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"Zeitenwende": Ist Deutschland gegen Russland gewappnet? Experte zweifelt


Früherer BND-Agent
"Putin ist offensichtlich nahezu zum Äußersten bereit"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 26.02.2023Lesedauer: 10 Min.
Interview
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Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

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Wladimir Putin und Dimitri Medwedew (Archivbild): Deutschland hätte sich besser gegen die russische Aggression wappnen können, sagt EX-BND-Agent Gerhard Conrad.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin und Dimitri Medwedew (Archivbild): Deutschland hätte sich besser gegen die russische Aggression wappnen können, sagt Ex-BND-Agent Gerhard Conrad. (Quelle: Sputnik/Alexey Nikolsky/Reuters)

Eine "Zeitenwende" soll Deutschland wappnen gegen die russische Bedrohung. Sind wir aber in der Lage, binnen kurzer Zeit das aufzuholen, was in Jahrzehnten verschleppt worden ist? Ex-BND-Agent Gerhard Conrad äußert Zweifel.

Am 24. Februar 2022 war Schluss mit den Illusionen, Russlands Truppen überfielen die Ukraine. Deutschland war überrascht, ziemlich unvorbereitet und abhängig vom russischen Gas. Das hätte aber nicht so sein müssen, denn Wladimir Putins aggressive Politik gab schon seit langer Zeit Grund zur Beunruhigung.

Eine "Zeitenwende" verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz schließlich als Reaktion. Diese verläuft allerdings eher zäh, statt in der angemessenen Eile. Aber warum? Weil es sich Deutschland zu "bequem" gemacht habe, sagt Gerhard Conrad, ehemaliger Agent des Bundesnachrichtendienstes. Und viel zu langsam Abschied von alten Irrtümern nehme.

t-online: Herr Conrad, Russland gebärdet sich seit langer Zeit aggressiv, aber erst vor einem Jahr rief Bundeskanzler Olaf Scholz die sogenannte Zeitenwende aus. Hätte sie nicht viel früher kommen müssen?

Gerhard Conrad: Ja, und zwar in Form einer schrittweisen Adjustierung außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitischer Entscheidungen an die sich verändernde Sicherheitslage. Im Ergebnis reagierte Deutschland viel zu spät – aus nachrichtendienstlicher Perspektive bestand bereits seit rund zehn Jahren ziemliche Sicherheit, dass wir uns vor Russland in Acht nehmen müssen. Ich erinnere mich an Gespräche mit britischen Kollegen im Jahr 2013, in denen diese von unserer Seite deutlich darauf aufmerksam gemacht wurden, dass wir es im Falle von Wladimir Putin mit einem Mann zu tun haben, der in geopolitischen Maßstäben denkt und handelt. Wie richtig der Bundesnachrichtendienst hier lag, wissen wir nun.

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Stellt sich die Frage, warum nicht die entsprechenden Schlüsse seitens der deutschen Politik gezogen wurden.

Man muss es halt wollen. Ebenso wie Sie als Privatperson gut beraten sind, eine Krankenversicherung für den Notfall abzuschließen, sollte auch die Politik Vorsorge betreiben. Eigentlich müssen auf politischer Ebene in einem fortwährenden Prozess "Was-wäre-wenn"-Szenarien durchgespielt werden – auf der Grundlage nachrichtendienstlicher Erkenntnisse und Prognosen ebenso wie auf Experteneinschätzungen. Darauf basierend lassen sich dann strategische Entscheidungen treffen und umsetzen.

Nun sind die deutschen Privathaushalte mit Versicherungen gut versorgt, außen- und sicherheitspolitisch herrschte hingegen in der Politik seit mehr als 20 Jahren ein erstaunlicher Optimismus vor, was Wladimir Putins Willen zum Frieden betrifft.

Spätestens mit dem Krieg gegen Georgien 2008, der Annexion der ukrainischen Krim und der Übergriffe auf den Donbass 2014 hat Putin bewiesen, was für eine Art Politiker er ist. Der Gedanke, dass man sich hier entsprechend absichern sollte, ist in Deutschland hingegen in der politischen Güterabwägung offensichtlich unterdrückt worden.

