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Weltordnung nach der Corona-Krise: Der große Irrglaube


Weltordnung nach Corona
Der große Irrglaube

MeinungEin Essay von Patrick Diekmann

Aktualisiert am 21.05.2020Lesedauer: 7 Min.
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Die USA, China und Russland ringen um globalen Einfluss. Die Corona-Krise ändert daran wenig.Vergrößern des Bildes
Die USA, China und Russland ringen um globalen Einfluss. Die Corona-Krise ändert daran wenig. (Quelle: imago-images-bilder)

Der Corona-Sturm fegt über die Welt und bringt das internationale Kräftegleichgewicht ins Wanken. Einige politische Tanker werden durchgeschüttelt, drohen zu kentern. Aber stellt das Virus die Weltordnung auf den Kopf?

Seit Beginn der Corona-Krise geistert eine These durch Politik und Medien: Die Pandemie werde die Welt nachhaltig auf den Kopf stellen – von einer neuen Welt mit einer neuen Ordnung ist die Rede. Dieses Zukunftsbild teilen Krisenromantiker, Verschwörungstheoretiker und Untergangsphilosophen gleichermaßen. Hoffnungen und Ängste liegen nah beieinander. Die gegenwärtige Krise wird schon jetzt teilweise als Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte gesehen.

Das ist ein Irrglaube. So einfach ist es nicht. Fakt ist: Bislang gibt es keine politischen Kehrtwenden. Die Welt nimmt keineswegs Kurs auf eine neue Wirklichkeit. Aber: Die Krise hat etwas verändert. Sie beschleunigt Wandlungsprozesse, die in vielen Staaten schon vorher erkennbar waren.

Das Coronavirus ist ein Katalysator für den globalen Machtkampf, der seit dem Ende des Kalten Krieges langsam voranschreitet. Um das zu verstehen, muss man auf die globale Ordnung vor der Corona-Krise schauen. Erst dann wird klar, dass Großmächte wie die USA, China oder Russland die Pandemie für ihren eingeschlagenen Kurs instrumentalisieren.

Verpasste Chancen nach dem Kalten Krieg

Wenn Verschwörungstheoretiker von einer "neuen Weltordnung" nach der Corona-Krise schwadronieren, meinen sie damit vor allem eines: Macht einzelner Organisationen, Staaten oder Einzelpersonen. Aber die Idee einer Weltordnung meint keinen Machtkampf. Im Gegenteil: In einer "Weltordnung", per Definition, akzeptieren alle Nationen ein gemeinsames Rechtssystem, das den globalen Frieden sichern soll. Es geht bei diesem Machtausgleich nicht um den besten Deal für ein Land, sondern um Kompromisse.

Von diesem Ideal ist die Welt weit entfernt, das war sie auch schon vor der Corona-Pandemie. Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger konstatiert schon 2014: "Wir haben gegenwärtig keine Weltordnung." Der Befund ist richtig. Aber woran liegt das?

Ein solcher Interessensausgleich wäre nur in wenigen Momenten der jüngeren Geschichte möglich gewesen, letztmalig nach dem Kalten Krieg. Nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 waren die USA die letzte verbliebene Großmacht. Anstatt einen Ausgleich mit Russland zu suchen, war deren Politik darauf ausgelegt, einzige Großmacht zu bleiben. Die Nato breitete sich bis an die Grenzen Russlands aus. Die Nato-Osterweiterung empfand Russland gleichzeitig als Bedrohung und Demütigung.

Diesem Fehler verdankte der russische Präsident Wladimir Putin seinen politischen Erfolg. Er gab der russischen Bevölkerung ihr Selbstverständnis als Großmacht zurück. Russlands Politik wurde protektionistischer.

Im Ergebnis: Eine harte Niederlage für den Multilaterismus, die heute noch spürbar ist.

Die neue Rechte in Europa

Die Corona-Pandemie trifft also auf eine Welt im Ungleichgewicht. Ein handlungsunfähiger UN-Sicherheitsrat, Stellvertreterkriege in Syrien und Libyen, Wirtschaftskonflikte zwischen den USA, China und der Europäischen Union.

In Europa stellten die Finanzkrise 2007 und die Flüchtlingskrise 2015 die Gemeinschaft vor eine Zerreißprobe. Die Verlagerung von nationalen Kompetenzen auf die EU-Ebene geschah für viele Menschen zu schnell. Nationale Identitäten wurden noch nicht durch europäische abgelöst.

