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Gerald Knaus: "Um die Grenze abzuriegeln, müsste man eine Mauer bauen"


Migrationsexperte Gerald Knaus
"Um die Grenze abzuriegeln, müsste man eine Mauer bauen"

  • Johannes Bebermeier
InterviewEin Interview von Johannes Bebermeier

Aktualisiert am 08.08.2018Lesedauer: 9 Min.
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Flüchtlinge und ein Polizist im spanischen Hafen von Algeciras: Experte Gerald Knaus kritisiert die EU für ihre Migrationspolitik scharf.Vergrößern des Bildes
Flüchtlinge und ein Polizist im spanischen Hafen von Algeciras: Experte Gerald Knaus kritisiert die EU für ihre Migrationspolitik scharf. (Quelle: Marcos Moreno/dpa-bilder)

Gerald Knaus hat den EU-Türkei-Deal konzipiert. Die jetzige Flüchtlingspolitik der EU kritisiert der Experte scharf. Doch wie könnte sie besser funktionieren?

Gerald Knaus ist gefragt dieser Tage. Er ist ständig in Meetings, spricht mit Forschern, Praktikern und Politikern. Sein Thema: die Migrationspolitik. Knaus ist Vorsitzender der Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative" und nicht nur theoretisch Experte auf dem Gebiet. Seine Ideen machen Politik. Er ist der Vordenker des EU-Türkei-Deals, mit dem die Migration aus der Türkei nach Griechenland geregelt wurde.

Wer mit ihm spricht, bekommt derzeit wenig Positives über die Politik der EU zu hören. Auch Deutschlands Mächtige kommen nicht gut weg. Was läuft falsch? Und wie könnte eine funktionierende Flüchtlingspolitik aussehen? Darüber spricht Gerald Knaus im Interview mit t-online.de.

t-online.de: Herr Knaus, in Spanien kommen derzeit mehr Flüchtlinge an als in Italien. Die spanische Polizei geht angeblich davon aus, dass 50.000 Afrikaner in Marokko auf die Überfahrt nach Spanien warten. Droht eine Flüchtlingssituation wie 2015/2016?

Gerald Knaus: Nein. In der ersten Jahreshälfte 2018 kamen immer noch viel weniger Menschen über das Mittelmeer als selbst 2014. Auch in Spanien waren es bislang 28.000 Ankünfte in den ersten sieben Monaten. Zum Vergleich: 2016 kamen 180.000 Menschen nur nach Italien. Das bedeutet, dass die Situation heute mit einer vernünftigen Politik schnell zu bewältigen wäre.

Warum ist die Debatte dann so aufgeregt?

Weil wir keine vernünftige Politik haben. Die EU hat immer noch keine Strategie. Wir entscheiden nicht schnell genug über Asylanträge, wir können anerkannte Asylbewerber nicht verteilen und abgelehnte nicht zurückbringen. Gleichzeitig gewinnen jene an Einfluss, die das Recht auf Asyl grundsätzlich infrage stellen, Menschen ohne Verfahren auch nach Libyen zurückschicken wollen und die Seenotrettung einschränken. So wie der italienische Innenminister Matteo Salvini. Er wurde damit in wenigen Wochen zum einflussreichsten Politiker seines Landes.

Der letzte EU-Gipfel hat sich fast nur mit Flüchtlingspolitik beschäftigt. In Deutschland hat der Streit darum fast die Regierung und die Unionsfraktion zerbrechen lassen. Hat das irgendetwas gebracht?

Nein. In Deutschland wurde viel zu viel über irrelevante Themen diskutiert. Weder mehr Polizei an der Grenze zu Österreich noch ein paar zusätzliche Dublin-Überstellungen nach Griechenland machen einen wirklichen Unterschied. Es war im Kern eine ideologische Debatte, in der es trotz aller Emotionen nicht um umsetzbare Lösungen ging. Bei den drängenden Fragen sind wir heute keinen Schritt weiter als vor zwei Monaten.

Was lief in der deutschen Debatte falsch?

Sie drehte sich darum, ob es nur eine Frage des politischen Willens ist, staatliche Grenzen zu schließen. Die CSU warf Angela Merkel vor, die Flüchtlingskrise durch ihre angebliche Weigerung 2015, die Grenze zu Österreich im nationalen Alleingang zu schließen, erst verursacht und dann nicht beendet zu haben. Nun forderte die CSU, das nachzuholen, was damals angeblich versäumt wurde. Um auch zu zeigen: Merkel hätte es tun können.

