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Flucht: Die vergebliche Suche nach einer Lösung


Falsche Debatte
"Wir müssen das Problem Flucht jetzt lösen"

MeinungEin Essay von Jonas Schaible

Aktualisiert am 09.07.2018Lesedauer: 7 Min.
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Die deutsche NGO "Jugend rettet" eskortiert Flüchtlinge in einem Boot: Im Mittelmeer ertrinken jedes Jahr mehr als tausend Menschen.Vergrößern des Bildes
Die deutsche NGO "Jugend rettet" eskortiert Flüchtlinge in einem Boot: Im Mittelmeer ertrinken jedes Jahr mehr als tausend Menschen. (Quelle: Zohra Bensemra/reuters)

CDU, CSU, SPD, AfD: Alle wollen das Flüchtlingsproblem lösen – mit unterschiedlichen Maßnahmen. Aber eine Lösung kann es gar nicht geben. Nur eine Entscheidung, die Europa treffen muss.

Flüchtlinge. Flüchtlinge. Flüchtlinge. Seit Monaten beherrscht das Sprechen über sie die deutsche Innenpolitik. Jetzt brauche es Lösungen, drängte die CSU, als laufe die Zeit davon. Generalsekretär Markus Blume sagte kürzlich: "Horst Seehofer hat geschafft, was keiner erwartet hat: Diese große Migrationsfrage einer Lösung zuzuführen." Die CDU fordert eine europäische Lösung, unterstützt von der SPD. Radikalere Lösungen fordert die AfD. Man ist sich einig: Wir müssen das Problem Flucht jetzt lösen.

Aber eine Lösung kann es nicht geben. Deutschland reibt sich auf der Suche nach einer Lösung für ein Problem auf, das unlösbar ist.

Politische Probleme sind grundsätzlich keine Kreuzworträtsel, die man ausgefüllt zur Seite legt. Demokratische Politik gestaltet immer weiter, ist immer prozesshaft, nie punktuell. Aber im Umgang mit Flucht gilt das auf besondere Weise.

Erstens, weil an ihrem Beginn eine nicht aufzuhebende Ungerechtigkeit steht. Zweitens, weil sich die Ursachen dem Zugriff europäischer Gesellschaften entziehen. Drittens, weil Flüchtlinge eine besondere Stellung zwischen dem Innen und dem Außen von demokratischer Politik einnehmen.

Flucht vergeht nicht, löst sich nicht auf.

Nur wer das ernst nimmt, hat die Chance, überhaupt etwas zu gestalten. Nur wenn Politik damit aufhört, den Notstand zu behaupten, kann das Wundreiben aufhören.

1. Die tiefe Ungerechtigkeit der Geburt

Am Beginn jeder Flucht steht die größte anzunehmende Zumutung: Die Geburt ist eine Lotterie. Allein Pech oder Glück entscheiden, ob man in einem industrialisierten Wohlfahrtsstaat aufwächst, im bürgerkriegszerrissenen Syrien oder in einem Agrarstaat des globalen Südens. Und doch folgt so viel daraus: Staatsbürgerschaft; also auch das Recht, in bestimmte Länder zu reisen und dort zu bleiben. Oder nicht.

“Die Würde des Menschen ist unantastbar”, heißt es im Grundgesetz. “Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren”, erklärten alle UN-Mitglieder in der Menschenrechtscharta.

Aus dieser Perspektive können Rechte nicht an historischen Zufälligkeiten wie den Geburtsort geknüpft sein. Wer diese Sätze glaubt, kann es nicht gerecht finden, dass die eine sich in einem Land ihrer Wahl ansiedeln darf und der andere nicht.

Natürlich ist es so. So ist die Staatenwelt organisiert, und solange diese Staatenwelt existiert, wird die ungleiche Verteilung von Rechten kaum aufzuheben sein. Aber dass es so ist, macht es nicht gerecht.

Jede Abschiebung und jedes Gesetz, das Einwanderung regelt, so plausibel, pragmatisch und nötig man es finden mag, ist nicht viel mehr als ein in politische Normen gegossenes Achselzucken: Pech gehabt. Es bleibt ein Rest unabweisbarer, tiefer Ungerechtigkeit.

Menschen fliehen, und niemand in Deutschland kann ihnen vernünftig erklären, warum sie dazu kein Recht haben sollten.

Die moralische Zumutung geht also nicht weg.

2. Ursachen entziehen sich dem Zugriff

Fluchtursachenbekämpfung ist eine sinnvolle Strategie, nur ist ihre Wirkungsmacht begrenzt. Auch Abschreckung wirkt kaum – was sich schon daran zeigt, dass eine zunehmende Verschärfung in Europa die Massenflucht zwischen 2014 und 2016 nicht verhindert hat.

Als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg etablierten die Weltmächte ein vergleichsweise liberales Fluchtrecht. Auch Deutschland trat der Genfer Flüchtlingskonvention bei und machte im Artikel 16 des Grundgesetzes das Recht auf Asyl zu einem Grundrecht für jedermann, auch wenn es in der Praxis immer ein Sonderrecht für all jene war, die verzweifelt, tollkühn und glücklich genug waren, es auch einzufordern.

