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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Militärexperte Reisner "Die Russen sickern da wie Wasser durch"
Die ukrainische Front im Osten wankt, Russland könnte ein großer Erfolg gelingen. Wird der Kreml zur direkten Bedrohung für die Nato? Oberst Markus Reisner analysiert die Lage.
Die Lage in der Ukraine ist dramatisch, bald könnte es noch schlimmer werden. Denn es droht ein Durchbruch der Kremltruppen im Donbass. Verschärft wird die Situation durch Donald Trumps nahende Amtsübernahme in den USA. Denn es ist unklar, was der zukünftige US-Präsident für die Ukraine und Russland plant. Markus Reisner ist einer der profiliertesten Analysten des Konflikts. Im Gespräch erklärt der Oberst des österreichischen Bundesheeres, wie ernst die Situation an der Front ist und wie stark Russland Europa und die Nato bedroht.
t-online: Herr Reisner, wie ernst ist die Lage in der Ukraine?
Markus Reisner: Die Lage ist überaus ernst, die Situation im Donbass sogar katastrophal. Die Ukraine hat viel zu wenige Soldaten, ihre Einheiten sind stark unterbesetzt. Es gibt Brigaden, die bis zu 5.000 Mann umfassen sollten, sie kommen mittlerweile aber höchstens auf 50 Prozent Personalstärke. Derzeitige russische Erfolge sind vor allem auf dieses Problem zurückzuführen. Die Lücken in den ukrainischen Linien sind groß, die Russen sickern dazwischen wie Wasser durch. Nach mehr als 1.000 Tagen seit Beginn der russischen Vollinvasion sind die Verteidiger zermürbt und ausgedünnt vom russischen Dauerbeschuss.
Die noch amtierende US-Regierung von Joe Biden empfiehlt der Ukraine dringend die Herabsetzung des Mindestalters für Wehrpflichtige auf 18 Jahre.
Das ist eine Überlegung – und demonstriert den Ernst der Lage, beziehungsweise die angesprochene Problematik. Wir bekommen immer wieder Videos von ukrainischen Erfolgen zu sehen – wie Drohnenangriffen –, aber wir sollten uns nicht täuschen lassen. Die Russen sind auf dem Vormarsch. Die Ukraine müsste sie aufhalten.
Die Stadt Pokrowsk ist besonders umkämpft. Was passiert, wenn die Russen dort siegreich sind?
Bei Pokrowsk verläuft die dritte von insgesamt drei ukrainischen Verteidigungslinien. So weit sind die Russen schon vorgedrungen. Der Befestigungsgrad der ukrainischen Verteidigungslinien nimmt nach hinten immer weiter ab. Wenn die Russen nun bei Pokrowsk durchbrechen, dann kann sie wenig aufhalten. Sie wären imstande, binnen kurzer Zeit rund 150 Kilometer weit nach Westen bis zum Dnipro vorzurücken.
Zur Person
Oberst Markus Reisner, Jahrgang 1978, ist Militärhistoriker und Leiter des Instituts für Offiziersausbildung des österreichischen Bundesheeres an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 analysiert Reisner den Kriegsverlauf auf dem YouTube-Kanal "Österreichs Bundesheer".
Im Weißen Haus steht derweil ein Machtwechsel an. Was könnte Trumps Rückkehr für die Ukraine bedeuten?
Politische und militärische Analysten versuchen, gemäß unseren Denkschemata, rational zu denken und zu handeln und so lauten daher ihre Bewertungen. Damit begehen wir in Bezug auf Donald Trump bereits den ersten Fehler, fürchte ich. Trump denkt anders, wir müssen auf Handlungen gefasst sein, die wir als irrational bewerten.
Trump hat Ex-General Keith Kellog als Sonderbeauftragen für Russland und die Ukraine designiert. Kellogs Plan sieht wohl vor, beide Staaten zum Einfrieren des derzeitigen Frontverlaufs zu bringen, der Ukraine würde die Nato-Mitgliedschaft für die nähere Zukunft versagt. Was ist davon zu halten?
Es wäre eine kurzfristige Lösung für ein langfristiges Problem. Russland hält sich nicht an Verträge, das hat die ständige Verletzung völkerrechtlicher Abkommen durch Wladimir Putin hinlänglich bewiesen. Trump steht vor gewaltigen Problemen: Einerseits hat er die Beendigung des Krieges in der Ukraine binnen 24 Stunden versprochen. Faktisch und aus militärischer Sicht ist das unmöglich, trotzdem steht er im Wort. Andererseits wird Trump – sofern er rationalen Erwägungen gegenüber offen ist – nichts tun, was dem Ansehen der Vereinigten Staaten global schaden würde.