Das war das Fundament für das Aufkommen vieler rechter Parteien und Bewegungen in Europa. Die Folgen waren unter anderem der Brexit oder mangelnde Solidarität beim Thema Migration. Das Erstarken der neuen Rechten sorgte auch dafür, dass die EU bei der Gestaltung einer Weltordnung schwach bleibt, sich weiter zurückzieht.

Protektionismus in den USA

Als letzte verbliebene Weltmacht läge in der Corona-Krise eigentlich eine große Verantwortung bei den USA. Lange sahen sich die USA als Weltpolizei, aber die Präsidenten Barack Obama und Donald Trump zeigten wenig Interesse daran, den globalen Führungsanspruch anzunehmen.

Ein Grund dafür ist die kriegsmüde US-Bevölkerung. Kissinger schreibt dazu: "Ein Land, das bei der Suche nach einer Weltordnung eine unverzichtbare Rolle spielen muss, sollte sich zuerst einmal die Aufgabe stellen, mit dieser Rolle und mit sich selbst ins Reine zu kommen.“

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Doch die US-Gesellschaft hat sich in den letzten zehn Jahren gespalten, noch mehr als die Gesellschaften in Europa. Und genau hier liegt das Problem: Der Neoliberalismus sorgte in den Vereinigten Staaten für eine massive soziale Spaltung. Daraus resultierte die Wahl von Trump, dessen "America First"-Ideologie den neuen amerikanischen Protektionismus verursacht.

Ein weiterer Grund: Durch die massive Ausweitung der Ölförderung wurden die Vereinigten Staaten in den vergangenen zehn Jahren nahezu energieunabhängig, wodurch auch das Interesse am Nahen Osten geringer wurde.

Der dritte Grund: Trump erhofft sich von seiner Rolle als internationalem "Deal-Maker" vor allem Wählerstimmen. Deshalb hat er die USA zu einem Land gemacht, dass keine Ordnungsmacht mehr sein will.

Die USA unter Trump ziehen sich aus internationalen Verantwortlichkeiten zurück, sei es aus Kriegen (Syrien, Afghanistan) oder aus dem Pariser Klimaabkommen. Der Blick der aktuellen US-Regierung richtet sich nach innen, die Politik soll der US-Wirtschaft nutzen. Diesen Weg setzen die USA in der Corona-Krise fort – zuletzt durch die Drohung des Austritts aus der WHO.

Der Aufstieg Chinas

Den krassen Gegensatz bildet China: Das Land will die führende Weltmacht werden. Peking hat sich das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2049 die USA als führende Volkswirtschaft abzulösen. Dann wird die Volksrepublik 100 Jahre alt und die Kommunistische Partei möchte Vollzug melden. Die Planwirtschaft rückt in den Hintergrund. Die Kommunisten sehen den Schlüssel zur führenden Supermacht in einer kapitalistischen Wirtschaft.

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Die Doppelstrategie: Eine starke Wirtschaft soll das Land in einer globalisierten Welt unangreifbar machen. Die Volksrepublik lässt deshalb ausländische Unternehmen und Rohstoffvorkommen kaufen, sie vergibt Kredite an Staaten oder unterstützt Länder in Afrika. Mit der neuen Seidenstraße schafft China wirtschaftliche Abhängigkeiten und sorgt dafür, dass kein Land laut Kritik an der chinesischen Diktatur äußert, um die wirtschaftlichen Beziehungen nicht zu gefährden.

Andererseits organisiert die politische Elite die Modernisierung der Armee und agiert im Südchinesischen Meer zunehmend als führende Territorialmacht.

Auch wenn China militärisch und wirtschaftlich noch einen großen Abstand zu den USA hat, geht Peking den Weg zur führenden Supermacht auch in der Corona-Krise weiter.

Wie agieren die USA, Europa und China in der Pandemie?

Diese Entwicklungen schritten teilweise die vergangenen drei Jahrzehnte voran. In der Corona-Krise setzen sich in vielen Ländern die Entwicklungen der letzten Jahre fort, in manchen wurden sie sogar beschleunigt.

Ein Überblick:

  • US-Präsident Trump stellte die Beitragszahlungen an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein, weil sie zu spät auf die Pandemie reagiert habe. Dabei war es Trump, der das Virus zunächst maßlos unterschätzte und spät Maßnahmen einleitete. Aber es ist Wahlkampf und Trump versucht die Krise zu instrumentalisieren. Der US-Präsident hat die Sorge, dass sich die miserablen US-Arbeitsmarktzahlen auf die Wahl im November auswirken. Deswegen verkauft er die Pandemie als eine Art Angriff aus dem Ausland.
  • Die Volksrepublik China versucht, ihre Weltmachtstellung zu festigen. Die chinesische Propaganda-Maschine vermittelt, dass China den Virus besiegt habe (obwohl es weiter Neuinfektionen gibt): "Wir haben das Virus besiegt. Wir sind stark. Lernt von uns." China sendet Hilfsgüter und medizinisches Gerät in besonders betroffene Länder, nach Italien oder Spanien. All das, was China geopolitisch in der Corona-Krise unternimmt, stößt in das Machtvakuum, dass die USA hinterlassen haben.