Als das mehr Menschen wurden, wurden neue Hürden errichtet. Im Asylkompromisses 1993 wurden die Konzepte der sicheren Drittstaaten und der sicheren Herkunftsstaaten eingeführt, außerdem das Flughafenverfahren, mit seiner “Fiktion der Nichteinreise”, das jetzt ausgeweitet werden soll. Kurz darauf trat das Asylbewerberleistungsgesetz in Kraft, das Flüchtlingen weniger als das definierte Existenzminimum zusprach und eher Essenspakete und Kleidung als Geld.

In den Jahren danach, als weniger Flüchtlinge kamen, erstritten Aktivisten einige Lockerungen. So entschied das Bundesverfassungsgericht 2012, Flüchtlinge müssten mehr Geld bekommen, denn die “Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren”. Im selben Jahr marschierten Flüchtlinge gegen die Residenzpflicht. Ein Bundesland nach dem anderen stieg von Essenskisten auf Geldleistungen um.

Aber bereits im Herbst 2015 begann die Regierung, die Gesetze zu verschärfen. Schon im September führte Deutschland Kontrollen an der Grenze zu Österreich ein. Noch im selben Monat kam das Asylpaket I: Albanien, Kosovo und Montenegro wurden zu sicheren Herkunftsländern erklärt, Abschiebungen erleichtert, Leistungskürzungen ermöglicht, Sachleistungen wieder eingeführt. Die Erleichterungen aus vielen Jahren: aufgehoben. Mit dem Asylpaket II wurde der Familiennachzug für einen Teil der Flüchtlinge ausgesetzt und Abschiebungen erleichtert. Mit dem Türkei-Deal wurde die Grenzkontrolle aus der EU ausgelagert.

Die neue Bundesregierung begrenzte den Familiennachzug dauerhaft, sie führte eine Art Obergrenze ein und etablierte eine Kontigentierung des Individualrechts auf Asyl. Neue Herkunftsstaaten sollen als sicher definiert werden. An der Grenze soll schneller zurückgewiesen werden.

Das freie Europa war nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nie grimmiger, nie abweisender, nie abgeschotteter. Europa befestigt sich. Grenzzaun in Ceuta: 1993. Grenzzaun in Mellila: 1998. Am Evros in Griechenland: 2012. In Bulgarien: 2014. In Ungarn: 2015. Europa hat sich auf Lager in Nordafrika geeinigt, Italien und Malta kriminalisieren private Seenotretter, Frontex wird aufgestockt.

Trotzdem machen sich immer noch Zehntausende auf den Weg in die EU.

Aus nur zehn Ländern kommen nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR 82 Prozent der Flüchtlinge, die ihr Heimatland verlassen haben. Diese Länder heißen: Syrien, Afghanistan, Südsudan, Myanmar, Somalia, Sudan, Kongo, Zentralafrikanische Republik, Eritrea und Burundi. Kriegsgebiete. Bürgerkriegsgebiete. Zerfallene Staaten. Brutale Diktaturen. Völkermordähnliche Verfolgungspolitik.

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Sicher, es gibt auch Flüchtlinge, die nicht akut bedroht sind, die nicht vor Vernichtung fliehen, sondern aus Elend. Einige von ihnen blieben wohl in ihrem Land, wenn die Aussicht auf eine Flucht in reiche Staaten gering genug ist. Aber sie sind in der Minderheit. Für die meisten gilt: Europa kann sich keine Abschreckung einfallen lassen, die schrecklicher wäre als die Gegenwart oder auch nur die Flucht selbst.

Jeder, der Richtung Europa flieht, weiß, dass er dabei sterben kann. Weiß, dass Flüchtende in Agadez oft jahrelang Sklavenarbeit verrichten und überall auf den Fluchtrouten für Hungerlöhne schuften. Dass sie in libyschen Lagern gefoltert werden, dass Soldaten unterwegs mit brutaler Gewalt Geld stehlen. Dass auf dem Sinai islamistische Menschenjäger Geiseln nehmen. Dass nicht erst die Fahrt übers Mittelmeer in zu kleinen Schlauchbooten lebensgefährlich ist, sondern schon die Wanderung durch Wüsten und Berge zuvor.

Wie sollten sie überbürokratische Asylverfahren, Sammelunterkünfte abseits der Städte und Essenskisten abschrecken? Solche Maßnahmen machen Flüchtlingen das Leben schwerer, aber sie halten sie nicht davon ab, zu fliehen.

Eine Studie der Universität Oxford ergab, dass sich wohl nicht mehr Menschen aufs Mittelmeer wagen, wenn viele Retter unterwegs sind. Die Schlepper schicken dann zwar die Verzweifelten in noch untauglicheren Booten los. Das ist die Dialektik der Rettung. Aber wer nicht rettet, lässt ertrinken, vor allem die, die keine Wahl haben – wie in den vergangenen Wochen, die außergewöhnlich tödlich verliefen.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit führt eine sehr offene Politik gegenüber Geflüchteten dazu, dass noch ein paar mehr aufbrechen oder sich das besonders offene, liberale und inklusive Land als Ziel ausgucken – aber mit ebenso hoher Wahrscheinlichkeit hält keine Abschreckungspolitik der demokratischen Welt die Mehrheit der Flüchtlinge ab.