Gerhard Conrad, Jahrgang 1954, war drei Jahrzehnte für den Bundesnachrichtendienst (BND) tätig. Der promovierte Islamwissenschaftler verhandelte bei Geiselbefreiungen im Nahen Osten, von 2016 bis 2019 war er Direktor des EU Intelligence Analysis Centre in Brüssel. Seit seiner Pensionierung 2019 ist Conrad unter anderem Visiting Professor am King’s College London, unterstützt als Intelligence Advisor die Münchner Sicherheitskonferenz und ist Vorstandsmitglied des Gesprächskreises Nachrichtendienste in Deutschland e.V. (GKND). 2022 erschien sein Buch "Keine Lizenz zum Töten. 30 Jahre als BND-Mann und Geheimdiplomat".

Das klingt nach Leichtsinn.

Die Politik handelte letztlich fahrlässig, insbesondere nach 2014. Diesen Vorwurf müssen sich die Parteien wie ihre Entscheiderinnen und Entscheider gefallen lassen. Irgendwie würde es mit Russland schon gut gehen, wenn man es nur ausreichend wirtschaftlich einbinde. Dabei wurde gerade im Energiebereich nicht darauf geachtet, wer hier wen in seine Interessen integrierte und in Abhängigkeiten brachte. Ganz offensichtlich herrschte hier das Prinzip Hoffnung vor. Davon profitierte Putin enorm und dürfte mit den Erfolgen seiner Politik sehr zufrieden gewesen sein.

Zwischen Russland und der Ukraine bahnte sich ein gewaltiger geopolitischer Konflikt an – und Berlin traf so gut wie keine Vorsorge für den Ernstfall. Anfang 2022 hatte die frühere Verteidigungsministerin Christine Lambrecht ihre liebe Not, 5.000 Helme für die ukrainische Armee zusammenzukratzen. Wie kann das sein?

Deutschland und zahlreiche Mitgliedsstaaten der Europäischen Union dachten nach 1990 nicht mehr in geopolitischen Maßstäben und auch nicht in den Kategorien von Bündnis- und Landesverteidigung. Das ist Fluch und Segen zugleich: Die EU lebt einerseits geradezu davon, dass ihre Staaten untereinander geopolitisches Denken aufgegeben haben. Das darf jedoch nicht auf die Perspektive außerhalb der EU übertragen werden, wo andere Maßstäbe und Ambitionen herrschen.

Deutschland abhängig vom russischen Erdgas, die Bundeswehr kaum einsatzfähig: Die Bundesrepublik hatte sich nahezu selbst schachmatt gesetzt.

Zwischen Staaten geht es bisweilen zu wie zwischen Menschen auf der Straße: Wenn Sie jemandem begegnen, gehen Sie davon aus, dass er so denkt und handelt wie Sie selbst. Deutschland etwa betrachtet sich als Staat, der anderen nicht mit Gewalt seinen Willen aufzwingt, Konflikte friedlich beilegt und Verträge einhält. Nur ist leider nicht jeder so. Bereits nach der Krim-Annexion 2014 wurde die Frage laut, warum wir Russland so falsch verstanden haben. Landes- und Bündnisverteidigung wurden im Weißbuch 2016 als Priorität definiert; EU und Nato wiesen ihrerseits auf die sich verschärfende Gefährdungslage hin.

Der Begriff des "Hybrid Warfare", also der "hybriden Kriegsführung", fand als spezifische Ausprägung russischer Machtpolitik Eingang in die Strategiepapiere von EU und Nato. Auf dem Nato-Gipfel von Wales wurde 2014 erneut von allen Regierungen das, was bereits 2009 als Richtwert für Verteidigungsausgaben definiert worden war, noch einmal bekräftigt.

Also das berühmt-berüchtigte Zwei-Prozent-Ziel des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben aller Nato-Staaten.

Genau. Umgesetzt worden ist es bekanntlich bis heute nicht. Leider brauchte es dann noch den russischen Überfall vom Februar 2022, um jedem verständlich zu machen, dass Russland unter Putin in territorialen Einflusssphären denkt und seine geopolitischen Ziele auch mit Gewalt durchzusetzen trachtet.