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  • Auch Russland schickt Ärzte und medizinisches Personal beispielsweise nach Italien – ein Instrument, um den russischen Einfluss zu mehren. Putin versucht, die Sanktionen loszuwerden und ein Stück weit zurück in die internationale Gemeinschaft zu kommen. Trotzdem wird Moskau weiterhin seine Interessen in Libyen, Syrien oder in der Ukraine gewaltsam durchsetzen, um seine selbstabgesteckte Einflusssphäre zu verteidigen.
  • Die Europäische Union war zu Anfang der Krise unsichtbar. Es war die Zeit der nationalen Alleingänge, die EU stand im Abseits, wie so oft. Auch sonst bleibt im bisherigen Verlauf der Krise vieles beim Alten: Italien und Spanien setzen sich für Eurobonds ein. Deutschland ist dagegen. Victor Orban schränkt die Demokratie in Ungarn ein. Polen beschließt im Schatten der Krise ein umstrittenes Abtreibungsgesetz. Und Griechenland wird mit den Flüchtlingen auf Lesbos weitestgehend alleine gelassen. Doch immerhin: Bei der Behandlung von Corona-Patienten unterstützen die EU-Länder sich gegenseitig. Ein kleiner Funke der europäischen Solidarität inmitten der Krise. Und Angela Merkel versucht mit Emmanuel Macron den alten deutsch-französischen Motor wieder anzuwerfen – mit 500 Milliarden Euro für kriselnde EU-Staaten.

Die Weltordnung nach der Corona-Pandemie

Bislang hat sich wenig Grundsätzliches verändert. Doch die Corona-Krise wird die Welt verändern, selbst wenn die Revolution ausbleibt. Die Pandemie wird eine Wirtschaftskrise mit sich bringen, deren Auswirkungen für viele Staaten noch lange spürbar sein werden.

Bislang ist die Krise vor allem eine Chance für China, seine Macht auszubauen. China setzt dabei primär auf wirtschaftliche Verflechtungen, um durch Abhängigkeiten Einfluss auf andere Wirtschaftssysteme zu gewinnen. Das Land, von dem die Pandemie ausging, könnte am Ende von ihr profitieren.

In einer aktuellen Umfrage sind die Deutschen gespalten in der Frage, wer für Deutschland der wichtigere Partner ist – China oder die USA? Vor einigen Jahren war so ein Ergebnis undenkbar.

Der Weg zur Weltmacht fängt in den Köpfen an. Und China ist auch hier auf dem Weg, die USA in der Wahrnehmung der Menschen zu überholen.

Für die Europäische Union ist die Pandemie eine Chance, um Akzeptanz für einen dringend benötigten Kurswechsel zu finden: Wenn Europa eine Weltordnung mit gestalten will, muss es seine Rolle in eben dieser Ordnung wahrnehmen. Die EU-Staaten müssen mit einer Stimme sprechen, um ein Gegengewicht zu den Großmächten sein zu können.

Zudem besteht unsere einzige Chance, Einfluss auf das Weltgeschehen zu nehmen, in der Rolle des Diplomaten. Die EU kann nur als Brückenbauer zwischen den Großmächten fungieren und hätte damit einen festen und relevanten Platz in einer neuen Weltordnung.

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Die USA werden wirtschaftlich und militärisch auf absehbare Zeit die führende Weltmacht bleiben. Obwohl die US-Regierung sich aus internationalen Verantwortlichkeiten löst. Nur das Machtvakuum wird immer größer, und damit der Raum für China. Weil es das einzige Land ist, das volkswirtschaftlich in der Lage und offenbar auch gewillt ist, diesen Platz einzunehmen.

Genau dieser Prozess verändert die Weltordnung, ganz langsam, nur in der Corona-Krise etwas schneller. Letztlich ist die Virus-Krise der schlimmste Sturm seit 75 Jahren. Aber trotz hoher Wellen und beträchtlicher Schäden ist die Welt noch auf Kurs. Und den muss man nicht gut finden.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • World Order (Henry Kissinger)
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