Einige der Gründe, die Europa so anziehend machen, bleiben ja bestehen: Die Aussicht auf körperliche Unversehrtheit. Auf grundlegende Freiheit. Auf ein Leben mit dem Nötigsten.

Solange Krieg herrscht, solange Diktatoren Menschen unterjochen, solange Minderheiten vergewaltigt und ermordet werden, solange werden Menschen fliehen. Und deutsche Politik kann daran wenig ändern.

Die Flüchtlinge gehen nicht weg.

3. Die Sonderstellung des Flüchtlings

Politik wird immer noch im Kern national gemacht. Innerhalb von Staaten. Innen muss man politische Differenzen austragen. Im besten Fall finden sich Lösungen, die für eine gewisse Zeit von der großen Mehrheit mitgetragen werden. Gelingt das nicht, schwelen Konflikte weiter. Sie bleiben sichtbar und spürbar.

Das Äußere dagegen bleibt außen, wenn man es wirklich will. Die Verantwortungskette zwischen deutscher Klimapolitik oder dem Konsum von T-Shirts im Discounter und dem Anstieg des Meeresspiegels oder einstürzenden Textilfabriken in Bangladesch ist lang. Die Medienlandschaft national. Wer das Außen ignorieren will, kann es.

Flüchtlinge haben eine Sonderstellung. Sie sind außen, aber sie bleiben nicht dort. Europa kann Lager und Kontrollen an der nordafrikanischen Mittelmeerküste errichten. Und weitere Lagern und Kontrollen tiefer in der Sahelzone, bis die Flüchtlinge aus den Augen sind. Aber damit nicht aus dem Sinn.

Jede Entscheidung zu ihren Lasten kommt zurück. In Form der Appelle derjenigen, die ihr Begehren nach innen brüllen. In Form von Erfahrungen und Klagen derjenigen, die es ins Land schaffen. In Form der Anträge auf Familienzusammenführung von Syrern, deren Partner noch in Damaskus sitzen. In Gestalt des toten Aylan Kurdi, dessen Leiche an der türkischen Küste angespült wurde.

Flüchtlinge drängen über die Landesgrenze und damit über die symbolische Grenze des politisch Inneren und des politisch Äußeren. Sie sagen: Nehmt uns auf! Sie sind Mitbürger in Erwartung. Wenn sie im Hoheitsgebiet der europäischen Küstenwachen ertrinken, ist die Verantwortung klar. Und wenn sie vorher in der Wüste verdursten auch.

Menschen fliehen, und die europäischen Gesellschaften können nicht so tun, als habe das mit ihnen nichts zu tun.

Europas Verantwortung geht also nicht weg.

Die dreifache Zumutung

Darin liegt die außerordentliche Komplexität und Zumutung des Themas, auch jenseits von Fremdenhass und Nationalismus: In der Ohnmacht, der Unmöglichkeit einer gerechten Lösung und dem permanenten Angesprochensein.

Aber so ist es eben.

Es hilft nichts, zu leugnen, und Lösungen zu fordern, die es nicht geben kann. Diese Suche muss aufhören, sonst werden alle verrückt. Das Mindeste, was von Politikern und der Öffentlichkeit zu erwarten wäre, ist, dass sie sich diese Lage bewusst machen – und sich damit ehrlich.

Flüchtlingen nicht zu helfen, wird immer ungerecht bleiben. Einigen zu helfen, bleibt ungerecht den anderen gegenüber. Niemandem zu helfen, bleibt allen gegenüber ungerecht. Allen zu helfen, ist wohl unmöglich. Schadlos und moralisch einwandfrei kann sich niemand halten. Aber Politik kann mehr oder weniger Leid verursachen. Flüchtlinge an den Grenzen abzuhalten, wird nicht dazu führen, dass sie nicht mehr fliehen. Flüchtlingen zu helfen, wird Schlepper dazu bringen, rücksichtsloser zu werden. Flüchtlinge aufzunehmen, wird herausfordernd sein für die Aufnahmegesellschaft.

All das lässt sich nicht auflösen. Es ist kompliziert. Das Eingeständnis ist in diesem Fall die Voraussetzung für zumindest beschränkte Handlungsfähigkeit. Radikale Ehrlichkeit befreit.

Daraus folgt noch keine konstruktive Migrationspolitik. Sie kann erst im zweiten Schritt entstehen und an ihrem Anfang steht eine simple Frage: Wie viel Wohlstand, Sicherheit und Gewohnheit sind Europas Gesellschaften bereit, aufzugeben, um zu helfen?

Es ist die eine Frage, von deren Antwort alles abhängt. Und vor der sich niemand drücken kann. Die Suche nach vermeintlichen Lösungen verschleiert das nur.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Zusammenfassung der Studie der Universität Oxford zur Seenotrettung
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