Was ein von Trump vermittelter Waffenstillstand in der Ukraine wäre, den Russland fortlaufend verletzt?
Genau. Bis zum Äußersten werden die USA aber nicht gehen für die Ukraine, das weiß auch Putin sehr gut. Die Amerikaner haben Trump gewählt, damit er die Inflation bekämpft und die Preise senkt. Generell warne ich davor, unsere rationalen Denkmuster auf Trump anzuwenden. Damit werden wir nicht weit kommen. Die Aufmerksamkeit des US-Präsidenten und seiner Administration, bestehend aus wenig erfahrenen und kaum gut abgestimmten Leuten, wird zudem nicht allein auf Russland und die Ukraine gerichtet sein. China interessiert Trump viel mehr.
Falls Trump aber tatsächlich einen eher isolationistischen Kurs einschlagen sollte. Was wären die Konsequenzen?
Dann haben wir ein ziemlich großes Problem. Ohne die Amerikaner geht es nicht. Falls sie sich von bestimmten Positionen zurückziehen, entsteht ein Vakuum. Es gibt aber auf Dauer kein Vakuum in der Geopolitik. Wo die USA rausgehen, werden andere reingehen.
Die Europäer sind derzeit kaum in der Lage, solche möglichen "Leerstellen" zu besetzen.
Sie sind weit davon entfernt. Europa hat keine Strategien: weder für den Fall, dass die USA ihr Engagement reduzieren, noch für einen nachhaltigen Umgang mit Russland. Von einer Eindämmung der russischen Großmachtsambitionen ganz zu schweigen. Falls die USA der Ukraine den Rücken kehren, braucht Europa aber eine Strategie – sonst hört der russische Spuk niemals auf. Das kann ziemlich böse enden. Und wir befinden uns erst am Anfang der Auseinandersetzungen, die uns noch drohen könnten.
Worauf spielen Sie an?
Der Krieg gegen die Ukraine ist mittlerweile zu einem Konflikt eskaliert, der in weit größerem Rahmen betrachtet werden muss. Russland kann diesen Konflikt aufgrund seiner technologischen und ökonomischen Probleme schon lange nicht mehr allein führen, geschweige denn gewinnen. Es erhält massive Unterstützung von Staaten des Globalen Südens: Iran liefert zum Beispiel Drohnen, Nordkorea erst Artilleriemunition und nun Soldaten, auch wenn diese militärisch bislang unerheblich sind. Indien kauft derweil russisches Öl im großen Maßstab. Das ist es doch, was wir nun beobachten: eine Auseinandersetzung zwischen dem Globalen Norden, dessen Mitglieder historisch gesehen lange Zeit auf den besten Plätzen des politischen und wirtschaftlichen Gabentisches saßen, und dem Globalen Süden, der nun sein Recht einfordert. Wir müssen nun hoffen, dass der Konflikt nicht völlig außer Kontrolle gerät.
Eigentlich braucht es die USA also derzeit mehr denn je?
Ja. Allerdings geht ihnen die Luft aus. Die Führungsnation des Globalen Nordens macht gerade einen Wandel durch, viele Trump-Wähler wollen nicht mehr, dass ihr Land weiter "Weltpolizist" ist.
Nun hat Europa reichlich Zeit verstreichen lassen, um sich auf diesen Ernstfall vorzubereiten.
Wir sind doch ziemlich naiv. Warum? Weil wir nicht verstanden haben, dass wir uns faktisch bereits im Krieg befinden. Nicht im Sinne eines konventionellen Krieges, sondern in einem Krieg, der im Informationsraum stattfindet. Innerhalb der Informationsdomäne besteht einer der größten Erfolge für den Angreifer darin, dass der Angegriffene die Attacke gar nicht mehr als solche wahrnimmt. Wenn wir uns die Ergebnisse der demokratischen Prozesse in Europa in Form von starken Wählerzuwächsen prorussischer Parteien und Politiker anschauen, dann ist zu konstatieren, dass Russland zusätzlich zu seinen Geländegewinnen in der Ukraine auch an dieser Stelle Erfolge erzielt hat.
Die permanente Drohung mit den russischen Atomwaffen hat dazu beigetragen, Menschen im Westen einzuschüchtern.
