auf Aktiendividenden mithilfe von Banken mehrfach erstatten. Dazu wurden diese Aktien rund um den Dividendenstichtag zwischen mehreren Beteiligten hin- und hergeschoben. Finanzรคmter erstatteten dann Kapitalertragsteuern, die gar nicht gezahlt worden waren. Mehr zu Cum-Ex lesen Sie hier.
รhnlich sieht es bei Cum-Cum aus: Hier geht es darum, dass auslรคndische Investoren ihre Aktien vor dem Dividendenstichtag ins Inland verschieben. Konkret funktioniert das so: Ein auslรคndischer Investor muss in Deutschland 15 Prozent Kapitalertragsteuern auf die Dividende eines deutschen Unternehmens zahlen.
Um das zu verhindern, "verleiht" der Investor seine Anteilsscheine an einen deutschen Dienstleister, beispielsweise eine Bank. Nachdem die Dividende ausgezahlt wurde, gibt die Bank die Anteilsscheine wieder zurรผck โ den Gewinn, also die gesparten Steuern โ teilen sich die Beteiligten.
Sind die Betrugsgeschรคfte strafbar?
Cum-Ex-Geschรคfte sind strafbar, wie der Bundesgerichtshof im Juli dieses Jahres urteilte. Fรผr Cum-Cum-Geschรคfte steht ein hรถchstrichterliches Urteil bislang allerdings noch aus.
Steuerrechtlich betrachtet sind sie auf jeden Fall illegal, fraglich ist aber, ob die Beteiligten dafรผr eine Gefรคngnisstrafe erhalten, oder lediglich die Forderungen nachzahlen mรผssen. Helmut Lotzgeselle, Richter am Hessischen Finanzgericht, geht davon aus, dass die Geschรคfte strafbar sind: "Fรผr mich sind Cum-Cum-Geschรคfte nicht nur ein Gestaltungsmissbrauch und eine Steuerumgehung, fรผr mich als Jurist sind Cum-Cum-Geschรคfte auch eine Straftat", sagte er "Panorama".
Wie hoch ist der Schaden fรผr Deutschland?
Die Steuertricks mit Namen wie Cum-Ex, Cum-Cum oder Cum-Fake verursachten alleine in Deutschland seit 2009 mindestens 192 Millionen Euro Schaden, wie ein Team von Wirtschaftswissenschaftlern der Universitรคt Mannheim errechnete.
Im Zeitraum 2000 bis 2020 habe sich der Gesamtschaden in Deutschland auf 35,9 Milliarden Euro belaufen, davon stammen 28,5 Milliarden Euro aus Cum-Cum-Geschรคften. Bis Ende 2020 seien erst 135 Millionen Euro aus den Cum-Cum-Geschรคften zurรผckgeholt worden, sagt Konrad Duffy, Experte bei der Bรผrgerbewegung Finanzwende, t-online. "Das ist ein Tropfen auf den heiรen Stein."
Weltweit belaufe sich der Schaden auf rund 150 Milliarden Euro. Ursprรผnglich war man von rund 55 Milliarden Euro ausgegangen. Gut mรถglich aber, dass diese Summe noch weiter steigt. Denn Cum-Cum-Betrug ist hierzulande immer noch mรถglich (siehe unten).
"Wรคhrend bei einfachen Steuerzahlern jeder Euro dreimal umgedreht wird, konnten Steuerrรคuber einfach Milliarden vom Fiskus stehlen", so Duffy. "Hier ist die Welt verkehrt."
Warum ist Cum-Cum immer noch mรถglich?
2011 wurde eine Gesetzeslรผcke geschlossen, um Cum-Ex-Geschรคfte zu verhindern. Und 2016 brachte der Bund ein Gesetz auf den Weg, um Cum-Cum-Geschรคfte zu unterbinden. Aber: รhnliche Geschรคfte sind immer noch mรถglich. Denn Steuerbetrรผger sind kreativ und nutzen die Unwissenheit der Finanzbehรถrden aus.
"Das Problem wurde nie wirklich dort behoben, wo es nรถtig gewesen wรคre: an der Schnittstelle zwischen Finanzinstituten und dem Staat", sagt Verbraucherschรผtzer Duffy. Denn: "Bisher kรถnnen Finanzinstitute selbst Kapitalertragsteuer-Bescheinigungen ausstellen, ohne dass der Staat die Richtigkeit leicht prรผfen konnte".
Wichtig sei daher, dass die Informationen beim Staat gebรผndelt werden. "Es gibt IT-Lรถsungen, um dem Staat genaue รbersichten zu geben", so Duffy. "In anderen Lรคndern werden solche Lรถsungen seit Jahren erfolgreich angewandt. In Deutschland traut man sich nicht richtig daran."
Finanzministerium: Nach 2016 keine Hinweise auf Cum-Cum-Fรคlle
Das Bundesfinanzministerium wies indes den Eindruck zurรผck, "Cum-Cum"- und รคhnliche Geschรคfte wรผrden bis heute nicht effektiv bekรคmpft. "Das Bundesfinanzministerium hat gehandelt โ vor und in dieser Legislaturperiode", hieร es. Mehrere Regelungen seien verschรคrft und Missbrauch abgestellt worden.
Seit 2016 etwa gebe es schรคrfere Anforderungen zur Anrechnung der Kapitalertragsteuer auf Dividendenzahlungen. Danach sei noch ein Fall bekannt geworden โ woraufhin Regeln weiter verschรคrft worden seien. Weitere Hinweise aus den Lรคndern auf "Cum-Cum"-Fรคlle nach 2016 habe es nicht gegeben โ und auch keine Erkenntnisse, dass geltende Regelungen unzureichend wรคren.
Wer trรคgt die Verantwortung fรผr den Skandal?
Das ist die entscheidende Frage. Duffy kritisiert hier vor allem die Politik. "Das ist schlicht Staatsversagen auf allen Ebenen", sagt er. "Der Staat schรผtzte Banken lange systematisch vor Rรผckforderungen."
Die Steuergeschรคfte seien seit Jahrzehnten bekannt, aber der Staat habe es schlicht unterlassen, zu handeln. "Die politische Verantwortung tragen auch Olaf Scholz und sein Vorgรคnger Wolfgang Schรคuble. Die beiden haben es versรคumt, den Finanzbehรถrden klare Anweisungen zum Steuerbetrug zu geben."
Erst im Sommer 2021 hat das Bundesfinanzministerium ein Schreiben an die Finanzministerien der Lรคnder geschickt, das den Weg freimacht, den Cum-Cum-Steuerbetrug vollumfรคnglich aufzuarbeiten. "Scholz hat hier viel zu spรคt gehandelt", sagt Experte Duffy. "Viele Fรคlle sind mittlerweile verjรคhrt โ und es ist teils nur noch schwer, an die Gelder zu kommen." Jetzt seien die Bundeslรคnder dran. Im Moment sehe es hier aber dรผster aus.
"Ich glaube noch nicht daran, dass sich zeitnah etwas รคndern wird", so Duffy. "Es gilt, dass wir auch als Gesellschaft hier den Druck erhรถhen."
- Eigene Recherche
- Correctiv: "Cum-Ex-Files 2"
- Panorama: "150 Milliarden Euro Schaden"
- Gesprรคch mit Konrad Duffy, Finanzwende
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und AFP