Gleichwohl bleibt unverständlich, warum die Bundesregierung unter Angela Merkel keinen Strategieschwenk in Sachen Russland unternommen hat. Experten und Nachrichtendienste haben frühzeitig gewarnt, wie Sie betonen.

Verzeihen Sie, aber ich möchte noch mal den Vergleich zur Alltagswelt ziehen. Wenn Ihnen Ihr Arzt eine unangenehme Diagnose stellt, beginnt binnen kürzester Zeit ein Prozess der Relativierung: Es wird bestimmt nicht wirklich so schlimm sein, irgendwie wird es schon gut gehen. Langfristiges strategisches Denken und insbesondere Handeln ist eher unbequem und erfordert viel Geduld und Absprache und ist dazu noch teuer, man muss sie in der Regel auch gegen Widerstände durchsetzen. Jeder möchte die Friedensdividende kassieren, nicht aber die Prämien für die Risikoversicherung zahlen.

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Ein Nachrichtendienst wie der BND kann sich eine solche Haltung im Gegensatz zur Politik nicht erlauben.

Für einen Nachrichtendienst ist die Gegenwart der Ernst- und Einsatzfall. Denn Dienste müssen heute die Informationen beschaffen, die indizieren, was Russland – oder andere problematische internationale Akteure – morgen tun werden.

Was wird Putin denn voraussichtlich als Nächstes unternehmen?

Sich auf Verhandlungen in der aktuellen militärischen Lage einzulassen, bedeutete für Putin aufgeben, solange für ihn nicht ein Ergebnis erreichbar ist, das er als "Sieg" präsentieren kann. Nein, er möchte im Idealfall vollendete Tatsachen schaffen – und dann einen Frieden diktieren. Die russischen Truppen sollen dies nach Möglichkeit erzwingen, entweder in einer massiven Offensive in diesem Jahr oder in einem langfristig angelegten Abnutzungskrieg, mit dem die Widerstandskraft des Gegners, einschließlich seiner westlichen Verbündeten, erodiert werden soll.

Großbritanniens Premier Winston Churchill hat Russland einmal als ein "Rätsel, umgeben von einem Mysterium, das in einem Geheimnis steckt" bezeichnet. Was wissen wir überhaupt über Putins engeren Führungskreis? Von der Wegnahme der Krim war der russische Außenminister Sergei Lawrow 2014 im Prinzip genauso überrascht wie der Westen.

Es ist in vielen Diktaturen gar nicht so unüblich, dass der Außenminister eher zur Abteilung Public Relations und nicht zum innersten Machtzirkel gehört. Das gilt häufig auch für den Verteidigungsminister, der hinter dem Generalstabschef zurücktritt. Nein, der innere Zirkel der Macht ist anders konstituiert, wobei es eher selten ist, dass dem Herrscher eine unbegrenzte Machtfülle zukommt: "Was du bist, bist du nur durch Verträge: bedungen ist, wohl bedacht deine Macht", heißt es so schön …

… im Opernzyklus "Ring der Nibelungen" von Richard Wagner.

Genau. Worauf ich hinaus will: Putin hat ein feines Netz an Abhängigkeiten und gegenseitigen Rivalitäten in seinem Umfeld gesponnen, das ihm seinen Machterhalt gewährleisten soll. Wir wissen allerdings nur ausschnittsweise darüber Bescheid, wer wie darin eingebunden ist. Viele Beziehungen reichen bis in Putins Zeit in Sankt Petersburg zurück, damals hat er erste kleinere und größere Schandtaten begangen und Verbündete gewonnen. Diktatoren wie Putin haben allerdings ein großes Problem: Ihr Machtapparat ist keineswegs statisch, sondern einer Dynamik unterworfen. Gefolgsleute wollen honoriert werden; Putin muss ihre Bedürfnisse und Ambitionen angemessen befriedigen. Auf der anderen Seite muss er sie dazu bewegen, seinen Willen umzusetzen. Auf ihm – wie auf vergleichbaren Potentaten – lastet entsprechend großer Druck. "Schwer ruht das Haupt, das eine Krone drückt", sagte schon Shakespeare.

Mit dem Angriff auf die Ukraine hat er sich allerdings auch selbst mächtig unter Druck gesetzt.