Dieses Spiel treiben die Russen seit Beginn der Vollinvasion. Einerseits drohen sie uns, andererseits haben sie die Amerikaner vor dem Abschuss der neuen Hyperschall-Mittelstreckenrakete auf die Ukraine vorgewarnt. Es ist ein Spiel mit hohem Risiko, es lässt sich mit Schach vergleichen. Jeder Zug muss abgesichert sein, sonst droht die Niederlage. Beide Seiten wissen, dass es gewisse unsichtbare Linien gibt, deren Überschreitung zur Eskalation führen können. An dieser Stelle setzen die Russen an, sie schüren im Informationsraum Verunsicherung und Angst in den westlichen Staaten.
Beim kürzlich in Litauen verunglückten Frachtflieger herrschten schnell Befürchtungen, dass es sich um Sabotage für Russland – wie bereits zuvor geschehen – gehandelt haben könnte. Nach der Ursache des Absturzes wird noch gesucht.
Irgendwann beginnt eine Eigendynamik im Bereich der Verunsicherung und Angst, die Spekulationen blühen. Das zahlt auf das russische Konto ein, selbst wenn Russland im konkreten Fall des Fliegers in Litauen nichts mit dem Unglück zu tun haben sollte. Ganze Trollarmeen sind in Russland damit beschäftigt, die Unsicherheit im Westen zu erhöhen.
Nun ist Europa der russischen Aggression nicht per se wehrlos ausgeliefert. Was wären die ersten notwendigen Schritte, um Russland Grenzen zu setzen?
Zunächst muss politischer Wille entstehen, dann sollte die europäische Rüstungsindustrie massiv ausgebaut und ihre Produktion entsprechend erhöht werden. Nicht zuletzt wäre der russischen Manipulation im Informationsraum entgegenzutreten. Wie erfolgreich sie wirken kann, sehen wir doch ganz aktuell in Rumänien, wo der prorussische Präsidentschaftskandidat Călin Georgescu gerade die erste Wahlrunde gewonnen hat. Russland will uns fragmentieren, das macht es auch sehr erfolgreich bislang. Und es ist nicht allein. Xi Jinping aus China ist sich mit Putin einig, dass gerade weltpolitische Veränderungen möglich werden, wie es sie seit 100 Jahren nicht gegeben habe.
Der Chef des Bundesnachrichtendienstes warnt vor der zunehmenden Aggressivität und Hochrüstung Russlands, das in der nicht allzu fernen Zukunft den militärischen Konflikt mit der Nato suchen könnte. Sehen Sie Anzeichen dafür?
Russland wird immer weiter aufrüsten, das liegt in der Logik des Regimes begründet, das sich zum Krieg und endgültigen Bruch mit dem Westen entschlossen hat. Es sucht nach Schwachstellen, wenn es welche gefunden hat, werden diese ausgenutzt und erweitert. Je schwächer wir sind, desto größer die Bemühungen. Russland wir den Artikel 5 des Nato-Vertrags, der die Beistandspflicht festlegt, auch möglicherweise unterminieren können. Wir sollen uns vorbereiten: Europa ist Teil der Ersten Welt, die immer noch über die mächtigsten Streitkräfte und die leistungsfähigste Rüstungsindustrie verfügt. Wir schaffen es aber nicht, Russland in die Schranken zu weisen. Das ist das Bestürzende. Hoffentlich wird der Preis nicht zu hoch sein.
Für unser Zögern?
Ja. In der Geschichte finden sich doch ausreichend Beispiele dafür, dass Zögern und Indifferenz Gefahr birgt. Als der Zweite Weltkrieg begann, war den Zeitgenossen nicht gleich bewusst, dass ihnen ein Weltkrieg bevorstand. Als das nationalsozialistische Deutschland 1939 Polen überfiel, war die Betroffenheit nicht einmal sonderlich ausgeprägt. Nach der Niederlage Frankreichs ein Jahr später war sie dann umso größer. Der Erste Weltkrieg zuvor begann mit Scharmützeln zwischen Österreich und Serbien, bald zog dann fast ganz Europa in den Krieg. Wenn ein Prozess einmal begonnen hat, ist nicht absehbar, wo er enden wird. Das macht Geschichte so faszinierend, aber die Entscheidungen der Gegenwart so brisant. Magisches Denken, die Hoffnung, dass schon alles irgendwie gut werden wird, hat uns in die Krise mit Russland geführt. Wir sollten es nun besser machen.
Herr Reisner, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Markus Reisner via Telefon