Hätte Sie es tun können?

Nein. Um seine Grenze unilateral abzuriegeln, müsste Deutschland eine Mauer bauen, vom Bodensee bis Passau. Das ist die allerwichtigste Lehre aus diesem Sommertheater: Kein deutscher Innenminister kann die Grenze zu Österreich ohne Kooperation mit Wien einfach schließen, selbst heute nicht, bei ungleich geringeren Zahlen als 2015. An dem Mythos, dass das geht, hielt Wien nur so lange fest, bis man selbst etwas tun musste. Noch am 22. Juni stellte sich Bundeskanzler Sebastian Kurz in der "Bild"-Zeitung hinter Horst Seehofers Plan. Fünf Tage später erklärte sein Innenminister, dass man „den Deutschen erklären werde, dass wir ihnen diese Personen nicht abnehmen“. Und Kurz bestätigte das sofort. So hat Österreich Seehofer im Regen stehen lassen.

Bei Österreich und Italien scheint es auch nicht voranzugehen...

Die Kanzlerin hatte hier Recht, von Anfang an: Man muss sich mit anderen Ländern einigen. Tatsächlich sind weder Österreich noch Italien noch Ungarn bereit, aus Deutschland Migranten zurückzunehmen. Wien war immer empört über das "Durchwinken" jener, die nach Österreich kamen. Das sei leicht zu stoppen, hieß es. Als aber Menschen über Österreich nach Deutschland weiter zogen, war das für sie plötzlich kein Durchwinken mehr. Dabei ist die wichtigste Lehre so klar wie ein bayrischer Bergsee: Ohne Kooperation mit Transit- und Herkunftsländern geht nichts. Und die haben Interessen. Realismus bedeutet, auf diesen aufzubauen.

Mit Spanien unter Ministerpräsident Pedro Sanchez gibt es immerhin nun ein Rücknahmeabkommen. Bringt das etwas?

Die Regierung in Madrid macht klar, man will mit Deutschland kooperieren. Das ist ein Zeichen des guten Willens einer Regierung, die an einer gemeinsamen, humanen Politik zur humanitären Krise im Mittelmeer und zur Zukunft von Asyl interessiert ist. Doch was Madrid und Berlin wirklich brauchen, ist etwas anderes – ein Sanchez-Merkel-Plan: für Seenotrettung im Mittelmeer, für schnelle Asylverfahren und Abkommen mit afrikanischen Ländern, die schnelle Rückführungen ermöglichen. Auch das ist realistisch, und es hätte ungleich mehr Wirkung.

War der Fehler der Debatte auf EU-Ebene, dass zu wenig über die Interessen anderer nachgedacht wurde?

Wer Lösungen will und nicht nur Schlagzeilen, muss über die Motivation jener nachdenken, auf die man angewiesen ist. Ein Beispiel: Man kann sich natürlich Anlandungsplattformen auf irgendwelchen Inseln vor Afrika wünschen. Doch was macht man, wenn es kein Land in Nordafrika gibt, das die haben will? Auch weil überhaupt nicht geklärt ist, was dort laut EU passieren sollte. Könnte man einen Asylantrag stellen? Wer wäre rechtlich zuständig? Wohin kämen anerkannte Flüchtlinge? Die EU-Kommission hat dazu kürzlich ein Zwei-Seiten-Papier präsentiert, das so oberflächlich ist, dass ein 13 Jahre alter Schüler dafür kein "genügend" bekommen hätte. Das ist nur Theater.

Ihr eigenes Konzept für eine funktionierende Flüchtlingspolitik setzt dementsprechend auf Kooperation. Was sieht es praktisch vor?

Wir brauchen eine Politik, die auf drei Säulen beruht: Erstens, EU-Aufnahmezentren in Ankunftsstaaten wie Spanien, Italien und Griechenland. Dort muss in schnellen, sauberen rechtsstaatlichen Verfahren entschieden werden, wer Schutz braucht und wer sofort zurückgeschickt wird. Zweitens, Einigungen in beiderseitigem Interesse mit afrikanischen Herkunftsländern, hierbei zu helfen. Und drittens, einen auf Interessen basierenden Mechanismus, anerkannte Flüchtlinge in der EU zu verteilen.