Eine eklatante Niederlage würde Putin niemand verzeihen, ja. Aber in Russland herrscht in gewisser Weise offenbar eine ähnliche Mentalität wie in Deutschland: Es wird schon irgendwie gut gehen. Um eine eklatante Niederlage zu vermeiden und ein Ergebnis zu erzielen, das als Sieg präsentiert werden kann, ist Putin offensichtlich nahezu zum Äußersten bereit. Die Sowjetunion hat den Kalten Krieg verloren, das hätte sie aber in Putins Sicht niemals dürfen. Das umzukehren, darin besteht das große Ziel Putins und seines Umfelds.

Wenn Russland aber selbst unter größten Verlusten nicht von der Ukraine ablassen wird: Wann wird der Krieg enden?

Deutschland sollte sich auch weiterhin auf erhebliche Herausforderungen und Eskalationspotentiale einstellen. Russland hat die größere Leidensfähigkeit, es kann weit größere Ressourcen für den Krieg bereitstellen als der Westen. Sowohl politisch auch wirtschaftlich, wenngleich unter gravierenden eigenen Opfern. Hierzulande haben wir vergessen, was Krieg eigentlich bedeutet. In Russland sieht das anders aus.

Im Westen ist die Bereitschaft für einen bewaffneten Konflikt jedenfalls sicher geringer als in Russland.

Absolut. Russland droht nicht ohne Grund immer wieder mit seiner Atommacht, in Moskau weiß man sehr wohl um die Furcht im Westen, gerade auch in Deutschland. Und wird sie optimal zu nutzen versuchen.

Wäre ein Atomwaffeneinsatz seitens Russlands überhaupt vorstellbar?

Putin ist alles andere als dumm. Mit einem Nukleareinsatz würde er eine völlig andere militärische und politische Realität in der Ukraine wie international schaffen, die sich gegen ihn richten würde. Die USA haben hier erklärtermaßen an einem Abschreckungskonzept gearbeitet und dieses auch hinter den Kulissen entsprechend kommuniziert. Putin setzt gezielte Nadelstiche gegen den Westen und beobachtet dann die Reaktionen. Nuklear wird Putin uns eher nicht herausfordern, es sei denn in Extremsituationen, in denen sein eigenes Überleben akut bedroht wäre. Bekanntlich ist in solchen Konstellationen alles möglich.

Gleichwohl bleibt Russland bedrohlich. Wie lässt es sich erklären, dass die "Zeitenwende" in Deutschland trotzdem eher verhalten anläuft?

Deutschland hat sich bequem in der Weltgeschichte eingerichtet. Das war so lange möglich, wie man die Augen fest schließen konnte vor den globalen sicherheitspolitischen Herausforderungen und den Risiken des Putin'schen Revisionismus. Spätestens nach dem Ende des Kalten Krieges ist über die Jahrzehnte das Bewusstsein dafür verloren gegangen, dass Freiheit nicht nur individuelle Selbstverwirklichung in der besten aller denkbaren Welten ist, sondern dass man Freiheit, Wohlstand und Zukunftsfähigkeit als elementare Werte gegen innere und äußere Feinde wirksam verteidigen können muss. Und das kostet eben.

Sicherlich mehr als die 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die abgewirtschaftete Bundeswehr.

Sogar viel mehr. Viele ahnen nicht mal, wie teuer es werden wird.

2014 hat Russland die Krim annektiert, die Folge waren ein paar eher harmlose Sanktionen. Wenn die russische Armee nun im Februar 2022 Kiew im Handstreich genommen hätte: Wäre die Reaktion des Westens wieder derart harmlos gewesen?

Ich fürchte, ja. Deutschland muss den Ukrainerinnen und Ukrainern im Prinzip dankbar sein: Wenn sie sich nicht so bewundernswert gegen die russischen Invasoren wehren würden, dann hätte Putin kurzen Prozess gemacht. Was wäre nach einem erfolgreichen Ende der "militärischen Sonderoperation" geschehen? Putin wäre wieder überaus nett zu uns gewesen, hätte weiterhin vertragstreu Gas geliefert, am besten auch über Nord Stream 2, während er seine Eroberungen in der Ukraine gesichert hätte. Ein paar Jahre später hätte der Westen es dann wieder mit ihm oder einem gleichgesinnten Nachfolger zu tun bekommen.

Und zwar zusätzlich direkt an der Grenze zu den Nato-Staaten Polen, Rumänien, Slowakei und Ungarn.

Genau. Ein siegreiches Russland unter Putin wäre noch stärker geworden, die Lage noch bedrohlicher, wenngleich selbst ein solcher Sieg angesichts des verbreiteten Widerstands im Land wohl über Jahre hinweg schwierig zu konsolidieren gewesen wäre. Nun ist jedoch ein Großteil der russischen Ressourcen in der Ukraine gebunden, mit sehr ungewissem Ausgang.

Nutzt Deutschland aber nun die Zeit, um sich effektiv für einen möglichen Ernstfall zu rüsten? Die Bundeswehr ist nach wie vor blank, wie der Inspekteur des Heeres kürzlich beklagte.

Allen sollte klar sein, dass langjährige Versäumnisse auch bei energischen Bemühungen und hohem Mitteleinsatz nur mittel- bis langfristig wettgemacht werden können. Über die ausgeschiedene Verteidigungsministerin Christine Lambrecht kann man im Übrigen sagen, was man will, aber im September 2022 hat sie eine bemerkenswerte Rede gehalten und darin folgende Aussage getroffen, die sich alle hinter die Ohren schreiben sollten: "Die eigentliche Zeitenwende findet nämlich nicht zuallererst im Portemonnaie statt, sondern im Kopf. Und wir alle wissen, dass dort die Veränderung am schwierigsten hinzubekommen ist. Umdenken tut weh. Überzeugungen zu überdenken, politische Kultur zu verändern, neues Verhalten anzunehmen – das ist die wahre Herausforderung unserer Zeit." In manchen "Köpfen" ist diese "Herausforderung" noch nicht angekommen.

Zählt dazu Rolf Mützenich, der SPD-Fraktionschef im Bundestag? Die streitbare FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat ihn erst kürzlich als "Sinnbild aller zentralen Verfehlungen deutscher Außenpolitik" bezeichnet.

Viele verschließen immer noch die Augen vor der Realität. Russland führt einen imperialistischen Angriffs- und Vernichtungskrieg. Diesem kann und muss zunächst so lange militärisch wirksam Einhalt geboten werden, bis aus der Einsicht in die eigenen Grenzen Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft erwachsen. Derzeit strebt Russland unter Putin einen "Siegfrieden" an, bei dem Verhandlungen im Wesentlichen nur zur Regelung der Kapitulation des Gegners dienen. Dies sind etablierte Erkenntnisse in der Konfliktforschung, denen sich all jene, die voraussetzungslose Verhandlungen fordern, intellektuell nicht verschließen sollten.

Also formt nach Karl Marx auch in diesem Fall das Sein das Bewusstsein: Deutschland wähnt sich immer noch in trügerischer Sicherheit.

Zumindest teilweise. In manchen Milieus würde sich das wohl erst ändern, wenn Putins Panzer an der Grenze stehen – im schlimmsten Fall. "Zeitenwende" bedeutet genau genommen, dass man machtpolitische Realitäten in der Welt zur Kenntnis nimmt. Darauf aufbauend lassen sich Strategien für den Umgang mit Bedrohungen entwickeln und umsetzen. Im Idealfall unter angemessener Einbeziehung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse und Analysen.

Eine letzte Frage: Sehen Sie mögliche Kandidaten für eine Nachfolge Wladimir Putins?

In diktatorischen Strukturen gibt es keine valide Nachfolgeregelung. Das Machtsystem beruht auf dem Prinzip "Teile und herrsche". Niemand weiß so, wer Putin beerben wird, zumal dies entscheidend vom Zeitpunkt und von den Umständen des Nachfolgefalls anhängen würde. Es wäre für einen Ambitionierten auch ziemlich selbstmörderisch, sich erkennbar zu exponieren. Gier und Todesangst halten Putins Regime aufrecht, das ist ein ziemlich brutales Geschäft.

Herr Conrad, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Gerhard Conrad via Videokonferenz
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