Das Konzept klingt ambitioniert.

Ja, es bedeutet viel Arbeit, die derzeit nicht gemacht wird. Aber es ist kein Luftschloss. Der Schlüssel zu allem sind schnelle Asylverfahren. Wir wissen, dass es diese geben könnte. Die Niederländer schaffen es in den meisten Fällen, Verfahren innerhalb von sechs Wochen abzuschließen, inklusive einer möglichen Berufung bei Ablehnung.

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Was machen sie besser als die Deutschen?

Die Ankommenden haben zunächst einige Tage Ruhepause. Dann beginnt das Asylverfahren, bei dem vom ersten Tag an ein vom Staat bezahlter Rechtsanwalt an ihrer Seite ist. Es gibt zwei Interviews mit Asylbeamten, bei denen auch Nichtregierungsorganisationen dabei sein können. Extrem wichtig ist aber, dass bei einer Ablehnung die Gerichte bereitstehen, um innerhalb von wenigen Wochen über eine Berufung zu entscheiden.

Nehmen wir an, der Asylbewerber wird abgelehnt. Dann müsste er zurück in sein Herkunftsland. Rücknahmeabkommen versucht auch die EU abzuschließen. Meist erfolglos. Was würden Sie besser machen?

Sehen wir es aus der Perspektive von Politikern in Herkunftsländern: Sie müssen ihren Bürgern nicht nur sagen, dass es sich nicht lohnt, nach Europa zu gehen; sie sollten auch ankündigen, dass sie ab einem Stichtag jeden, der über das Mittelmeer kommt und in der EU keinen Schutz bekommt, sofort zurücknehmen. Da die meisten Menschen, die in den letzten Jahren über das Mittelmeer nach Italien oder Spanien kamen, in diese Gruppe gehören, könnte man sogar mit relativ wenigen Rückführungen in diese Länder den Zustrom zum Einbrechen bringen. Doch so etwas macht eine Regierung nur, wenn sie dafür etwas bekommt.

Was soll man den Staaten anbieten?

Das, was diese Länder seit Jahren bei jedem Treffen mit der EU fordern: Kontingente für reguläre Migration. Einige Tausend Menschen pro Jahr könnten mit Arbeitsvisa oder Stipendien kommen. Vielleicht sogar über eine Lotterie für jene, die gewisse Kriterien erfüllen. Die USA haben das 1995 mit Kuba eingeführt und eine Krise mit Tausenden Bootsflüchtlingen sofort in den Griff bekommen.

Und wie verteilt man diejenigen, die anerkannt werden oder über die Kontingente kommen? Darüber streitet die EU seit Jahren.

Mitgefühl für Flüchtlinge lässt sich nicht aus Brüssel verordnen. Es wurde versucht und ist gescheitert. Wir brauchen auch hier einen anderen Ansatz. Empathie lässt sich nicht europäisieren.

Das müssen Sie erklären.

Man wollte Asylwerber nach festen Quoten auf alle EU-Staaten verteilen, Staaten also zur Empathie zwingen. Und das, ohne ein Konzept zu haben, wie die Zahl von irregulär Kommenden reduziert werden könnte. Leider hat sich der Rest der EU damit von Regierungen abhängig gemacht, die das Flüchtlingsthema instrumentalisieren, obwohl sie davon gar nicht betroffen sind und keine Lösung brauchen. Und die Asylsuchende als Feinde der Zivilisation bekämpfen.

Zum Beispiel?

Nehmen Sie Ungarn. Dort wurden vergangenes Jahr 3.400 Asylanträge gestellt, dieses Jahr werden es noch weniger sein. Ungarn hat kein Problem mit Flüchtlingen. Dennoch hat Viktor Orban dieses Jahr seinen ganzen Wahlkampf mit diesem Thema bestritten. Er schürt die Angst der Ungarn vor einer imaginären Zuwanderung von Millionen, redet vom Selbstmord Europas. Für ihn ist der Status quo perfekt.

Wenn feste Verteilungsquoten nicht funktionieren, müsste man auf Freiwilligkeit setzen.

Es gibt zum Glück weiterhin in vielen europäischen Staaten die Bereitschaft, Flüchtlingen zu helfen. Um diese Bereitschaft in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, den Nordländern, Portugal oder Spanien zu erhalten, müssen Regierungen zeigen: Wir sind in der Lage, an den Grenzen wieder Kontrolle herzustellen.

Nur auf Freiwilligkeit zu setzen, dürfte trotzdem zu wenig sein.

Anstatt in der EU zu diskutieren, diejenigen zu bestrafen, die nicht mitmachen, sollten Gemeinden und Regionen finanziell belohnt werden, wenn sie aus den von uns vorgeschlagenen europäischen Ankunftszentren im Mittelmeer anerkannte Flüchtlinge aufnehmen. Das Geld sollte langfristig aus einem „Kommunalen Integrations- und Entwicklungsfonds“ im EU-Haushalt kommen, der neben Flüchtlingsintegration zusätzliche kommunale Investitionen fördert.

Aber könnten Länder wie Ungarn das nicht als Erfolg ihrer Verweigerungshaltung verbuchen?

Die bisherige widersprüchliche und unrealistische Politik der EU war das größte politische Geschenk, das man Viktor Orban machen konnte und immer noch macht. Genützt hat das niemandem. Überdies ist die Alternative moralisch und praktisch nicht überzeugend. Soll man wirklich Flüchtlinge nach Ungarn schicken, wo sie von der Regierung als Feinde Ungarns dargestellt werden? In wessen Interesse? Dass sich Menschenrechtsorganisationen dafür aussprechen, habe ich nie verstanden. Auch nicht, wie man dann erreichen will, dass Flüchtlinge nicht sofort in freundlichere Länder weiterziehen.

Ihr Konzept hat vieles mit dem EU-Türkei-Deal gemein, den sie auch erfunden haben. An dem gibt es inzwischen viel Kritik. Was läuft schief?

Das ist sehr einfach: Die Verfahren dauern in Griechenland viel zu lange. Deshalb werden viel zu wenige Migranten, die keinen Schutz in der EU brauchen, in die Türkei zurückgeschickt. Es werden auch zu wenige Flüchtlinge aus der Türkei direkt geholt. Überdies sind die Bedingungen für Asylwerber in den Zentren auf den Inseln eine europäische Schande. Das Abkommen hat dazu geführt, dass die Zahl der Ankommenden und der Toten stark gesunken sind, und trotz aller Kritik hat niemand eine Alternative vorgeschlagen. Es gehört endlich seriös umgesetzt.

Die von ihnen geplanten EU-Ankunftszentren müsste es langfristig auch in Italien geben. Die Italiener haben aber schon gesagt, dass sie solche Zentren nicht haben wollen – auch wenn sie von der EU finanziert werden.

Italiens Innenminister Salvini hat kein Interesse an einer konstruktiven europäischen Lösung. Sein großer Auftritt am 10. Juni bestand darin, per Tweet das Schiff "Aquarius" daran zu hindern, Gerettete nach Italien zu bringen. Die meisten waren Menschen, die die "Aquarius" erst kurz zuvor von Schiffen der italienischen Küstenwache aufgenommen hatte. Als dann Spanien anbot, dieses unwürdige Spiel zu beenden, hat sich Salvini über Madrid lustig gemacht. Das ist die politische Schule von Donald Trump. Wir brauchen eine Strategie, die ohne Salvini demonstriert, wie es funktionieren kann: Ein positives Beispiel in Spanien als Gegenmodell. Gelingt dies nicht, ist er der politische Sieger.

Das müsste aber schnell gehen. Salvini schafft im Moment Tatsachen.

Ja. Idealerweise müsste sich eine Gruppe von Staaten schon jetzt mit Spanien hinsetzen. Deutsche, Franzosen, Niederländer, Portugiesen, auch Schweizer, die bei Dublin und Schengen dabei sind. Ein anerkannter ehemaliger Regierungschef sollte sofort mit den wichtigsten Herkunftsländern über Einigungen zur Rückübernahme aus Spanien reden. Warten wir weiter auf Brüssel und „europäische Lösungen“, überlassen wir den Salvinis das Thema Flucht und Grenzen. Dann wachen wir nach der Europawahl im Mai 2019 mit einem antieuropäischen Europaparlament auf.

Herr Knaus, vielen Dank für das Gespräch.

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